Leitsatz (amtlich)
Ist ein für das Rechtsmittelgericht bestimmter fristgebundener Schriftsatz bei dem mit der Sache befassten erstinstanzlichen Gericht eingereicht worden, darf der Rechtsanwalt auf dessen Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang auch dann vertrauen, wenn er seinen Fehler noch rechtzeitig vor Fristablauf bemerkt.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 10. Zivilsenats des OLG Dresden vom 30.10.2006 aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 49.143,66 EUR.
Gründe
I.
[1] Die Beklagte ist durch ein am 2.12.2005 verkündetes Urteil des LG zur Zahlung verurteilt worden. Mit einem an das LG gerichteten Schriftsatz vom 24.4.2006 legte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten gegen das noch nicht zugestellte Urteil Berufung ein und beantragte zugleich, ihm das Urteil kurzfristig zu übermitteln. Dies geschah am 2.5.2006. Den Schriftsatz vom 24.4.2006 leitete das LG nicht an das OLG weiter.
[2] Am letzten Tag der Berufungsbegründungsfrist fragte ein Mitarbeiter des Prozessbevollmächtigten der Beklagten bei dem OLG nach dem dortigen Aktenzeichen und erhielt die Mitteilung, dass eine Berufung in dieser Sache nicht registriert sei. Die Beklagte hat ihre rechtzeitig eingegangene Berufungsbegründung mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsfrist verbunden.
[3] Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
II.
[4] Das Berufungsgericht meint, die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, dass das LG verpflichtet gewesen sei, die Berufungsschrift an das OLG zu senden. Zwar müsse ein zuvor mit dem Verfahren befasstes Gericht nach der Rechtsprechung des BGH eine Rechtsmittelschrift an das zuständige Gericht weiterleiten. Hier gelte aber etwas anderes, weil der Schriftsatz vom 24.4.2006 inhaltlich nicht nur für das OLG, sondern auch für das LG bestimmt gewesen sei. Zudem habe der Prozessbevollmächtigte der Beklagten anlässlich der Zustellung des Urteils am 2.5.2006 die falsche Adressierung der Berufungsschrift bemerken und die rechtzeitige Berufungseinlegung sicherstellen können. Er habe auch damit rechnen müssen, dass das LG den Schriftsatz vom 24.4.2006 durch die Urteilszustellung als beantwortet ansehen und ihn deshalb nicht an das OLG weiterleiten würde. Der Prozessbevollmächtigte sei deshalb gehalten gewesen, innerhalb der bis zum 2.6.2006 laufenden Berufungsfrist bei dem OLG nachzufragen, ob der Schriftsatz dort eingegangen sei. Da er dies unterlassen habe, sei die Berufungsfrist nicht ohne Verschulden der Beklagten versäumt worden.
III.
[5] 1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO) und auch zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, weil das Berufungsgericht die Anforderung an das, was eine Partei veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, überspannt und dadurch den Anspruch der Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt hat (vgl. BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 226 = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207).
[6] 2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
[7] a) Das Berufungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, dass die Beklagte die Berufungsfrist (§ 517 ZPO) versäumt hat, weil die Einreichung einer Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht nicht fristwahrend wirkt und der Schriftsatz vom 24.4.2006 nicht innerhalb eines Monats seit Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an das OLG gelangt ist.
[8] b) Der Beklagten ist auf ihren rechtzeitigen Antrag hin jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§§ 233, 234 ZPO).
[9] aa) Nach der auf eine Entscheidung des BVerfG zurückgehenden Rechtsprechung des BGH darf ein Rechtssuchender darauf vertrauen, dass ein mit der Sache bereits befasstes Gericht einen bei ihm eingereichten, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten wird. Geht der Schriftsatz dabei so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf die Partei auch darauf vertrauen, dass er noch fristgerecht bei dem Rechtsmittelgericht eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruht (vgl. BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, 115; BGH, Beschl. v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, MDR 1998, 363 = NJW 1998, 908; Beschl. v. 3.9.1998 - IX ZB 46/98, VersR 1999, 1170, 1171; Beschl. v. 27.7.2000 - III ZB 28/00, NJW-RR 2000, 1730, 1731; Beschl. v. 6.6.2005 - II ZB 9/04, CR 2006, 41 = BGHReport 2005, 1273 = MDR 2005, 1367 = NJW-RR 2005, 1373; Beschl. v. 3.7.2006 - II ZB 24/05, MDR 2007, 44 = BGHReport 2006, 1317 = NJW 2006, 3499). Hiernach durfte die Beklagte darauf vertrauen, dass ihre mehr als fünf Wochen vor Ablauf der Berufungsfrist bei dem LG eingereichte Berufungsschrift an das OLG weitergeleitet werden und dort rechtzeitig eingehen würde.
[10] bb) Die von dem Berufungsgericht hervorgehobenen Besonderheiten des Sachverhalts rechtfertigen keine Abweichung von diesem Grundsatz.
[11] (1) Die Verpflichtung des LG, den Schriftsatz vom 24.4.2006 an das OLG weiterzuleiten, entfiel entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht deshalb, weil dieser neben der Berufungseinlegung auch den - zutreffenderweise - an das LG gerichteten Antrag enthielt, das erstinstanzliche Urteil zu übermitteln. Zwar durfte und musste sich das LG zunächst mit dem in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Antrag befassen. Da dieser in der Sache aber nur eine Erinnerung an die Zustellung des verkündeten Urteils enthielt, also nichts erforderlich machte, was nicht ohnehin von Amts wegen zu geschehen hatte (§ 317 Abs. 1 Satz 1 ZPO), hätte das LG feststellen müssen, dass der Antrag die Weiterleitung des Schriftsatzes an das OLG nicht hinderte. Aus diesem Grund und weil die Einlegung der Berufung - auch der äußeren Gestaltung nach - erkennbar das Hauptanliegen des Schriftsatzes war, musste der Prozessbevollmächtigte der Beklagten auch nicht damit rechnen, dass das LG den Schriftsatz durch die nachfolgende Zustellung des erstinstanzlichen Urteils als beantwortet ansehen würde.
[12] Die Weiterleitung an das OLG durfte, anders als das Berufungsgericht meint, nicht deshalb unterbleiben, weil der Schriftsatz, da er inhaltlich auch für das LG bestimmt war, in die Akte des LG gehörte. Der Schriftsatz hätte seine Eigenschaft als Aktenbestandteil nicht dadurch verloren, dass er an das OLG weitergereicht worden wäre, dieses anschließend die Akten des LG angefordert und den Schriftsatz dann in diese oder in einen neu anzulegenden Aktenband eingeheftet hätte.
[13] (2) Ob der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die falsche Adressierung der Berufungsschrift anlässlich der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erkennen konnte oder tatsächlich erkannt hat, ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts unerheblich. Es trifft nicht zu, dass die Verpflichtung eines Gerichts, eine Rechtsmittelschrift an das Rechtsmittelgericht weiterzuleiten, nur dann zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führt, wenn die falsche Adressierung bis zum Fristablauf unbemerkt bleibt. Der Rechtssuchende darf darauf vertrauen, dass das mit der Sache befasst gewesene Gericht den bei ihm eingegangenen, aber für das Rechtsmittelgericht bestimmten Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang dorthin weiterleiten wird (BVerfG v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, 115). Wer darauf vertrauen darf, dass sein Fehler korrigiert wird, darf dies auch und gerade dann tun, wenn er seinen Fehler bemerkt. Dementsprechend hat der BGH bereits entschieden, dass es, wenn eine fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte, ohne Bedeutung ist, ob die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter die falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift noch rechtzeitig bemerkt hat und daher selbst in der Lage war, durch Einreichung einer neuen fehlerfreien Berufungsschrift die Frist auch auf anderem Weg zu wahren (Beschl. v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, BGH v. 1.12.1997 - II ZR 85/97, MDR 1998, 363 = NJW 1998, 908, 909).
Fundstellen
Haufe-Index 1777616 |
DB 2008, 581 |
BGHR 2007, 981 |
EBE/BGH 2007 |
FamRZ 2007, 1640 |
ZAP 2007, 958 |
AnwBl 2007, 721 |
MDR 2007, 1276 |
GuT 2007, 385 |
BRAK-Mitt. 2007, 259 |