Leitsatz (amtlich)
Die Nichtverlegung einer Schwangeren in ein Zentrum der Maximalversorgung (Perinatalzentrum) kann grob fehlerhaft sein, wenn mit der Geburt eines Kindes vor der 28. Schwangerschaftswoche und/oder mit einem Geburtsgewicht von unter 1.000g gerechnet werden muss.
Verfahrensgang
LG Aurich (Urteil vom 21.03.2007; Aktenzeichen 5 O 472/00) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des LG Aurich vom 21.3.2007 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor des landgerichtlichen Urteils in Bezug auf den Ausspruch zum Feststellungsantrag wird folgt neu gefasst wird:
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1.) und 2.) verpflichtet sind, dem Kläger allen zukünftigen materiellen Schaden zu ersetzen, der auf die fehlerhafte Behandlung im Kreiskrankenhaus A. in der Zeit vom 17.3.-8.4.1997 zurückzuführen ist, soweit nicht Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Die Kosten der Berufung werden den Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
A. Die Mutter des Klägers wurde wegen vorzeitiger Wehentätigkeit am 17.3.1997 in der 24. Schwangerschaftswoche (SSW) im Kreiskrankenhaus A. stationär aufgenommen, dessen Träger der Beklagte zu 1.) ist. Der Beklagte zu 2.) ist Chefarzt der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung. Da die Kindesmutter bereits in der Vergangenheit eine Neigung zu frühzeitiger Wehentätigkeit gezeigt sowie eine Verletzung der Cervix erlitten hatte und es zudem wegen einer vermutlich hochinfektiösen Erkrankung zu einem Abort gekommen war, hatte der Beklagte zu 2.) im Dezember 1996 unter Verwendung eines Cerclagefadens einen vollständigen Muttermundsverschluss durchgeführt. Die behandelnden Ärzte des Beklagten zu 1.) verordneten der Kindesmutter Bettruhe und ordneten eine Tokolyse an, wozu das Medikament Partusisten, kombiniert mit Magnesium, eingesetzt wurde. In der 25. SSW fand eine Lungenreifeinduktion mit Celestan statt. Wiederholt wurden Cervixabstriche auf Keime kontrolliert und Ultraschalluntersuchungen vorgenommen. Dabei ergab sich am 2.4.1997 ein zeitgerechtes Wachstum des Kindes, das Geburtsgewicht wurde mit 1.000g geschätzt. Am 8.4.1997 stellten sich bei der Kindesmutter starke Bauchschmerzen ein. Um 12.50 Uhr verspürte die Kindesmutter drei schmerzhafte Wehen. Die Hebamme verständigte den vormaligen Beklagten zu 3.), der gegen 13 Uhr eine vaginale Untersuchung vornahm. Dabei stellte er fest, dass der Cerclagefaden angerissen und der Muttermund vollständig eröffnet ist. Der vormalige Beklagte zu 3.) hielt eine sofortige Sectio caesarea für geboten, die sogleich eingeleitet wurde. Der Kläger wurde um 13.26 Uhr entbunden. Die Apgar-Werte wurden mit 1/3/5 niedergelegt; der Kläger musste intubiert werden. Anschließend wurde er in der Kinderklinik des Kreiskrankenhauses A. versorgt. Nachdem Anzeichen für ein sich entwickelndes schweres Atemnotsyndrom aufgetreten waren, entschlossen sich die Kinderärzte, den Kläger nach O. in die Städtischen Kliniken (E.-Kinderkrankenhaus) zu verlegen. Dort wird im Aufnahmebefund ein stabiles Frühgeborenes der 26. SSW beschrieben. Während der anschließenden Behandlung, die bis zum 23.7.1997 andauerte, diagnostizierten die behandelnden Ärzte eine "peripartale Asphyxie, Atemnotsyndrom IV. Grades, Zustand nach Pneumothorax rechts, intraventrikuläre Blutung III. Grades und Mediainfarktblutung links, intraventrikuläre Blutung II. Grades rechts, Zustand nach Herniotomie links am 16.7.1997, Anämie (3 × transfundiert) sowie Rotavirusenteritis." Der Kläger leidet an einem Hirnschaden, der mit einer ausgeprägten psychomotorischen Entwicklungsretardierung verbunden ist.
Mit der Klage hat der Kläger von den Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes - Größenordnung 150.000 DM - verlangt und begehrt, festzustellen, dass die Beklagten zu 1.) bis 3.) verpflichtet sind, ihm allen zukünftigen materiellen Schaden zu ersetzen, der auf die fehlerhafte Geburtsleitung in der Zeit vom 17.3.-8.4.1997 zurückzuführen ist, soweit nicht Ansprüche auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen. Der Kläger hat den Beklagten vorgeworfen, diese hätten es versäumt, seiner Mutter strikte Bettruhe und eine Hochlagerung des Beckens zu verordnen. Sie hätten zugelassen, dass diese die Toilette aufsuchte und duschen ging. Darüber hinaus sei der Entschluss zur Kaiserschnittentbindung am 8.4.1997 zu spät gefasst worden. Seine Mutter habe nämlich bereits am Morgen und nicht erst gegen Mittag über starke Bauchschmerzen geklagt. Zudem habe die CTG-Aufzeichnung gegen 11.35 Uhr eine rege Wehentätigkeit gezeigt. Abgesehen davon sei die Verlegung der Kindesmutter in die...