Leitsatz (amtlich)

1. Das Pflichtversicherungsrecht geht davon aus, dass regelmäßig zuerst das Bestehen eines Haftpflichtanspruchs nach Grund und Höhe im Verhältnis zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten festgestellt wird und erst danach der Pflichtversicherer des Schädigers auf Deckung in Anspruch genommen wird.

2. Für einen vorweggenommenen Deckungsprozess des Geschädigten gegen den Pflichtversicherer des Schädigers fehlt es regelmäßig an einem rechtlichen Interesse; etwas anderes kann allenfalls bei der Gefahr des Verlustes des Deckungsanspruchs (vgl. BGH, Urt. v. 15.11.2000 - IV ZR 223/99) bzw. bei einer dem Verlust gleichstehenden Ungewissheit (in Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 22.7.2009 - IV ZR 265/06) gelten.

 

Verfahrensgang

LG Halle (Saale) (Urteil vom 14.12.2012; Aktenzeichen 5 O 168/12)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 14.12.2012 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des LG Halle abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

 

Gründe

A. Die Klägerin beabsichtigt, die auf sie als Unfallversicherer übergegangenen Schadenersatzansprüche ihres Versicherungsnehmers U. S. gegen S. H. wegen einer am 23.1.2011 eingetretenen Gesundheitsbeschädigung geltend zu machen. Die Beklagte ist der Privathaftpflichtversicherer des S. H.. Die Klägerin begehrt von ihr in einem vorweggenommenen Deckungsprozess die Feststellung der Freistellungsverpflichtung der Beklagten in Höhe ihrer behaupteten Aufwendungen.

Der Versicherungsnehmer der Beklagten verbrachte den 23.1.2011, einen Sonntag, gemeinsam mit seiner von ihm getrennt bei seiner ehemaligen Lebensgefährtin wohnenden minderjährigen Tochter. Nachdem diese um ca. 17:30 Uhr abgeholt worden war, begann er nach eigenen Angaben, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Ab 19:00 Uhr wandte er sich mehrfach - offenkundig erregt und verzweifelt - an seine Nachbarin A. Hf., um sie dazu zu bewegen, zwischen ihm und seiner ehemaligen Lebensgefährtin zu vermitteln und eine Rückkehr seiner Tochter zu ihm zu ermöglichen. Gegen 20:45 Uhr kündigte er in einem weiteren Telefonat ihr gegenüber an, sich selbst zu töten. Die Nachbarin informierte hierüber die Eltern des S. H.. Gegen 21:25 Uhr rief H. erneut bei seiner Nachbarin an und erklärte, dass in fünfzehn Minuten das Haus brennen werde, und bat sie, seinen Nachbarn U. S. und dessen Familie zu warnen, damit sie rechtzeitig das Haus verlassen könnten. U. S. befand sich zu diesem Zeitpunkt bei A. Hf. und deren Lebensgefährten D. K.. Alle drei begaben sich zum Haus des S. H., wo sie auch dessen Eltern vorfanden. S. H. näherte sich ihnen in aggressiver Haltung. Sie versuchten, ihn festzuhalten, was jedoch misslang. S. H. riss sich los und rannte in sein Haus. D. K. und U. S. verfolgten ihn, wobei sie im Treppenhaus einen Benzinkanister und am Treppengeländer ein Seil mit Schlinge wahrnahmen. Nachdem sie ihn eingeholt hatten, wandte sich H. zunächst dem K. zu und würgte ihn. Dabei äußerte er sinngemäß, dass er sein Gegenüber abstechen werde. Sodann rannte H. in die Küche und öffnete eine Schublade mit Besteck. U. S. folgte ihm und versuchte, den H. zu Fall zu bringen; dabei stürzten beide zu Boden. Infolge des Sturzes verletzte sich U. S. am rechten Knie. Bei dem kurz darauf erfolgenden Eintreffen der von A. Hf. gerufenen Polizei wurde eine starke Erregung des H. sowie eine Blutalkoholkonzentration von 1,96g - festgestellt. Er wurde vorübergehend in die geschlossene psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingewiesen.

In einem darauffolgenden Strafverfahren wurde gegen S. H. wegen Bedrohung des D. K. ein Strafbefehl über eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen erlassen (vgl. Strafbefehl des AG Eisleben vom 9.5.2011, 11 Cs 425 Js 9605/11, rechtskräftig seit dem 18.6.2011). Der Senat hat die Akte beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Das Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil des U. S. wurde nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt (vgl. "Teileinstellung" Bl. 49 BeiA).

Die Klägerin erbrachte im Rahmen der Unfallversicherung Zahlungen an die Erbringer medizinischer Leistungen für ihren Versicherungsnehmer U. S.. Sie forderte die Beklagte zur Regressleistung auf. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 23.9.2011, mit dem sie die geltend gemachten Ansprüche gegen ihren Versicherungsnehmer wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 827 Abs. 1 BGB - Deliktsunfähigkeit - zurückwies. Unter Verweis auf die vorübergehende Unterbringung des H. in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses führte die Beklagte weiter aus:

"... Zwar begründet dieser Umstand bzw. die Selbsttötungsabsicht no...

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