Leitsatz (amtlich)
1. In den Jahren 2005 und 2006 abgeschlossene Lebensversicherung sind im Policenmodell zustande gekommen, wenn in den Verbraucherinformationen ein Hinweis auf die Antragsbindungsfrist fehlt; das Informationsbedürfnis des Versicherungsnehmers ist abstrakt und nicht in Abhängigkeit davon zu beurteilen, welcher Zeitraum zwischen Antragstellung und Vertragsschluss liegt.
2. Ein Versicherer darf im Falle der Ausübung eines Vertragslösungsrechtes durch den Versicherungsnehmer keinen Rechtsmissbrauch annehmen, wenn eine der vorgesehenen zwingenden Verbraucherinformationen weder in dem betreffenden Vertrag enthalten noch nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist, unabhängig davon, ob der Versicherungsnehmer von seinem Lösungsrecht Kenntnis hatte (Anschluss an EuGH, Urteil vom 9. September 2021 - C-33/20, C-155/20 und C-187/20, - zitiert nach juris -, Rn. 122 ff., zu Verbraucherkreditverträgen).
3. Interner Aufwand eines Versicherers im Zusammenhang mit der Einrichtung eines neuen Versicherungsverhältnisses ist im Gegensatz etwa zu an Dritte geleisteten Vermittlungsprovisionen Gegenstand eines dem Versicherungsnehmer zustehenden Nutzungsersatzes, auch wenn er begrifflich ebenfalls den Abschlusskosten zuzurechnen ist.
4. Dem Zinseszinsverbot aus §§ 248 Abs. 1, 289 Satz 1 BGB ist auch im Rahmen der Nutzungsberechnung gemäß § 818 Abs. 1 BGB Rechnung zu tragen.
Normenkette
BGB § 147 Abs. 2, §§ 242, 248 Abs. 1, § 289 S. 1, § 818 Abs. 1; VAG § 10a Abs. 1 S. 1; VVG § 5a Abs. 2 S. 4
Verfahrensgang
LG Schwerin (Urteil vom 19.05.2021; Aktenzeichen 1 O 381/19) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichtes Schwerin vom 19.05.2021 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 11.834,62 EUR zuzüglich Jahreszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 25.07.2018 sowie aus 36.127,11 EUR für die Zeit vom 25.02.2016 bis zum 24.07.2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen.
IV. Dieses Urteil und - im Umfang seiner Aufrechterhaltung - das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des jeweiligen Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei zuvor Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
V. Die Revision wird zugelassen.
VI. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf bis zu 13.000,00 EUR festgesetzt.-
Gründe
I. Die Parteien streiten über die Rückabwicklung mehrerer Verträge über fondsgebundene Rentenversicherungen.
Bei der Beklagten handelt es sich um ein (...) Versicherungsunternehmen; der Kläger schloss in diesem Zusammenhang drei Verträge mit der Beklagten über fondsgebundene Rentenversicherungen ab.
1. Vertrag Nr. X
Der Kläger beantragte den Abschluss einer Versicherung "(...)" am 25.11.2005. Auf der Vorderseite des Antragsformulars im Format DIN A 4 finden sich mit 1) bis 13) bezifferte und häufig mit Leerfeldern zum Ausfüllen versehene Rubriken in jeweils eingerahmten Kästen, wobei die betreffenden Überschriften fett gedruckt und in einem geringfügig größeren Schrifttyp gehalten sind als die restlichen Textbestandteile. Unter Ziffer 13) mit der Überschrift: "Unterschriften" sind die folgenden, von dem Antragsteller und gegebenenfalls zu versichernden Personen jeweils gesondert zu unterzeichnenden Absätze angebracht:
"(...)
Mit meiner Unterschrift bestätige ich die Richtigkeit obiger Angaben und dass ich die auf den Folgeseiten stehende Schlusserklärung des Antragstellers und der zu versichernden Personen sowie die Verbraucherinformation gelesen habe. Ich bin damit einverstanden, dass diese Schlusserklärungen und die Verbraucherinformationen Bestandteil dieses Antrages sind.
(...)
Mir ist bekannt, dass ich innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Zustellung der Versicherungspolice zurücktreten kann. Die Frist beginnt erst zu laufen, wenn ich den Versicherungsschein erhalten habe.
(...)"
Weiterhin existieren zwölfseitige "Vertragsunterlagen" der Beklagten, die neben einer Gebührentabelle auf der letzten Seite ebenfalls im Format DIN A 4 in zwei Spalten ganzseitig und eng mit Text in einheitlich kleinem Schrifttyp bedruckt sind; die Zwischenüberschriften erscheinen in Fettdruck und sind farbig unterlegt, während die ebenfalls fett gedruckten Kapitelüberschriften einzelner Abschnitte wie "Verbraucherinformationen zur Fondsgebundenen Lebensversicherung", "Allgemeine Angaben über die Steuerregelung in der Bundesrepublik Deutschland", "Illustrative Angaben über die Kostenbelastung des Versicherungsvertrages" oder "Fondsinformationen" ohne farbige Unterlegung einen größeren Schrifttyp aufweisen. Auf der zweiten Seite der "Vertragsunterlagen" finden sich in der link...