Entscheidungsstichwort (Thema)
gemeinschaftlicher Totschlag
Leitsatz (amtlich)
1. Von der mündlichen Anhörung kann über die im Gesetz genannten Ausnahmen hinaus auch dann abgesehen werden, wenn der Verurteilte ausdrücklich erklärt hat, er wolle nicht angehört werden (im Anschluß an BGH NStZ 1995, 610).
2. Die Strafvollstreckungskammer kann vor ihrer Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung von der Einholung eines Sachverständigengutachtens absehen, wenn eine Aussetzung offensichtlich nicht verantwortet werden kann und das Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht.
Normenkette
StPO § 454 Abs. 1 Sätze 2-3, Abs. 2 S. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. November 1999 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, verbüßt eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren, die das Oberlandesgericht Stuttgart gegen ihn durch Urteil vom 9. Dezember 1992 wegen gemeinschaftlichen Totschlags verhängt hat. Er wurde verurteilt, weil er am 5. Juni 1987 in K. gemeinsam mit einem Mittäter einen kurdischen Landsmann auf Weisung der Parteiführung der Arbeiterpartei PKK überwältigt und schließlich getötet hatte. Mit Beschluß vom 17. November 1999 hat das Oberlandesgericht Stuttgart die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe abgelehnt. Die gegen diese Entscheidung gerichtete zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten ist unbegründet.
Mit zutreffender Begründung hat das Oberlandesgericht Stuttgart eine günstige Prognose verneint und deshalb den Strafrest nicht gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt. Vor allem die vom Beschwerdeführer während der Strafhaft begangenen Straftaten der Beleidigung, Bedrohung und Körperverletzung zeigen, daß er noch immer zu Gewalttätigkeiten gegen andere Menschen neigt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung, denen er sich anschließt. Ergänzend ist zum Beschwerdevorbringen folgendes auszuführen:
1. Erfolglos beanstandet der Beschwerdeführer, daß das Oberlandesgericht Stuttgart ohne die nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO vorgeschriebene mündliche Anhörung, durch die mit der Vermittlung eines aktuellen persönlichen Eindrucks vom Verurteilten eine zuverlässigere Entscheidungsgrundlage für das Gericht gewährleistet werden soll (vgl. BGHSt 28, 138, 141), entschieden hat. Zwar liegen die Voraussetzungen, die es nach der gesetzlichen Ausnahmeregelung in § 454 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 bis 3 StPO erlaubt hätten, ohne mündliche Anhörung des Verurteilten zu entscheiden, nicht vor. Allerdings ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, daß es in entsprechender Anwendung von § 454 Abs. 1 Satz 4 StPO dem Sinn dieser Ausnahmevorschrift gemäß zulässig sein kann, auch in anderen als den im Gesetz genannten Fällen von einer mündlichen Anhörung des Verurteilten abzusehen (vgl. BGH NStZ 1995, 610 = BGHR StPO § 454 Anhörung 1, mit weiteren Nachweisen; Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 454 Rdn. 44, 48 bis 50; Fischer in KK 4. Aufl. § 454 Rdn. 21, 26 bis 29). Um einer Aushöhlung der Regelung über die mündliche Anhörung des Verurteilten vorzubeugen, ist jedoch Zurückhaltung geboten bei der Zulassung weiterer Ausnahmen außerhalb der gesetzlichen Fälle (Ruß in LK 11. Aufl. § 57 Rdn. 77). Von der mündlichen Anhörung kann über die im Gesetz genannten Ausnahmen hinaus u.a. dann abgesehen werden, wenn eine Beeinflussung der Entscheidung durch sie von vornherein ausgeschlossen erscheint und ihre Durchführung daher zur inhaltslosen Formalie ohne jeden Aufklärungswert würde (vgl. BGH NStZ 1995, 610 = BGHR StPO § 454 Anhörung 1; OLG Düsseldorf NStE § 454 StPO Nr. 5). Dies ist anzunehmen, wenn der Verurteilte – wie hier – ausdrücklich und eindeutig erklärt hat, er wolle nicht mündlich angehört werden (OLG Düsseldorf NStZ 1987, 524, 1988, 95 und 1988, 243; OLG Hamm MDR 1975, 775 und 1978, 692; Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 454 Rdn. 47; Stöckel in KMR 4. ErgLfg. § 454 Rdn. 58; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 454 Rdn. 30), weil eine Anhörung gegen den Willen des Verurteilten nicht erzwungen werden kann. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Verzicht vor oder nach Anberaumung eines Anhörungstermins erklärt wird.
2. Auch konnte das Oberlandesgericht Stuttgart vor seiner Entscheidung von der Hinzuziehung eines Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO absehen. Nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, löst die Pflicht zur Begutachtung des Verurteilten aus. Wie sich aus dem Sinn und Zweck der Einschaltung eines Sachverständigen und den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 13/8586, S. 10) ergibt, muß ein Gutachten nur dann eingeholt werden, wenn das Gericht erwägt, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen. Das Sachverständigengutachten soll es dem Gericht ermöglichen, die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit im Falle einer beabsichtigten Strafaussetzung zur Bewährung zuverlässiger einschätzen zu können. Wenn im Einzelfall – wie beim Beschwerdeführer – wegen besonderer Umstände eine Aussetzung der Reststrafe offensichtlich nicht verantwortet werden kann und das Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht, ist eine Beurteilung der von dem Verurteilten ausgehenden Gefahr durch eine Sachverständigenanhörung nicht erforderlich (OLG Celle NStZ-RR 1999, 179; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 454 Rdn. 37).
Unterschriften
Kutzer, Rissing-van Saan, von Lienen
Fundstellen
Haufe-Index 556717 |
NJW 2000, 1663 |
EBE/BGH 2000, 69 |
NStZ 2000, 279 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2000, 525 |
BewHi 2000, 457 |
StV 2000, 263 |