Entscheidungsstichwort (Thema)
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nach Zustellung einer fehlerhafte Urteilsausfertigung
Leitsatz (redaktionell)
Die Zustellung einer mängelbehafteten Ausfertigung eines Urteils bleibt wirksam, auch wenn bei anschließender erneuter Zustellung einer mängelfreien Ausfertigung ein Hinweis, die zuerst erteilte Ausfertigung sei als gegenstandslos zu betrachten, beigefügt ist. Geht ein Rechtsanwalt von der irrigen Annahme aus, erst die zweite Zustellung habe die Berufungsbegründungsfrist in Lauf gesetzt und versäumt er deswegen die Berufungsbegründungsfrist, ist ihm hierfür kein Verschulden anzulasten.
Normenkette
ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
KG Berlin (Beschluss vom 10.12.2004; Aktenzeichen 2 U 129/04) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 2. Zivilsenats des KG v. 10.12.2004 aufgehoben.
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 12.219,63 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Das LG hat die Klage mit Urteil v. 28.7.2004 abgewiesen. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 18.8.2004 in einer Ausfertigung zugestellt worden, bei der am rechten Seitenrand einzelne Buchstaben und teilweise auch ganze Wörter fehlten. Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten, denen eine in gleicher Weise mängelbehaftete Urteilsausfertigung zugestellt worden ist, haben diese unter Hinweis auf den Mangel an das LG zurückgereicht. Dessen Geschäftsstelle hat daraufhin beiden Parteien eine berichtigte Ausfertigung des Urteils v. 28.7.2004 zugestellt. Das beigefügte Begleitschreiben v. 26.8.2004 endete mit dem Hinweis, dass die zuerst erteilte fehlerhafte Ausfertigung als gegenstandslos betrachtet werden könne.
Die Klägerin, der die berichtigte Ausfertigung am 31.8.2004 förmlich zugestellt worden ist, hat gegen das Urteil am Montag, den 20.9.2004 Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz v. 29.10.2004, der an diesem Tag als Faxschreiben beim Berufungsgericht eingegangen ist, begründet. Der Vorsitzende des Berufungssenats hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist Bedenken bestünden. Die Klägerin hat daraufhin mit am 15.11.2004 beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Mit Beschluss v. 10.12.2004 hat das Berufungsgericht der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung versagt und deren Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II. Das Berufungsgericht hat die Berufung für unzulässig erachtet, weil sie nicht innerhalb der schon durch die erste Zustellung des angefochtenen Urteils am 18.8.2004 in Lauf gesetzten Berufungsbegründungsfrist von zwei Monaten begründet worden sei und auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keinen Erfolg habe. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Zustellung einer berichtigungsbedürftigen Urteilsausfertigung setze die an sie geknüpften Notfristen im Fall der späteren Zustellung einer berichtigten Ausfertigung nur dann nicht in Lauf, wenn erst die Berichtigung eine Beschwer erkennbar mache oder die Mängel insgesamt so schwer wiegend oder essentiell seien, dass die unberichtigte Fassung der Partei keine taugliche Grundlage für die Entschließung biete, ob ein Rechtsmittel einzulegen sei. Ein solcher Fall sei hier nicht gegeben. Die für die Beurteilung, ob überhaupt ein rechtsmittelfähiges Urteil vorliege, erforderlichen Formalien des Urteils seien völlig beanstandungsfrei. Der Tenor sei trotz des Fehlens von Buchstaben leicht, zweifelsfrei und vollständig verständlich. Das Verständnis des Tatbestands und der Entscheidungsgründe sei zwar stellenweise wegen der fehlenden Buchstaben erschwert, aber selbst an diesen Stellen keineswegs vereitelt. Der Umstand, dass die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die fehlerhafte Ausfertigung in ihrem Entschuldigungsschreiben als gegenstandslos bezeichnet habe, habe die wirksame und den Fristenlauf auslösende Zustellung nicht ungeschehen machen können. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unbegründet, weil der Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist schuldhaft gehandelt habe. Diesem hätte es oblegen, beim Verfassen der Berufungsschrift die Berechnung der in der Akte von der Kanzleiangestellten vermerkten Fristen zu überprüfen. Eine solche Prüfung hätte entweder zur Klärung der Rechtslage oder zumindest zu Zweifeln an der (fehlerhaften) Fristberechnung geführt. Bei der dann gebotenen Wahl des sichersten Weges wäre entweder die Berufungsbegründungsfrist eingehalten oder rechtzeitig ein Antrag auf Verlängerung der Frist gestellt worden.
III. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 238 Abs. 2 S. 1, § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 1 ZPO).
IV. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Berufungsgericht hat der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht versagt.
1. Das Berufungsgericht hat mit Recht und von der Rechtsbeschwerde unangegriffen angenommen, dass das Fehlen von Buchstaben und (kurzen) Wörtern das Verständnis des Tatbestands und der Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils zwar stellenweise erschwert, aber nicht vereitelt und daher die Wirksamkeit der am 18.8.2004 erfolgten ersten Zustellung unberührt gelassen habe (BGH, Beschl. v. 13.4.2000 - V ZB 48/99, NJW-RR 2000, 1665 [1666]; Beschl. v. 24.1.2001 - XII ZB 75/00, MDR 2001, 646 = BGHReport 2001, 399 = NJW 2001, 1653 [1654], jeweils m.w.N.).
2. Der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand steht kein der Klägerin zurechenbares Verschulden (§ 85 Abs. 2 ZPO) ihres Prozessbevollmächtigten an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist entgegen.
Mit seiner gegenteiligen Ansicht überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Dessen irrige Annahme, erst die zweite Zustellung habe die Berufungsbegründungsfrist in Lauf gesetzt, weil die erste Zustellung unwirksam gewesen sei, ist in erster Linie durch die vom Gericht veranlasste erneute Zustellung des Urteils ausgelöst worden. Ein solcher Irrtum gereicht ihm nicht zum Verschulden. Die erneute Zustellung des Urteils musste den Eindruck erwecken, das Gericht habe die erste Zustellung als unwirksam angesehen, da nur in diesem Fall Veranlassung bestand, das Urteil nochmals zuzustellen. Wenn aber das Gericht eine zweite Zustellung als notwendig ansah, durfte der Anwalt darauf vertrauen, dass es sich bei der erneuten Zustellung um eine sinnvolle Maßnahme handelte, und davon ausgehen, dass erst diese Zustellung die Berufungsbegründungsfrist in Lauf gesetzt hat (BGH, Beschl. v. 26.10.1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680 [681]).
Dies gilt hier umso mehr, als die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle bei der zweiten Zustellung in einem Begleitschreiben ausdrücklich bat, die Mängel der ersten Ausfertigung zu entschuldigen, und dazu erklärte, die zuerst erteilte Ausfertigung könne als gegenstandslos betrachtet werden. Mit Rücksicht auf die Zuständigkeit eines Urkundsbeamten im Bereich der Zustellung konnte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf diese Erklärung in gleicher Weise vertrauen wie auf eine durch einen Richter veranlasste Erklärung über die Wirksamkeit einer Zustellung (BGH v. 26.10.1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680 [681]).
Die erneute Zustellung des landgerichtlichen Urteils ist nicht durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin veranlasst worden, sondern durch den Prozessbevollmächtigten der Gegenpartei. Es ist nicht einmal ersichtlich, dass
dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin das Schreiben des Beklagtenvertreters mitgeteilt worden ist, mit dem dieser die ihm zuerst zugestellte Urteilsausfertigung zurückgereicht und um die Übersendung eines vollständigen Urteils gebeten hat. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt der vorliegende Fall deshalb anders als der Sachverhalt, über den der V. Zivilsenat des BGH durch Beschluss v. 13.4.2000 (BGH v. 13.4.2000 - V ZB 48/99, NJW-RR 2000, 1665 f.) entschieden hat.
Fundstellen
Haufe-Index 1378349 |
BGHR 2005, 1212 |
NJW-RR 2005, 1658 |
JurBüro 2006, 110 |
MDR 2005, 1184 |