Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung einer Aussetzungsentscheidung des Landgerichts München I im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal mangels ausreichender Begründung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Grundvoraussetzung jeder Aussetzung gem. § 149 ZPO ist, dass das Klagevorbringen schlüssig und beweiserhebungsbedürftig ist.

2. Die entsprechende vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtlage durch das Erstgericht ist im Beschwerdeverfahren nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen. Die volle Überprüfung der Beurteilung der Sach- und Rechtslage des Erstgerichts bleibt dagegen dem Rechtsmittel gegen die Endentscheidung vorbehalten.

3. Die Begründung des Erstgerichts zu seiner Beurteilung der Sach- und Rechtlage muss diese Vertretbarkeitsprüfung durch das Beschwerdegericht insbesondere in den Fällen, in denen dies zwischen den Parteien umstritten ist und nicht auf der Hand liegt, ermöglichen.

4. Fehlt es an einer hierfür ausreichenden Begründung des Erstgerichts, liegt ein schwerwiegender Verfahrensmangel vor, der regelmäßig zu einer Aufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht führt.

5. Zur allgemeinen Prüfung des Klagevorbringens auf Schlüssigkeit und Beweisbedürftigkeit in Kapitalanlagesachen.

6. Zu den weiteren Aussetzungsvoraussetzungen gem. § 149 ZPO in Kapitalanlagesachen.

 

Normenkette

BGB § 826; ZPO §§ 138-139, 149, 252

 

Verfahrensgang

LG München I (Beschluss vom 01.12.2021; Aktenzeichen 3 O 18014/20)

 

Tenor

1. Auf die sofortigen Beschwerden der Beklagten werden der Aussetzungsbeschluss des Landgerichts München I - Einzelrichter - vom 01.12.2021 und der Nichtabhilfebeschluss vom 28.12.2021 aufgehoben.

2. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf bis zu 8.000.- EUR festgesetzt.

3. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird in dem aus den Gründen ersichtlichen Umfang zugelassen.

 

Gründe

I. Die Beklagten wenden sich mit ihren sofortigen Beschwerden gegen den Aussetzungsbeschluss des Landgerichts München I vom 01.12.2021. Der Kläger hat zwar selbst keine Beschwerde erhoben; er hält die Aussetzung aber ebenfalls für ermessenfehlerhaft; deshalb wird er vom Senat auch nicht formal als "Beschwerdegegner" geführt; "Beschwerdegegner" ist hier letztlich das Landgericht.

Die Klagepartei macht ausweislich der Feststellungen des Landgerichts in dem angefochtenen Beschluss gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus § 824 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 264 a StGB und § 826 BGB im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien geltend. Sie erwarb danach in der Zeit zwischen dem 07.04.2020 und dem 22.05.2020 Aktien der W. AG zum Kaufpreis von 92.660,32 Euro netto und verkaufte diese zwischen dem 28.04.2020 und dem 21.07.2020 zum Verkaufspreis von 53.956,35 EUR netto. Der Beklagte zu 1) war bis Mitte 2020 Vorstandsvorsitzender der W. AG und deren größter Einzelaktionär. Der Beklagte zu 2) war zwischen dem 01.01.2018 und Mitte 2020 Finanzvorstand der W. AG und u.a. für die Themenfelder Compliance und Rechnungswesen zuständig.

Die Staatsanwaltschaft München I führt gegen Vorstandsmitglieder der W. AG ein Ermittlungsverfahren unter dem Az. 402 Js 150939/20. Dem Beklagten zu 1) legt die Staatsanwaltschaft u.a. zur Last, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen der W. AG durch Vortäuschen von Einnahmen aus Geschäften mit Third-Party-Acquirern aufgebläht zu haben, um so regelmäßig Kredite von Banken und sonstigen Investoren zu erhalten, obwohl der Konzern tatsächlich seit 2015 Verluste erwirtschaftete. Gegen den Beklagten zu 2) wird unter demselben Aktenzeichen wegen unrichtiger Darstellung gemäß § 331 HGB ermittelt. Der Beklagte zu 1) befindet sich seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft. Der Beklagte zu 2) war und ist nicht in Untersuchungshaft.

Der Kläger trägt vor, der Beklagte zu 1) sei für die betrügerischen Handlungen bei der W. AG verantwortlich. Der Beklagte zu 2) sei nach dem Geschäftsverteilungsplan für Compliance und Rechnungswesen verantwortlich, wobei eine Beschränkung auf Deutschland nicht bestehe. Der Beklagte zu 2) habe zu verantworten, dass das interne Kontrollsystem gezielt ineffektiv gehalten worden sei. Der Beklagte zu 2) sei auch für die Vorgänge in Asien verantwortlich gewesen. Aus den Untersuchungen des Untersuchungsausschusses des deutschen Bundestags ergebe sich, dass eine alleinige Begehung der Taten durch den ursprünglichen Beklagten zu 3) unwahrscheinlich sei.

Der Beklagte zu 1) trägt dagegen vor, er habe keine Kenntnis von betrügerischen Vorgängen innerhalb der W. AG gehabt. Nach dem Wissen des Beklagten zu 1) seien die Darstellungen der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der W. AG zutreffend gewesen. Die Anschuldigungen der Presse seien aufgeklärt und unzutreffend gewesen.

Der Beklagte zu 2) trägt vor, er habe von den betrügerischen Vorgängen in der W. AG keine Kenntnis gehabt. Für das Asiengeschäft sei ausschließlich der ursprünglich Beklagte zu 3) zuständig gewesen. Er habe trotz der fehlenden Ressortzuständigkeit versucht, sich einen Überblick zu verscha...

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