OLG Karlsruhe wendet erstmals neue BGH-Diesel-Rechtsprechung an
In zwei von vier Fällen hat das OLG die verklagte PKW-Herstellerin zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt, in einem Fall wurde die Schadensersatzklage abgewiesen, in einem weiteren Fall eine Beweisaufnahme angeordnet.
Schadenersatz schon bei fahrlässiger Verwendung einer Abschaltvorrichtung
In seinen Entscheidungen hat das OLG unter Umsetzung der neuen BGH-Rechtsprechung die bloß fahrlässige Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung als für die Schadensersatzhaftung des Autoherstellers ausreichend angesehen. Im Frühjahr dieses Jahres hatte der BGH geurteilt,
- dass im Fall eines fahrlässigen Herstellerverhaltens dieser zum sogenannten kleinen Schadenersatz verpflichtet sei.
- Dieser bestehe in dem merkantilen Minderwert der erhaltenen Kaufsache, also dem infolge des enttäuschten Vertrauens auf eine zulässige Abgasreinigung eingetretenen Minderwertes,
- der in diesen Fällen regelmäßig zwischen 5 und 15 % des Kaufpreises liege und
- der Schätzung des Tatrichters unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Falls unterliege (BGH, Urteile v. 26.6.2023, VIa ZR 335/21; VIa ZR 533/21; VIa ZR 1031/22).
Rechtsprechungsänderung nach Leitentscheidung des EuGH
Mit seinen Urteilen setzte der BGH eine Entscheidung des EuGH um, in welcher dieser die zuvor sehr restriktive Diesel-Rechtsprechung des BGH (Schadenersatz nur bei vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung) vorsichtig korrigiert hat. Der EuGH entschied, dass die EU-Verordnung 715/2007 in Verbindung mit der EU-Richtlinie 2007/46 (Rahmenrichtlinie zur Genehmigung von Kraftfahrzeugen) nicht nur abstrakt dem Schutz der Allgemeinheit dient, sondern ein subjektives Recht jedes einzelnen Fahrzeugkäufers auf eine rechtskonforme Konstruktion und Fertigung des von ihm erworbenen Kraftfahrzeuges begründet (EuGH, Urteil v. 21.3.2023, C-100/21).
Herstellerhaftung schon bei einfacher Fahrlässigkeit
Damit war der Weg frei für die Bewertung der EU-Regeln zur Fahrzeugtypenzulassung als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB. Hiernach haftet der Fahrzeughersteller beim Einbau einer unzulässigen Abschaltvorrichtung für die Abgasrückführung gemäß § 823 Abs. 2 BGB. Die Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung der Verletzung eines Schutzgesetzes setzt - wie auch im übrigen die deliktische Haftung - einfaches Verschulden, das heißt mindestens fahrlässiges Verhalten des Schädigers voraus.
Beweislast für Zulässigkeit der Abschaltvorrichtung beim Hersteller
Die Tatsache des Vorhandenseins einer unzulässigen Abschalteinrichtung hat nach der Entscheidung des BGH der Käufer im Prozess darzulegen und zu beweisen. Ausnahmsweise kann nach der Rechtsprechung des EuGH eine Abschalteinrichtung aber zulässig sein, wenn diese unabdingbar ist, um unmittelbare Schäden am Motor zu vermeiden (EuGH, Urteil v. 17.12.2020, C 693/18). Diese Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung als Ausnahme von der Regel hat der Fahrzeughersteller darzulegen und zu beweisen.
Thermofenster regeln Abgasrückführung partiell herunter
Das OLG Karlsruhe hat nun in seinen Entscheidungen die fahrlässige Verwendung eines Thermofensters für die Gewährung von Schadenersatz ausreichen lassen. Gegenstand sämtlicher Entscheidungen waren Fahrzeuge mit 3,0 l Dieselmotoren der Schadstoffklasse EU 5, die mit einem Thermofenster ausgestattet sind. Diese Thermofenster erlauben nur bei Außentemperaturen zwischen ca. 17 und 34° die von der EU vorgeschriebene Reduzierung der Stickoxide mithilfe einer Abgasrückführung. Außerhalb dieses Temperaturfensters wird die Abgasrückführung so abgesenkt, dass die erlaubten Grenzwerte für Stickoxide überschritten werden.
Zwei Auswege der Hersteller bleiben
Der BGH hatte in seiner Leitentscheidung entsprechend den Vorgaben des EuGH eine zweifache Hintertür für den Autohersteller offen gelassen:
- Zum einen hat der Hersteller die Möglichkeit, Ansprüche auf Schadenersatz durch den Nachweis abzuwenden, dass die eingebaute Abschaltvorrichtung unabdingbar ist, um unmittelbare Schäden am Motor vermeiden (EuGH, Urteil v. 17.12.2020, C-693/18).
- Daneben bleibt dem Hersteller die Option, die Vermutung fahrlässigen Verhaltens zu widerlegen, zum Beispiel mit dem Argument, dass er sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden habe.
Kilometerleistung hat starken Einfluss auf die Schadenshöhe
Beide Nachweise sind den beklagten Herstellern in den vom OLG Karlsruhe entschiedenen Verfahren nicht gelungen. Damit waren zumindest in 2 Verfahren die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Schadenersatz gegeben. Den merkantilen Minderwert schätzte das OLG in beiden Fällen auf 10 % des Kaufpreises. Dies führte in einem Fall zur Verurteilung zur Zahlung eines merkantilen Minderwertes des gekauften Fahrzeuges in Höhe von 5.865 Euro, im zweiten Fall zur Zahlung von lediglich 803,94 Euro. Der niedrigere Schadensersatzbetrag beruht auf den nach der Leitentscheidung des BGH anzurechnenden Nutzungsvorteilen. Wegen der sehr hohen Kilometerleistung fiel der Anrechnungsbetrag in einem Fall besonders hoch aus.
3. Fall: Klageabweisung wegen mangelnder Schadensdarlegung
Im dritten Fall hat das OLG die Klage abgewiesen, weil der Kläger sich geweigert hatte, den - vermutlich hohen - Kilometerstand des gekauften Fahrzeugs mitzuteilen. Damit war er seiner Pflicht zur Darlegung des ihm entstandenen Schadens nicht nachgekommen.
4. Fall: Besondere Art von Thermofenster
Im vierten Verfahren hat der Senat die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeordnet. Der Sachverhalt zeigte hier insoweit eine Abweichung von den üblichen Fällen, als der Kläger behauptete, im Motor seines Fahrzeugs befinde sich eine prüfstandbezogene Abschalteinrichtung in Form einer Lenkwinkelerkennung. Werde das Lenkrad um mehr als 15° in die eine oder die andere Richtung bewegt, erhöhe sich der Stickoxidausstoß exorbitant. Bei einem Einschlag des Lenkrades von unter 15° gehe die Software von der Möglichkeit einer laufenden Abgasprüfung aus und regle die Stickoxidemissionen in den zulässigen Bereich herunter.
Beweiserhebung über Lenkwinkelerkennung angeordnet
Die Richtigkeit dieser ungewöhnlichen Behauptung will der Senat von einem Sachverständigen überprüfen lassen und hat insoweit in Aussicht gestellt, dass für den Fall der Richtigkeit der Behauptung eine Haftung der Herstellerin in Betracht komme, die über die übliche Haftung für unzulässige Thermofenster hinausgehen könne.
(OLG Karlsruhe, Urteile v. 22.8.2023, 8 U 86/21; 8 U 271/21; 8 U 236/21; 8 U 325/21)
Hintergrund:
Die Diesel-Klagewelle bei deutschen Gerichten ist noch nicht abgeebbt. Derzeit sind allein beim BGH noch ca. knapp 2.000 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden wegen unzulässiger Abschaltvorrichtungen und Thermofenster anhängig. Insgesamt wird die Zahl der vor deutschen Gerichten anhängigen Verfahren noch auf knapp.
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