Verfahrensgang
LG Stuttgart (Urteil vom 29.09.2020; Aktenzeichen 10 O 61/20) |
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 29. September 2020, Az. 10 O 61/20, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das unter 1. genannte Urteil des Landgerichts Stuttgart ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis 65.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Parteien streiten über Ansprüche wegen eines etwaigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung in ein Dieselfahrzeug.
Der Kläger erwarb am 10. November 2016 für 63.766,57 EUR von der Beklagten ein von dieser hergestelltes Fahrzeug XY, in dem ein Dieselmotor des Typs "OM 642", Schadstoffklasse Euro 6, eingebaut war; der Kilometerstand betrug 0 km. Am 18. August 2020, dem Tag der letzten mündlichen Verhandlung erster Instanz, betrug der Kilometerstand 29.509 km.
Zur Verringerung der Stickoxidemissionen wird in dem Fahrzeug ein System zur Abgasrückführung eingesetzt. Dabei wird ein Teil des Abgases zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt und nimmt erneut an der Verbrennung teil. Die Abgasrückführung wird unter anderem in Abhängigkeit von der Außentemperatur gesteuert (sogenanntes "Thermofenster").
Zur Verringerung der Stickoxidemissionen wird - in der Berufung unstreitig - in dem Fahrzeug zudem ein SCR-System ("selective catalytic reduction") zur Abgasnachbehandlung eingesetzt. Dieses besteht aus einem SCR-Katalysator und einer Vorrichtung zur Einspritzung einer Harnstofflösung (AdBlue). Die dem Abgas beigemischte Harnstofflösung wird bei hinreichend hohen Temperaturen im Abgassystem in Ammoniak umgewandelt, der mit Stickoxiden im Wesentlichen zu Stickstoff und Wasser reagiert, was unter bestimmten physikalischen Bedingungen die weitgehende Umwandlung von Stickoxid-Rohemissionen in ungefährliche Stoffe ermöglicht.
Das Fahrzeug war von einem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt betroffen. Allerdings nahm - im Berufungsverfahren unstreitig - das Kraftfahrt-Bundesamt den Rückruf für unter anderem dieses Fahrzeug zurück.
Der Kläger trug in erster Instanz vor, des Weiteren führe eine temperaturabhängige Abschalteinrichtung dazu, dass die Zuführung von AdBlue im Vergleich zu den Prüfstandsbedingungen bei Temperaturen unter 20° C verringert und schließlich ganz ausgesetzt werde, was ebenfalls zur Folge habe, dass die Stickoxidemissionen erheblich anstiegen. Aus dem Vortrag der Beklagten selbst in Parallelverfahren ergebe sich, dass das Fahrzeug in einen anderen Modus ("online") schalte, nachdem eine bestimmte Stickoxidmenge nach Motorstart gemessen worden sei, und danach die Zuführung von AdBlue verringert werde. Ferner würden das Abgasrückführungssystem und die Harnstoffeinspritzung ab einer bestimmten Drehzahl reduziert oder gar in Gänze abgeschaltet, wodurch es bei höheren Drehzahlen, insbesondere wenn mit geringer Last gefahren werde, zu einem erheblichen Anstieg der Stickoxidemissionen komme. Die Beklagte habe dem Kraftfahrt-Bundesamt im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens die Einzelheiten der Abschalteinrichtungen nicht offengelegt, was sich hinsichtlich des SCR-Systems bereits aus dem Rückruf ergebe.
Der Kläger hat in erster Instanz beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 56.321,19 EUR sowie Zinsen in Höhe von 7.255,22 EUR nebst weiterer Zinsen in Höhe von 4 % pro Jahr aus 63.766,57 EUR seit dem 1. Januar 2020 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs XY mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ....
2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1. genannten Fahrzeugs zwei Wochen nach Rechtshängigkeit in Annahmeverzug befindet.
Die Beklagte hat in erster Instanz beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptete in erster Instanz, es könne nicht stets eine gleichbleibende Menge AdBlue beigemischt werden, da sich im Betrieb des Fahrzeugs das Stickoxidaufkommen ständig ändere und es bei einer Überdosierung von AdBlue zu unerwünschten Emissionen von Ammoniak kommen könne. Die Motordrehzahl sei nur eines von vielen Kriterien; dass die Abgasrückführung bei geringer Last allein aufgrund zu hoher Drehzahlen abgeschaltet werde, sei praktisch nicht zu erwarten.
Die Beklagte war in erster Instanz der Ansicht, das "Thermofenster" sei keine unzulässige Abschalteinrichtung. Im Übrigen sei sie einer zumindest vertretbaren Rechtsauffassung gefolgt, weshalb kein sittenwidriges Verhalten vorliege; sie habe davon ausgehen dürfen, dass die temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung schon keine Abschalteinrichtung d...