1 Leitsatz
Ein während der COVID-19-Pandemie gefasster Beschluss ist nicht deshalb nichtig, weil die Wohnungseigentümer an der Versammlung ausschließlich durch die Erteilung einer Vollmacht an den Verwalter teilnehmen konnten.
2 Normenkette
§§ 18, 23, 24 WEG
3 Das Problem
Verwalter V lädt die Wohnungseigentümer wie folgt ein: "Die Versammlung findet schriftlich am 24.11.2020 statt. Bitte (...) senden Sie uns die Vollmacht sowie das ausgefüllte Weisungsdokument zu." Dieser Aufforderung kommen 5 von 24 Wohnungseigentümern nach. In der Versammlung ist nur V anwesend. Mit Schreiben vom 24.11.2020 teilt V mit, die Wohnungseigentümer seien bei der allein von ihm abgehaltenen Versammlung aufgrund erteilter Vollmachten vertreten gewesen. V übermittelt zugleich eine Niederschrift über die Beschlüsse. Gegen diese Beschlüsse wendet sich Wohnungseigentümer K. Er verpasst aber die Anfechtungsfrist. Zu prüfen ist daher nur, ob die Beschlüsse nichtig sind. Das LG sieht das so: Die Nichtigkeit folge aus einer Verletzung des Rechts eines jeden Wohnungseigentümers auf persönliche Teilnahme an einer Versammlung. Das Einladungsschreiben habe von den Wohnungseigentümern nur so verstanden werden können, dass eine persönliche Teilnahme an der Versammlung unmöglich sei und die Ausübung des Teilhabe- und Stimmrechts allein durch die Bevollmächtigung erfolgen könne. Darin sei eine Ausladung zu sehen, die in den unantastbaren Kernbereich des Wohnungseigentumsrechts eingreife.
4 Die Entscheidung
Das sieht der BGH anders! Es habe eine Versammlung stattgefunden, in der Beschlüsse gefasst worden seien. Eine Versammlung setze zwar grundsätzlich ein physisches Zusammentreffen der Wohnungseigentümer voraus. Die Ausübung der Teilnahme- und Mitwirkungsrechte erfordere regelmäßig und vorbehaltlich einer grundsätzlich möglichen Stellvertretung eine persönliche Anwesenheit der Wohnungseigentümer in der Versammlung. Dass Wohnungseigentümer an der Versammlung nur teilnehmen können, indem sie von dem allein anwesenden Verwalter vertreten werden, ändere nichts daran, dass es sich um eine Versammlung handele. Denn auch eine sog. Vertreterversammlung, in der nur eine Person anwesend sei, sei eine Versammlung, in der Beschlüsse gefasst und verkündet werden könnten (Hinweis u. a. auf Elzer, in: Zehelein, COVID-19, Miete in Zeiten von Corona, 2. Auflage, § 5 Rn. 55). Die Einberufung und Abhaltung der Versammlung habe zwar nicht den gesetzlichen WEG-Vorgaben entsprochen. Denn eine reine Vertreterversammlung sei nur dann zulässig, wenn sämtliche Wohnungseigentümer in ein solches Vorgehen eingewilligt und den Verwalter zu der Teilnahme und Stimmabgabe bevollmächtigt hätten – woran es im Fall fehle. Auch habe keine Pflicht der Wohnungseigentümer bestanden, V für die Teilnahme und Stimmabgabe zu bevollmächtigen. V habe mithin die §§ 23, 24 WEG bewusst außer Acht gelassen. Das habe aber nicht zur Nichtigkeit der Beschlüsse geführt. Mit seiner Annahme, die Nichtigkeit der Beschlüsse folge aus der BGH-Rechtsprechung, wonach Beschlüsse, die in den unantastbaren Kernbereich des Wohnungseigentumsrechts eingriffen, unwirksam seien, nehme das LG nicht hinreichend in den Blick, dass es im Fall nicht um inhaltliche Beschlussmängel, sondern um die Art und Weise des Zustandekommens von Beschlüssen gehe (= formale Mängel). Die Nichteinladung einzelner Wohnungseigentümer führe regelmäßig aber nur zur Anfechtbarkeit der in der Versammlung gefassten Beschlüsse. Der Senat habe die Nichtigkeit zwar für den Fall erwogen, dass ein Wohnungseigentümer in böswilliger Weise gezielt von der Teilnahme ausgeschlossen werden solle. Jedenfalls während der COVID-19-Pandemie begangene Rechtsverstöße führten aber schon deshalb nicht zur Nichtigkeit, weil die Abhaltung einer "echten" Versammlung unter Einhaltung der §§ 23, 24 WEG zum maßgeblichen Zeitpunkt unmöglich gewesen sei.
5 Hinweis
Problemüberblick
Im Fall geht es um die Frage, ob die Rechte der Wohnungseigentümer fundamental verletzt werden, wenn die Verwaltung ihnen nicht gestattet, zu einer Versammlung zu erscheinen. Der BGH verneint die Frage. Ich selbst hätte diese mit dem LG bejaht.
Das "Dilemma"
Während der COVID-19-Pandemie befanden sich die Verwaltungen in einer unauflöslichen Konfliktsituation. Sie standen vor dem Dilemma, entweder das Wohnungseigentums- oder das Infektionsschutzrecht zu missachten. In dieser Ausnahmesituation wurde regelmäßig aus Praktikabilitätserwägungen eine Vertreterversammlung durchgeführt, um den Wohnungseigentümern eine Beschlussfassung zu ermöglichen. Das billigt der BGH. Im Kern argumentiert er wie folgt:
Teilweise wurden während der Corona-Pandemie unter Missachtung des Wohnungseigentumsrechts gar keine Versammlungen abgehalten. Hingegen lag es im Fall im Interesse der Wohnungseigentümer, eine Versammlung abzuhalten.
Durch eine Vertreterversammlung wurde den Wohnungseigentümern jedenfalls die Fassung von Beschlüssen ermöglicht, die der gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden konnten.
Auch wurden die Eigentümer nicht von der Stimmabgabe ausgeschlossen. Sie konnten sich – we...