Leitsatz (amtlich)
a) Es besteht keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befassten Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern.
b) Ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten wirkt sich nur dann nicht mehr aus, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Rostock (Beschluss vom 30.10.2003; Aktenzeichen 8 U 213/03) |
AG Bad Doberan |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 8. Zivilsenats des OLG Rostock v. 30.10.2003 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 2.969,38 EUR.
Gründe
I.
Die Klägerin, eine in den Niederlanden ansässige Versicherungsgesellschaft, nahm den Beklagten aus übergegangenem Recht auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Das vom Kläger angerufene AG hat die Klage abgewiesen. Gegen das am 17.2.2003 zugestellte Urteil legte die Klägerin mit einem am 21.2.2003 eingegangenen Schriftsatz beim LG Berufung ein. Am 25.2.2003 verfügte der Vorsitzende der Berufungskammer die Wiedervorlage auf den Eingang der Berufungsbegründungsschrift, spätestens auf den 18.4.2003. Die von der Berufungskammer angeforderten Akten gingen am 7.3.2003 beim LG ein. Nachdem die Klägerin die Berufung mit einem am 17.4.2003 beim LG eingegangenen Schriftsatz begründet hatte, wurden die Akten nach Eingang des Originals der Berufungsbegründungsschrift dem Vorsitzenden am 22.4.2003 vorgelegt.
Mit Beschluß v. 16.9.2003 hat die Berufungskammer die Sache auf den Einzelrichter übertragen, der eine mündliche Verhandlung auf den 9.10.2003 anberaumt hat. Am Terminstag beantragte die Klägerin, nachdem ihr Prozessbevollmächtigter am 8.10.2003 auf die fehlende funktionelle Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes hingewiesen worden war, die Abgabe des Verfahrens an das OLG und beantragte zugleich, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsfrist zu gewähren. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung hat das LG das Verfahren an das OLG abgegeben, wo die Akten am 18.10.2003 eingegangen sind.
Das OLG hat mit dem angefochtenen Beschluss die Berufung als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zurückgewiesen. Die an das LG adressierte Berufungsschrift habe die Frist zur Einlegung der Berufung nicht gewahrt, weil sie beim funktionell unzuständigen Gericht eingegangen sei. In der von dem AG verhandelten bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit sei wegen der Beteiligung einer Person, die im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit ihren allgemeinen Gerichtsstand nicht im Geltungsbereich des GVG hatte, das OLG zuständig gewesen (§ 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG). Die Berufung hätte deshalb beim OLG eingelegt werden müssen (§ 519 Abs. 1 ZPO).
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, weil der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Versäumung verschuldet habe. Ihm hätte die Gesetzesänderung, die zur fraglichen Zeit bereits seit über einem Jahr in Kraft gewesen sei, bekannt sein müssen. Die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, dass das LG ihre Berufung innerhalb der Berufungsfrist an das zuständige OLG hätte weiterleiten müssen. Denn allein aus der Berufungsschrift und dem ihr beigefügten angefochtenen Urteil habe die funktionelle Unzuständigkeit des angerufenen LG nicht zweifelsfrei entnommen werden können. Die Berufungsschrift habe den Geschäftssitz der Klägerin nämlich mit G. in Deutschland und nicht wie im Urteil mit A. in den Niederlanden bezeichnet. Ohne nähere Kenntnis des Akteninhaltes und der Berufungsbegründungsschrift habe eine Entscheidung darüber, wo der Geschäftssitz der Klägerin zur Zeit der Rechtshängigkeit gelegen sei, nicht getroffen werden können.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 574 Abs. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 S. 4, 238 Abs. 2 ZPO statthaft und zur Fortbildung des Rechts zulässig, aber nicht begründet.
1. Die Rechtsbeschwerde wendet sich nicht gegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Frist zur Einlegung der Berufung versäumt worden sei. Sie meint jedoch, das Berufungsgericht habe den Umfang der Fürsorgepflicht des vom Rechtsmittelführer angerufenen unzuständigen Gerichts und damit die Tragweite des aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren verkannt und deswegen rechtsfehlerhaft keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Damit hat sie keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu Recht nicht gewährt, weil die Fristversäumung nicht unverschuldet ist (§ 233 ZPO). Die Beklagte muss sich das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 ZPO), welches darin liegt, dass er die Berufung bei einem unzuständigen Gericht eingelegt hat.
a) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein unzuständiges Gericht jedenfalls dann, wenn es vorher selbst mit der Sache befasst war, auf Grund der nachwirkenden Fürsorgepflicht gehalten ist, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Geht der Schriftsatz so rechtzeitig ein, dass eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus (vgl. BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [112 ff.]; v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343; BGH, Urt. v. 12.10.1995 - VII ZR 8/95, NJW-RR 1996, 443; v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, MDR 1998, 363 = VersR 1998, 608 [609]; Beschl. v. 3.9.1998 - IX ZB 46/98, VersR 1999, 1170 [1171]; v. 27.7.2000 - III ZB 28/00, NJW-RR 2000, 1730 [1731]; v. 26.10.2000 - V ZB 32/00, juris).
b) Nach der Rechtsprechung des BGH besteht hingegen keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. So kann keine "vorbeugende Fürsorgepflicht" des lediglich für die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens in Notarverwaltungssachen zuständigen BGH statuiert werden, außerhalb normaler Geschäftsabläufe bei ihm eingehende Beschwerdeschriften an die für die Rechtsmitteleinlegung zuständigen OLG weiterzuleiten (vgl. BGH, Beschl. v. 29.11.1999 - NotZ 10/99, MDR 2000, 359 = NJW 2000, 737 f.).
c) Auch nach Auffassung des Senats besteht keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befassten Gerichts, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf sich die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, nicht nur an dem Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [114]; v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343). Deshalb nimmt das BVerfG selbst dann, wenn der fristgebundene Schriftsatz bei dem "mit der Sache befasst gewesenen Gericht" eingegangen ist, nur dann an, dass sich ein etwaiges Verschulden der Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr auswirke, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann. In diesem Fall tritt nämlich eine ins Gewicht fallende Belastung des Gerichts nicht ein.
Nach diesen Grundsätzen ist die Abwägung des Berufungsgerichts, auf Grund derer es den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen hat, unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht zu beanstanden. Das für die Einlegung der Berufung unzuständige LG war vorher mit dem Fall noch nicht befasst. In der Berufungsschrift waren sowohl für die Klägerin als auch für den Beklagten Anschriften in Deutschland angegeben. Daher erschien grundsätzlich das LG für die Berufung zuständig, so dass sich aus der Berufungsschrift keine Besonderheit für den Vorsitzenden ergab. Auch wenn sich aus dem Rubrum der der Berufungsschrift beigefügten Ablichtung des angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils ergab, dass die Klägerin möglicherweise ihren Sitz in A. hatte, war die Unzuständigkeit des erstmals mit der Sache befassten LG nicht "ohne weiteres" oder "leicht und einwandfrei" (so BVerfG v. 2.9.2002 - 1 BvR 476/01, NJW 2002, 3692 [3693]) erkennbar. Im Gegensatz zu dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, der vor Einlegung der Berufung die Zuständigkeit des Berufungsgerichts prüfen musste, war der Vorsitzende nicht gehalten, bereits zu diesem Zeitpunkt die funktionelle Zuständigkeit des Gerichts zu prüfen. Da die funktionelle Unzuständigkeit des LG nicht ohne weiteres zu erkennen war, entsprach es durchaus dem normalen Geschäftsablauf, dass die rechtliche Prüfung erst nach Eingang der Berufungsbegründung durch den die Angelegenheit bearbeitenden Richter vorgenommen wurde. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzte dieses dem normalen Geschäftsablauf entsprechende Verfahren nicht die Fürsorgepflicht des Gerichts.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 1202675 |
BB 2004, 1764 |
BGHR 2004, 1515 |
EBE/BGH 2004, 3 |
FamRZ 2004, 1638 |
NJW-RR 2004, 1655 |
JurBüro 2004, 680 |
JurBüro 2005, 110 |
ZAP 2004, 1152 |
MDR 2004, 1311 |
VersR 2005, 247 |
r+s 2005, 130 |
ProzRB 2005, 38 |