Leitsatz (amtlich)
1. Statt der Haftungsgrundlagen des privaten medizinischen Behandlungsvertrages und des allgemeinen Deliktsrechts gelten ausschließlich die Grundsätze der Amtshaftung, wenn sich die Behandlung als Zwangsbehandlung darstellt, z.B. bei Einweisung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder.
2. Die Bewahrung eines Patienten vor Selbstschädigungen gehört zum psychiatrischen Facharztstandard. Der Sicherungspflicht sind aber Grenzen gesetzt durch die Menschenwürde und Freiheitsrechte des Patienten und das Übermaßverbot bei Zwangsmaßnahmen. Zu berücksichtigten ist auch die Zumutbarkeit für den Behandelnden.
3. Die Verwertung eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren nach § 411a ZPO ist nicht vom Einverständnis der Prozessparteien abhängig. Bei der Ausübung des diesbezüglichen Ermessens des Gerichts ist maßgeblich, ob die Einholung eines neuen Gutachtens bessere Erkenntnisse über die Beweisfragen verspricht oder nicht.
Verfahrensgang
LG Magdeburg (Urteil vom 17.06.2009; Aktenzeichen 9 O 1041/08) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 17.6.2009 verkündete Teilurteil des LG Magdeburg, 9 O 1041/08, wird, soweit sie auch gegen die Beklagte zu 1) eingelegt worden ist, verworfen und im Übrigen zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagten Sicherheit in gleicher Höhe geleistet haben.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer des Klägers übersteigt 20.000 EUR.
und beschlossen:
Der Kostenwert des Berufungsverfahrens wird auf 57.079,96 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der Kläger begehrt von den vier Beklagten als Gesamtschuldner Schadenersatz wegen unzureichender Vorkehrungen gegen seinen Sprung aus dem Fenster des Patientenzimmers am 11.11.2006 im Zusammenhang mit seiner medizinischen Behandlung in einer geschlossenen psychiatrischen Station des Städtischen Klinikums M.. Die Beklagte zu 1) ist Trägerin dieses Klinikums, die Beklagte zu 2) war zzt. des Vorfalls Stationsärztin, der Beklagte zu 3) Krankenpfleger und die Beklagte zu 4) Krankenschwester - alle drei jeweils mit Kontakt zum Kläger zum Vorfallszeitpunkt.
Der Kläger wurde am 9.10.2006 mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme des Krankenhauses der Beklagten eingeliefert. Bei ihm wurde eine paranoide Schizophrenie und - bedingt durch einen von ihm verursachten Verkehrsunfall - eine Prellung des Brustkorbes festgestellt. Der Kläger war in der Klinik für Psychiatrie der Beklagten bereits bekannt; er war bereits im Juni 2006 für sechs Wochen auf richterliche Anordnung nach dem PsychKG LSA dort untergebracht und anschließend ambulant psychiatrisch weiter behandelt worden. Am 25.10.2009 stellte die Klinik einen Antrag auf Anordnung der Unterbringung nach PsychKG wegen akuter Fremdaggressivität und nicht ausschließbarer Eigengefährdung und empfahl die Einrichtung einer Betreuung (vgl. Anlage K 1, GA Bd. I Bl. 16-18). Diesen Anträgen entsprach das AG Magdeburg (Anlagen K 2 - vorläufige Unterbringung - GA Bd. I Bl. 19 ff.; und K 3 - vorläufige Betreuung - GA Bd. I Bl. 22 f.).
Am 11.11.2006 gegen 18:25 Uhr versuchte der Kläger, die Station unerlaubt zu verlassen, wurde dabei aber entdeckt. Bei seiner Rückführung in die Station bemerkte der Beklagte zu 3) die erhebliche Verschlechterung seines psychopathologischen Zustandes, insb. äußerte der Kläger starke psychotische Angstgefühle. Er informierte die Beklagte zu 2), die eine Injektion eines neuroleptischen Medikaments vorbereitete. Das Bett des Klägers wurde auf den Flur geschoben, wobei zwischen den Parteien des Rechtsstreits streitig ist, ob es sich danach - wie von den Beklagten behauptet - neben dem Dienstzimmer der Beklagten zu 2) oder am anderen Ende des Flurs befand. Der Kläger entfernte sich gegen 18:45 Uhr unter dem Vorwand, die Toilette aufsuchen zu wollen, ging aber in sein Patientenzimmer, öffnete unter Beschädigung des Fensterrahmens gewaltsam ein Fenster und kletterte auf den Fenstersims. Dies wurde bemerkt; der Beklagte zu 3) versuchte den Kläger verbal zu einer Rückkehr in das Zimmer zu bewegen. Seine Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Zugleich waren Polizei und Feuerwehr informiert worden, um eine Sicherung am Erdboden vorzubereiten. Unvermittelt sprang der Kläger aus dem 4. Stock in die Tiefe. Es ist umstritten, ob der Sprung in suizidaler Absicht erfolgte oder aufgrund von Ängsten und der Wahrnehmung imparativer innerer Stimmen. Dabei zog der Kläger sich ein Polytrauma mit Frakturen an allen Extremitäten und an drei Lendenwirbelkörpern sowie ein traumatisches Hirnödem bei diffuser Hirnkontusion zu.
Der Kläger hat seine Klageforderung auf die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten im Zusammenhang mit den baulichen Voraussetzungen (Verschließbarkeit der Fenster) gestützt - insoweit ist die Sache gegen die Beklagte z...