Entscheidungsstichwort (Thema)

"Dieselabgasskandal" - Keine Haftung des Fahrzeugherstellers bei Inverkehrbringen eines VW Tiguan mit Motor EA 288

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine deliktische Haftung gemäß § 826 BGB aufgrund der Verwendung einer Abschaltsoftware bei der Abgasbehandlung eines PKW setzt auch im Falle einer unzulässigen Abschalteinrichtung voraus, dass auf diese Weise grundlegende normative Maßstäbe und Wertvorstellungen der Rechtsordnung verletzt werden. Allein die Enttäuschung "berechtigter Erwartungen" eines Erwerbers reicht nicht.

2. Fehlerhafte Angaben eines Herstellers über das Abgasverhalten eines Fahrzeugs im Typengenehmigungsverfahren gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt begründen bei Verwendung eines "Thermofensters" nicht generell und nicht schon allein deshalb "besondere Umstände" Im Rahmen des Sittenwidrigkeitsurteils (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19-), weil der Hersteller seinem Gewinnstreben den Vorrang gegenüber weitergehender Schadstoffreduzierung eingeräumt haben könnte. Notwendig wären wenigstens gravierend unzureichende, fehlerhafte oder unterlassene Angaben (entgegen Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 19. Februar 2021 - 1 U 91/20-, SchlHA 2021, 188 ff.).

3. Angesichts der innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren wiederholten Überprüfung von Fahrzeugen mit dem Motortyp EA 288 des VW-Konzerns durch das Kraftfahrbundesamt sind vor einer denkbaren Beweisaufnahme weitere Ausführungen einer Klagepartei dazu erforderlich, warum sie jetzt noch befürchtet, von Nachteilen wie der Stilllegung des Fahrzeugs, einem Fahrverbot oder wirtschaftlichen Nachteilen betroffen zu sein.

 

Normenkette

BGB § 826

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 12. Februar 2021, Az. 10 O 324/20, wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses und das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des jeweils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt von der Beklagten im Wege des Schadensersatzes die Rückabwicklung eines Kfz-Kaufvertrages aus Anlass des sog. Abgasskandals.

Mit Kaufvertrag vom 25. November 2015 erwarb die Klägerin einen von der Beklagten hergestellten Neuwagen des Modells Tiguan zum Kaufpreis von 35.000,00 EUR. Das Fahrzeug war mit dem Motortyp EA 288 ausgestattet und sollte der Euro-Norm 6 entsprechen, welcher - anders als der von der Beklagten ebenfalls hergestellte Motortyp EA 189 - nicht mit einer sog. Umschaltlogik ausgestattet ist, welche nach Bekanntwerden im Jahr 2015 Auslöser des Dieselskandals war. Eine allgemeine Rückrufaktion seitens des Kraftfahrtbundesamtes (nachfolgend: KBA) für dieses Motoraggregat erfolgte bislang nicht, obwohl Fahrzeuge mit dem Motorentyp EA 288 vom KBA über einen Zeitraum von fünf Jahren wiederholt überprüft worden waren. Das Fahrzeug der Klägerin war im Gegensatz zu einzelnen Fahrzeugen, die mit einem Motor EA 288 ausgestattet waren (so der VW-Bus T6 2.0 TDI), auch nicht individuell von einem Rückruf betroffen.

Der Motortyp EA 288 ist allerdings mit einem sogenannten Thermofenster ausgestattet, welches die Abgasrückführung abhängig von den Außentemperaturen durch eine Software steuert bzw. abschaltet. Die genaue Funktionsweise bzw. der Temperaturbereich des Thermofensters, dessen Notwendigkeit zum Motorschutz sowie das Vorliegen weiterer Software basierter Motorsteuerungen, namentlich eine Fahrkurvenerkennung, die Einfluss auf den Schadstoffausstoß (vornehmlich CO2) haben könnten, ist zwischen den Parteien streitig.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die in ihrem Fahrzeug installierte Motorsteuerungssoftware beinhalte (teilweise) eine verbotene Abschalteinrichtung i. S. v. Art. 5 II VO 715/2007, Art. 3 Nr. 10 VO 715/2017. Hierzu hat sie vorgetragen, die thermische Abgasrückführung funktioniere nur im Rahmen von 20° C bis 30° C, danach finde eine Abgasrückführung nicht statt. Auch werde die Abgasrückführung um bis zu 45 Prozent reduziert, wenn die Außentemperatur 7° C erreiche bzw. unterschreite, so dass das Thermofenster voll nur in einem Rahmen von 17° C bis 30° C funktioniere. Gleichermaßen werde auch der neue europäische Fahrzyklus (nachfolgend: NEFZ) genauso erkannt wie beim Motortyp EA 189. In diesem Zusammenhang sei auch das On-Board-Diagnose-System (nachfolgend: OBD) dergestalt manipuliert worden, dass es diesbezüglich keine Fehlermeldung generiere. Diese Abschalteinrichtungen seien aus den Antragsunterlagen für die Typengenehmigung für das KBA nicht erkennbar gewesen. Wohl aber sei dem Vorstand der Beklagten bekannt gewesen, dass eine illegale Abschalteinrichtung installiert worden sei.

In Kenntnis dieser...

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