Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeit des Patents bei Überschreiten des Patentgegenstands gegenüber Offenbarung der Patentanmeldung. Einschließen von Änderungen in ursprüngliche Patentanmeldung. Offenkundige Erschließung für den Fachmann aus Gesamtheit der Unterlagen. Definierte Lehre
Leitsatz (amtlich)
Zur Beantwortung der Frage, ob der Gegenstand der Patentansprüche in der erteilten Fassung des Patents über den Inhalt der Anmeldung hinausgeht und deshalb der Nichtigkeitsgrund des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ vorliegt, ist die durch die Patentansprüche definierte Lehre mit dem gesamten Offenbarungsgehalt der Patentanmeldung zu vergleichen. Entscheidend ist, ob die ursprüngliche Offenbarung in ihrer Gesamtheit das in den erteilten Patentansprüchen niedergelegte Schutzbegehren umfasst. Den mit der Anmeldung ursprünglich formulierten Patentansprüchen kommt im Rahmen des Erteilungsverfahrens keine eine weiter gehende Offenbarung in der Beschreibung einschränkende Bedeutung zu.
Normenkette
EPÜ Art. 138 Abs. 1 Buchst. c; IntPatÜG Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
BPatG (Urteil vom 28.11.2001; Aktenzeichen 4 Ni 56/00 (EU)) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28.11.2001 verkündete Urteil des 4. Senats (Nichtigkeitssenats) des BPatG abgeändert.
Das europäische Patent 0 199 274 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des u.a. mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 0 199 274 (Streitpatents), das unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Offenlegungsschrift 35 15 069v. 26.4.1985 angemeldet worden ist.
Es betrifft einen "Transportwagen" und umfasst sechs Patentansprüche. Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache Deutsch:
"Transportwagen, der in einen gleich gearteten Transportwagen einschiebbar und mit einer zur Aufnahme von Ware vorgesehenen Einrichtung ausgestattet ist, wobei in seinem Griffbereich ein mit einer Kopplungseinrichtung versehenes Münzschloss angeordnet ist, das auf Pfandbasis ein gegenseitiges An- und Abkoppeln von Transportwagen mit oder ohne Inanspruchnahme einer Sammelstelle erlaubt,
dadurch gekennzeichnet,
dass das Münzschloss im Bereich eines der beiden Grifftragarme angeordnet ist und sich sowohl am Grifftragarm als auch am Griff abstützt."
Wegen der Patentansprüche 2 bis 6 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.
Die Klägerin macht mit ihrer Klage geltend, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der Anmeldung hinaus und sei deshalb für nichtig zu erklären.
Das BPatG hat die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Klageziel weiterverfolgt. Die Beklagte tritt der Berufung entgegen.
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dr.-Ing. H. ein schriftliches Gutachten erstellt, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist begründet. Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der Anmeldung hinaus (Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ, Art. 123 Abs. 2 EPÜ), liegt vor.
1. Das Streitpatent betrifft einen Transportwagen, wie er beispielsweise als Einkaufswagen in Supermärkten zum Einsatz kommt, wo er von Kunden auf Pfandbasis benutzt werden kann. Mehrere solcher Wagen können ineinandergeschoben und aneinandergekoppelt werden. Die Koppelungseinrichtung ist im Griffbereich des Wagens angeordnet und weist ein Münzschloss auf, in das die Pfandmünze eingesteckt werden kann. Damit betätigt der Kunde - meistens unter Verwendung einer Kette - eine Steckverbindung zum nächsten Wagen und kann einen Wagen von den übrigen trennen.
Die Lehre des Streitpatents befasst sich mit der Anordnung des Münzschlosses an einer geeigneten Stelle des Wagens.
Die Streitpatentschrift geht davon aus, dass es bei Wagensammel- und Ausleihsystemen durch die den Einkaufswagen eigentümliche Form nicht einfach sei, die Münzschlösser an geeigneten Stellen anzubringen, nämlich so, dass sowohl das Ineinanderschieben als auch die bequeme Handhabung des Einkaufswagens erhalten bleibe (Sp. 1 Z. 26-31).
Bei der Lösung nach der deutschen Offenlegungsschrift 25 54 916 bestehe die Schwierigkeit darin, dass das Münzschloss wegen seiner Größe teilweise in den Ladebereich des Korbs rage, so dass beim Beladen von der Griffseite des Einkaufswagens aus die Ware immer um das Münzschloss herum bewegt werden müsse (Sp. 1 Z. 31-39). Die in der deutschen Offenlegungsschrift 29 00 367 und dem deutschen Gebrauchsmuster 81 21 677 beschriebenen Münzschlösser seien kleiner und ließen sich am Griff des Einkaufswagens befestigen; es bestehe jedoch die Gefahr, dass sie entweder mit Absicht um die Griffachse verdreht würden oder dass sie sich im Laufe der Zeit lockerten und ihre Lage veränderten (Sp. 1 Z. 39-49). Die Münzschlösser nach Art des deutschen Gebrauchsmusters 81 21 677 würden mittig am Griff des Einkaufswagens angebracht und ragten dadurch bei einem mit einem Kindersitz ausgestatteten Wagen störend in diesen Kindersitz hinein (Sp. 1 Z. 49-53). Der Nachteil der in der deutschen Offenlegungsschrift 33 24 962 vorgeschlagenen Münzschlösser bestehe schließlich darin, dass diese außen an den Korbseitenwänden befestigt würden, was beispielsweise beim Passieren des engen Durchgangs an der Kasse zu Schwierigkeiten führen könne (Sp. 1 Z. 54-63).
Die Streitpatentschrift bezeichnet es als Aufgabe der Erfindung, die geschilderten Nachteile zu vermeiden und das Münzschloss so anzuordnen, dass es den für ein im Wagen mitzuführendes Kleinkind vorgesehenen Raum nicht verkleinere, dass das Be- und Entladen der zur Aufnahme der Ware vorgesehenen Einrichtung nicht behindert werde, dass es ferner nicht mutwillig in seiner Lage veränderbar sei und dass sich schließlich seine Lage im Laufe der Zeit nicht durch Gebrauchseinflüsse von selbst ändere (Sp. 1 Z. 64 - Sp. 2 Z. 8). Das Streitpatent schlägt dazu einen Transportwagen vor,
1. der in einen gleich gearteten Transportwagen einschiebbar und mit einer zur Aufnahme von Waren vorgesehenen Einrichtung ausgestattet ist,
2. wobei im Griffbereich des Transportwagens ein mit einer Kopplungseinrichtung versehenes Münzschloss angeordnet ist,
3. das auf Pfandbasis ein gegenseitiges An- und Abkoppeln von Transportwagen mit oder ohne Inanspruchnahme einer Sammelstelle erlaubt;
4. das Münzschloss ist
4.1 im Bereich eines der beiden Grifftragarme angeordnet und
4.2 stützt sich sowohl am Grifftragarm als auch am Griff ab.
Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung trifft keine näheren Aussagen dazu, wo das Münzschloss "im Bereich" der beiden Grifftragarme anzuordnen ist. Beansprucht ist daher nicht nur eine Anordnung des Münzschlosses oberhalb der beiden Grifftragarme, sondern jede beliebige Anordnung in deren Bereich, also auch auf gleicher Höhe oder unterhalb der Grifftragarme, sofern die Anordnung nur in räumlicher Nähe zu den Grifftragarmen erfolgt.
2. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents in der erteilten Fassung geht damit über den Inhalt der Anmeldung hinaus, denn Anordnungen in gleicher Höhe und unterhalb des Grifftragarms sind nicht Teil der Offenbarung der Anmeldung; die in den ursprünglichen Unterlagen offenbarte Lehre ist auf eine Anordnung des Schlosses unmittelbar oberhalb eines Griffarms beschränkt.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist durch die Anmeldung offenbart, was sich dem Fachmann des Betreffenden Gebietes der Technik ohne weiteres aus dem Gesamtinhalt der Unterlagen am Anmeldetag erschließt (so für die Rechtslage in Deutschland vor 1978, BGH v. 20.3.1990 - X ZB 10/88, BGHZ 111, 21 [26] = MDR 1990, 1001 - Crackkatalysator I, m.w.N.).
Zur Feststellung, ob der Nichtigkeitsgrund des Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 3 IntPatÜG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 Buchst. c EPÜ vorliegt, ist der Gegenstand des erteilten Patents mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Gegenstand des Patents ist die durch die Patentansprüche definierte Lehre. Der Inhalt der Patentanmeldung ist hingegen der Gesamtheit der Unterlagen zu entnehmen, ohne dass dabei den Patentansprüchen eine gleich hervorragende Bedeutung zukommt (BGH, Urt. v. 3.12.1991 - X ZR 101/89, MDR 1992, 764 = GRUR 1992, 157 [158 f.] - Frachtcontainer; Urt. v. 21.9.1993 - X ZR 50/91, Mitt. 1996, 204 [206] - Spielfahrbahn). Entscheidend ist, ob die ursprüngliche Offenbarung für den Fachmann erkennen ließ, der geänderte Lösungsvorschlag solle von vornherein vom Schutzbegehren umfasst werden.
Der Gegenstand der Anmeldung darf im Erteilungsverfahren bei der Aufstellung des Patentanspruchs daher anders formuliert beschränkt werden. Eine solche Änderung darf aber nicht zu einer Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung führen (BGH v. 23.1.1990 - X ZB 9/89, BGHZ 110, 123 [125 f.] = MDR 1990, 622 - Spleißkammer). Der Patentanspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet werden, von dem der Fachmann auf Grund der ursprünglichen Unterlagen nicht erkennen kann, dass die darin enthaltene Offenbarung von vornherein ihn als zur Erfindung gehörend erkennen ließ (BGH, Beschl. v. 5.10.2000 - X ZR 184/98, BGHReport 2001, 48 = GRUR 2001, 140 [141] - Zeittelegramm; Beschl. v. 11.9.2001 - X ZB 18/00, BGHReport 2002, 116 = GRUR 2002, 49 [51] - Drehmomentübertragungseinrichtung; vgl. ferner EPA - T 255/88, EPOR 1992, 87 - Befestigungsvorrichtung für Fassadenelemente; EPA - T 192/89, EPOR 1990, 287 - Dispositif d' homogénisation; EPA - T 270/89, EPOR 1991, 540 - Splash bar method). Eine solche Zuordnung ist für die im erteilten Patentanspruch bezeichnete Anordnung des Münzschlosses nicht zu erkennen.
In den Anmeldungsunterlagen wird die Aufgabe der Erfindung wie in der Streitpatentschrift angegeben. Zur Lösung dieser Aufgabe gibt die Anmeldung eine Anordnung eines wesentlichen Teils des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme an. Soweit die Beschreibung sich mit Angaben zur Lage des Schlosses befasst, sind der Anmeldung wiederum nur Hinweise zu einer Anordnung in dieser Weise zu entnehmen (S. 4 Z. 23 ff.), wobei sich die Einschränkung, dass die beschriebene Anordnung bevorzugt sei, zwanglos mit der Anordnung auf der S. des Wagens in Verbindung bringen lässt. Dem entspricht auch der in der Anmeldung formulierte Patentanspruch 1, wonach der Einkaufswagen allein dadurch gekennzeichnet sein soll, dass ein wesentlicher Teil des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme angeordnet ist. Hierzu wird in der Beschreibung ausgeführt, das Münzschloss werde in einem Bereich angeordnet, der nicht anderweitig bereits für die Funktion oder für das Bewegen des Einkaufswagens vonnöten sei (S. 3 Z. 5 ff.).
Der Senat folgt dem gerichtlichen Sachverständigen, soweit dieser ausgeführt hat, der Fachmann, bei dem es sich um einen Techniker mit Konstruktionserfahrungen handele, entnehme der Anmeldung, dass das Münzschloss im Bereich Grifftragarm/Griff anzuordnen ist, damit es sich sowohl an einem der beiden Grifftragarme als auch am Griff abstützen kann. Dies kommt in Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung durch Verwendung der Worte "im Bereich eines der beiden Grifftragarme" zum Ausdruck. Darin erschöpfen sich die Angaben in der Anmeldung über die erfindungsgemäße Anordnung des Münzschlosses jedoch nicht.
Denn solche Anordnungen, bei denen zwar eine solche Abstützung möglich ist, das Münzschloss sich jedoch in gleicher Höhe oder unter dem Grifftragarm befindet, entnahm der Fachmann nicht den Anmeldungsunterlagen. Diese geben nicht nur an, dass die Anordnung des Münzschlosses dadurch gekennzeichnet sei, dass ein wesentlicher Teil des Münzschlosses unmittelbar über einem der Grifftragarme angeordnet ist; allein ein solche Lage findet sich auch in sämtlichen Abbildungen. Neben dem Hinweis auf die Lösung der gestellten Aufgage durch eine Anordnung eines wesentlichen Teils des Münzschlosses unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme (S. 3 Z. 1-3), wird als besonderer Vorteil hervorgehoben, dass durch die Inanspruchnahme des seitlich über dem Griff befindlichen Raums zur Unterbringung des Münzschlosses der unter dem Griff befindliche Bereich zum Zwecke des Ineinanderschiebens mehrerer Einkaufswagen voll erhalten bleibt und das Be- und Entladen des Korbs nicht nachteilig beeinflusst wird (S. 3 Z. 22-29). Auch bei der Erläuterung der Zeichnungen wird an verschiedenen Stellen stets betont, dass der wesentliche Teil des Münzschlosses, so die Kopplungseinrichtung und die Geldeinwurf- und -ausgabeöffnung, sich über dem Grifftragarm befinden (S. 4 Z. 23-32; S. 7 Z. 1-5; S. 7 Z. 13-16). Soweit in der weiteren Beschreibung eine Anordnung "im Bereich" der Grifftragarme angesprochen wird, ist dem keine beliebige Lage im Verhältnis zu den Grifftragarmen zu entnehmen; es handelt sich hier jedoch um die Verwendung sprachlicher Alternativen zur Bezeichnung des gleichen Gegenstandes. Dass weiterhin eine unmittelbare Lage oberhalb des Grifftragarms gefordert wird, ergibt sich auf S. 5 Z. 20 etwa daraus, dass der angesprochene Schacht, der das eigentliche Münzschloss trägt, in seiner Kontur dem Grifftragarm angepasst wird und diesen bei der Befestigung des Schlosses aufnimmt. Bezug genommen wird in diesem Zusammenhang zudem jeweils auf die Abbildungen, die das Schloss allein in einer Lage unmittelbar oberhalb des Grifftragarms zeigen. Das gilt auch für die auf S. 8 angesprochenen Bereiche.
Der Fachmann hatte im Zeitpunkt der Anmeldung auch keine Veranlassung, diese Aussagen in den Anmeldungsunterlagen zu relativieren und die Anordnung des Münzschlosses mit einem wesentlichen Teil unmittelbar über einem der beiden Grifftragarme nur als eine mögliche Anordnung anzusehen. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend dargestellt hat, war angesichts der damaligen Größe der Münzschlösser, wie in den Zeichnungen der Anmeldung dargestellt, eine Behinderung beim Ineinanderschieben der Wagen die Folge, wenn eine andere Anordnung des Schlosses als im Wesentlichen über einem der Grifftragarme, insb. eine solche unterhalb eines der Grifftragarme, gewählt worden wäre. Danach war eine solche andere Anordnung nicht Teil der Offenbarung, wie sie in den Anmeldungsunterlagen Ausdruck gefunden hat. Sie war für den Fachmann aus der Anmeldung nicht zu entnehmen. Da sie von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung dagegen umfasst wird, ist dieser auf einen Gegenstand gerichtet, von dem der Fachmann auf Grund der ursprünglichen Offenbarung nicht erkennen konnte, dass er von vornherein vom Schutzbegehren umfasst sein sollte.
Daher geht der Gegenstand des Patentanspruchs 1 i.d.F. des Streitpatents über den Gegenstand der Anmeldung hinaus mit der Folge, dass das Streitpatent für nichtig zu erklären ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG i.V.m. § 91 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 1446719 |
BGHR 2006, 43 |
GRUR 2005, 1023 |
GRUR-Int. 2006, 156 |
Mitt. 2005, 552 |