Leitsatz (amtlich)

1. Die Selbstbestimmungsaufklärung ist Voraussetzung für die wirksame Einwilligung des Patienten in eine Behandlung. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts erfordert nur dann die Unterrichtung über alternative Behandlungsmethoden, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere im Heilungserfolg gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass die Wahl der Behandlungsmethode wesentlich vom Therapieziel abhängig ist.

2. Wendet sich der Patient an den Arzt, hier einen Kieferchirurgen, mit der Bitte ihn über Alternativen zu seiner bestehenden prothetischen Versorgung zu beraten, so hat der Arzt ihn über alle in Frage kommenden Alternativen aufzuklären. Er darf nicht von vorneherein dem Patienten nur die im Erfolgsfall optimale Methode vorstellen, wenn diese mit erheblichen Risiken belastet ist und es dazu eine weniger belastende Alternative gibt (wird konkret ausgeführt).

Es ist nachvollziehbar, wenn der Patient hinsichtlich des potentiellen Entscheidungskonflikts vorträgt, dass er sich nicht sofort für die durchgeführte Operation, welche mit erheblichen Risiken verbunden war, entschieden hätte, wenn man ihm weniger belastende Methoden vorgestellt hätte.

3. Im vorliegenden Fall führte die mangels wirksamer Aufklärung rechtswidrige Behandlung zur Trennung des Kiefers vom Schädel und seiner Brechung, die Gaumenarterien rissen. Es traten erhebliche Wundheilungsstörungen mit weiteren operativen Eingriffen ein. Diese, mit erheblichen Schmerzen und Beeinträchtigungen verbunden, zogen sich zumindest ein Jahr lang hin. Die Patientin sah sich in einer verschlechterten prothetischen Situation und ihr Aussehen hatte sich nachteilig verändert. Dies rechtfertigt ein Schmerzensgeld von 25.000 Euro.

 

Verfahrensgang

LG Dessau-Roßlau (Urteil vom 20.07.2012; Aktenzeichen 4 O 956/08)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 20.7.2012 verkündete Urteil des LG Dessau-Roßlau teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten zu 1. und 3. werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 27.032 EUR nebst Zinsen für das Jahr i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.4.2008 zu zahlen.

Die Beklagten zu 1. und 3. haben der Klägerin als Gesamtschuldner alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus der rechtswidrigen kieferchirurgischen Behandlung des Zeitraums 13.7.2005 bis 17.1.2006 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin erster Instanz tragen die Klägerin und die Beklagten zu 1. und 3. als Gesamtschuldner je die Hälfte. Die außergerichtlichen Kosten erster Instanz der Beklagten zu 2. sowie 3/10 der außergerichtlichen Kosten erster Instanz der Beklagten zu 1. und 3. werden der Klägerin auferlegt. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung erster Instanz nicht statt. Von den Kosten der Berufung tragen die Klägerin 3/10 und die Beklagten zu 1. und 3. als Gesamtschuldner 7/10.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten zu 1. und 3. dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 v.H. des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 v.H. des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 120 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

und beschlossen:

Der Streitwert des Berufungsrechtszuges und - insoweit unter Abänderung der Festsetzung im angefochtenen Urteil - erster Instanz wird auf 50.498,72 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Beklagten betreiben in D. eine kieferchirurgische Gemeinschaftspraxis. Die Klägerin nimmt sie als Gesamtschuldner wegen einer mangels Aufklärung rechtswidrigen und zumindest fehlerhaften Behandlung ihres zahnlosen Oberkiefers auf Schadensersatz in Anspruch.

Die damals 64 Jahre alte, unter Diabetes II leidende und im Mundbereich voroperierte Klägerin begab sich am 19.4.2005 erstmals in die Praxis der Beklagten. Ihr seit mehr als 30 Jahren zahnloser Oberkiefer war mit einer Prothese versorgt, die zunehmend Probleme bereitete, weil sie nicht mehr richtig hielt. Ursache war der Schwund des Oberkiefers (Atrophie). Hinzu kam eine pseudo prognathie des Unterkiefers (umgekehrter Überbiss bzw. Rücklage des Oberkiefers). Die Klägerin war auf der Suche nach einer Alternative und wurde von ihrem behandelnden Zahnarzt, dem Zeugen Dr. F., an die Beklagten verwiesen. Im Überweisungsschein des Zahnarztes heißt es zum Auftrag: "Erbitte Beratung...

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