Leitsatz (amtlich)
Zum enteignungsgleichen Eingriff in den Gewerbebetrieb eines Winzers durch ein auf Art. 2 VO (EWG) Nr. 315/93 gestütztes Vertriebsverbot für Traubenkernöl.
Normenkette
GG Art. 14; EWGV 315/93 Art. 2
Verfahrensgang
OLG Karlsruhe (Aktenzeichen 19 U 76/98) |
LG Freiburg i. Br. (Aktenzeichen 1 O 329/97) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers und die Anschlußrevision des beklagten Landes wird das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe – 19. Zivilsenat in Freiburg – vom 15. April 1999 aufgehoben, jedoch mit Ausnahme eines Betrages von 5.552,60 DM nebst Zinsen (vorgerichtliche Anwaltskosten), hinsichtlich dessen die Klage abgewiesen bleibt.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger ist Inhaber eines überregional bekannten Weinguts. Er vertrieb seit 1991 unter seinem Namen Traubenkernöl, das er aus Italien importierte, in Deutschland in Flaschen abfüllte und sodann an den Handel weiterlieferte. Mit Verfügung vom 22. September 1994 untersagte ihm das Landratsamt B.-H. als Untere Lebensmittelüberwachungsbehörde des beklagten Landes, gestützt auf Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 315/93 des Rates vom 8. Februar 1993 (ABl. Nr. L 37/1), Traubenkernöl weiterhin in Verkehr zu bringen. Außerdem wurde er verpflichtet, bereits im Verkehr befindliches Traubenkernöl zurückzunehmen und unschädlich zu beseitigen. Hinsichtlich der Untersagung des Inverkehrbringens wurde die sofortige Vollziehung angeordnet. Zur Begründung führte das Landratsamt aus, verschiedene Untersuchungen hätten in dem Traubenkernöl polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe, u.a. das krebserzeugende Benzo(a)pyren, in gesundheitlich und toxikologisch nicht vertretbaren Werten nachgewiesen.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und beantragte die Wiederherstellung von dessen aufschiebender Wirkung. Unter dem 22. November 1994 nahm der Kläger den Widerspruch und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit der Begründung zurück, daß der Hersteller des Traubenkernöls ein neues Verfahren entwickelt habe, bei dem die Belastung des Öls mit Benzo(a)pyren nicht mehr die vom Landratsamt beanstandete Menge erreiche.
Der Kläger ist der Auffassung, die Untersagungsverfügung sei mangels hinreichender Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen. Das Traubenkernöl sei gesundheitlich unbedenklich. Er erhebt wegen der ihm durch die Verfügung und deren Vollzug entstandenen Vermögenseinbußen, insbesondere Umsatzverluste, gegen das beklagte Land Ansprüche aus Amtspflichtverletzung und aus enteignungsgleichem Eingriff in Höhe eines Teilbetrages von 100.000 DM zuzüglich vorgerichtlicher Anwaltskosten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Klageforderung dem Grunde nach für berechtigt erklärt, soweit der Kläger Ersatzansprüche für Schäden geltend mache, die ihm durch die Untersagung des Vertriebs von Traubenkernöl mit Anordnung des Sofortvollzugs vom 22. September 1994 bis zur Rücknahme des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz entstanden seien. Wegen der weitergehenden Forderung des Klägers hat das Berufungsgericht die Berufung zurückgewiesen.
Gegen das Berufungsurteil hat der Kläger Revision eingelegt, mit der er die abgewiesene Mehrforderung weiterverfolgt. Das beklagte Land hat sich der Revision angeschlossen und begehrt volle Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Beide Rechtsmittel sind zulässig und führen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Aufhebung des Berufungsurteils und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Die Revision des Klägers:
1. Die Verfahrensrüge der Revision, daß das Berufungsurteil als Grundurteil über einen bloßen Teil des Streitgegenstandes prozessual unzulässig sei, greift nicht durch. Zwar trifft es zu, daß das Berufungsurteil kein reines Grundurteil ist, sondern ein Grund- und Teilurteil, letzteres insoweit, als die Klage abgewiesen geblieben ist. Der abgewiesene und der – möglicherweise – berechtigte Teil des ursprünglichen Streitgegenstandes sind hier indessen noch hinreichend voneinander abgegrenzt. Von einer weiteren Begründung für die Zurückweisung dieser Verfahrensrüge sieht der Senat ab (§ 565 a ZPO).
2. Das Berufungsgericht hat bei seiner zusprechenden Entscheidung ausschließlich einen Ersatzanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff bejaht und offengelassen, ob auch ein Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) besteht. Hiergegen wendet sich die Revision zu Recht. Das Berufungsgericht hat insoweit gegen den Grundsatz verstoßen, daß eine konkurrierende Anspruchsgrundlage nur dann (ausnahmsweise) unentschieden bleiben kann, wenn der festgestellte Klagegrund für die Höhe des gesamten eingeklagten Betrages ausreicht und dem anderen (nicht geprüften) Klagegrund daneben keine eigene Bedeutung zukommt. Die Klageforderung umfaßt einzelne Positionen, die nicht aus dem Gesichtspunkt des enteignungsgleichen Eingriffs, sondern nur aus demjenigen der Amtshaftung gerechtfertigt sein können, beispielsweise einen allgemeinen – nicht nach Maßgabe der im folgenden darzulegenden Grundsätze beschränkten – Anspruch auf entgangenen Gewinn und den Anspruch auf Ersatz vorprozessualer Anwaltskosten. Dies bedeutet, daß die Amtshaftung neben dem enteignungsgleichen Eingriff hier eine eigenständige Bedeutung bereits für den Anspruchsgrund hat. Damit verfehlt das Grundurteil seinen wesentlichen Zweck, eine echte Vorentscheidung des Prozesses herbeizuführen (vgl. in diesem Sinne BGH, Urteil vom 13. Mai 1980 – VI ZR 276/78 = VersR 1980, 867, 868).
3. Dieser Verfahrensfehler ist hier im Ergebnis jedoch unschädlich. Denn ein Amtshaftungsanspruch steht dem Kläger nicht zu; dies kann der Senat auf der Grundlage der in den Vorinstanzen getroffenen tatrichterlichen Feststellungen selbst entscheiden. Dieser Anspruch scheitert jedenfalls daran, daß die Bediensteten des Landratsamts bei Erlaß des Bescheides vom 22. September 1994 nicht schuldhaft gehandelt haben.
a) Nachdem eine Zivilkammer (nicht der Einzelrichter) des Landgerichts jenen Bescheid für objektiv rechtmäßig gehalten und mithin bereits den Tatbestand einer Amtspflichtverletzung verneint hat, ist zugunsten des beklagten Landes die „Kollegialgerichts-Richtlinie” anwendbar, die besagt, daß einen Beamten in der Regel kein Verschulden trifft, wenn ein mit mehreren Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat (vgl. Senatsurteil vom 2. April 1998 – III ZR 111/97 = NVwZ 1998, 878 m.w.N.).
b) Die Richtlinie beruht auf der Erwägung, daß von einem Beamten eine bessere Rechtseinsicht als von einem mit mehreren Rechtskundigen besetzten Kollegialgericht regelmäßig nicht erwartet und verlangt werden kann. Dies rechtfertigt allerdings eine Verneinung des Verschuldens nur in denjenigen Fällen, in denen das Kollegialgericht die Rechtmäßigkeit der Amtstätigkeit nach sorgfältiger Prüfung bejaht hat. Der Senat hat daher Ausnahmen von dieser allgemeinen Richtlinie in solchen Fällen zugelassen, in denen die Annahme des Kollegialgerichts, die Amtshandlung sei rechtmäßig gewesen, auf einer unzureichenden tatsächlichen oder rechtlichen Beurteilungsgrundlage beruhte, etwa deshalb, weil das Gericht sich bereits in seinem Ausgangspunkt von einer sachlich verfehlten Betrachtungsweise nicht hat freimachen können oder weil es infolge unzureichender Tatsachenfeststellung von einem anderen Sachverhalt als dem, vor den der Beamte gestellt war, ausgegangen ist oder den festgestellten Sachverhalt nicht sorgfältig und erschöpfend gewürdigt hat (Senatsurteil aaO m.w.N.).
c) Im vorliegenden Fall liegt kein Grund vor, der ein Abweichen von der Richtlinie rechtfertigt. Das Landgericht hat die Rechtsauffassung des Landratsamts gebilligt, daß die Verfügung in Art. 2 VO (EWG) Nr. 315/93 eine hinreichende Rechtsgrundlage finde. Der Umstand, daß das Landgericht dabei – anders als das Berufungsgericht – nicht zwischen der Untersagung des Inverkehrbringens als solcher und der Anordnung des Sofortvollzugs unterschieden hat, läßt nicht den Rückschluß zu, daß es den Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt hat. Es hat vielmehr hinreichend zum Ausdruck gebracht, daß es die behördliche Entscheidung in ihrer Gesamtheit inhaltlich billigen wollte. Deshalb kommt hier der für die Anwendbarkeit der Kollegialgericht-Richtlinie tragende Grundsatz (s. oben) zur Anwendung, daß man bessere Erkenntnisse auch von den Amtsträgern selbst nicht erwarten konnte.
4. Jedoch kommt hier – wie das Berufungsgericht im rechtlichen Ansatz zutreffend sieht – wegen des Bescheides vom 22. September 1994 unter der Voraussetzung, daß dieser objektiv rechtswidrig gewesen ist, ein Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs in Betracht.
a) Dieser Anspruch setzt voraus, daß von hoher Hand in eine durch Art. 14 GG (eigentumsmäßig) geschützte Rechtsposition unmittelbar eingegriffen wird, daß also die rechtswidrige hoheitliche Maßnahme unmittelbar eine Beeinträchtigung des Eigentums herbeiführt und dem Betroffenen dadurch ein besonderes, anderen nicht zugemutetes Opfer für die Allgemeinheit abverlangt wird (st. Rspr., vgl. Senatsurteil BGHZ 111, 349, 355 „Kakaoverordnung” m.w.N.).
b) Als eigentumsmäßig geschützte Rechtsposition kommt hier nicht nur das Eigentum des Klägers an dem bereits importierten, in seinem Besitz befindlichen Traubenkernöl, sondern auch sein eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb als solcher in Betracht. Letzteres gilt zwar nicht, soweit durch die Verbotsverfügung lediglich die Chance vereitelt wurde, weiterhin Traubenkernöl aus Italien zu importieren. Insoweit geht es nämlich lediglich um das Vorenthalten der Möglichkeit, in einer bestimmten Weise Gewinn zu erzielen; diese Beeinträchtigung einer bloßen Chance hat an dem eigentumsmäßigen Schutz der personellen und gegenständlichen Grundlagen des Gewerbebetriebs keinen Anteil. Sie betrifft lediglich den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG, nicht dagegen denjenigen des Art. 14 Abs. 1 GG (Senatsurteil aaO S. 357/358; vgl. in diesem Sinne ferner Senatsurteil BGHZ 134, 30, 33 „Brasserie du Pêcheur”). Anders verhält es sich indessen hinsichtlich derjenigen Bestände an Traubenkernöl, die bereits in den Gewerbebetrieb des Klägers einbezogen waren und damit zu dessen eigentumsrechtlich geschützter „Substanz” gehörten. Insbesondere betraf dies die vom Kläger durch Lieferung an seine Abnehmer bereits vermarktete Ware. Insoweit ging es nicht nur um die Vereitelung künftiger Gewinnchancen, sondern um bereits erwirtschaftete Gewinne, die zum „Erworbenen” im Sinne der Grundsätze des Senatsurteils BGHZ 111, 349, 357 zählten. Dies bedeutet, daß nicht nur die Kosten der Rückrufaktion selbst, sondern auch die Rückgängigmachung etwaiger aus dem Verkauf bereits erzielter Gewinne in den Schutzbereich der Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs fallen konnten.
5. Das Berufungsgericht hat die Klage dem Grunde nach für berechtigt gehalten, soweit der Kläger Ersatzansprüche für Schäden geltend mache, die ihm durch die Untersagung des Vertriebs von Traubenkernöl mit Anordnung des Sofortvollzuges vom 22. September 1994 bis zur Rücknahme des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz (sc. 22. November 1994) entstanden seien. Die Abweisung im übrigen, die den weitaus überwiegenden Teil der Klageforderung ausmacht, hat es damit begründet, daß der Kläger es insoweit schuldhaft versäumt habe, den Schaden durch Einlegung eines Rechtsmittels abzuwenden.
a) Schon das Landgericht hat die Klageabweisung auch auf diesen Gesichtspunkt gestützt. Dagegen hatte der Kläger in seiner Berufungsbegründung vorgetragen und unter Zeugenbeweis gestellt, daß infolge des Erlasses des Vertriebsverbotes und der – unstreitigen – Verbreitung dieser Tatsache über die Medien die Handelsunternehmen, welche noch Traubenkernöl des Klägers in ihren Verkaufsregalen oder Lagern hatten, verlangten, daß er das Traubenkernöl zurücknehme, weil die Kunden kein Traubenkernöl mehr kaufen wollten und allein die Aufstellung in den Verkaufsregalen zum Anlaß genommen hatten, auch gegenüber anderen Angeboten und Produkten des Klägers Bedenken anzumelden. Auf dieses Vorbringen geht das Berufungsurteil nicht ausdrücklich ein; die hiergegen erhobenen Rügen der Revision sind berechtigt.
b) Zumindest nach dem im Revisionsrechtszug zugrunde zu legenden Vorbringen des Klägers muß nämlich davon ausgegangen werden, daß die durch die Publizierung des Vertriebsverbotes ausgelöste Reaktion der Kunden auch durch Weiterverfolgung der vom Kläger eingelegten Rechtsbehelfe nicht abwendbar gewesen wäre. Ein Totalverlust des Entschädigungsanspruchs in entsprechender Anwendung des § 254 BGB (vgl. dazu Senatsurteil BGHZ 113, 17, 22 f m.w.N.) kann daher nicht stattfinden.
6. Die Entscheidung hängt mithin davon ab, ob der Bescheid vom 22. September 1994 insgesamt rechtswidrig oder rechtmäßig gewesen ist.
a) Das Berufungsgericht erblickt den Tatbestand des enteignungsgleichen Eingriffs in der Untersagung des Vertriebs von Traubenkernöl mit Anordnung des Sofortvollzugs. Der Senat versteht das Berufungsurteil in dem Sinn, daß nur und erst die Anordnung des Sofortvollzuges eine Überschreitung der Rechtswidrigkeitsgrenze bewirkt habe, während die Maßnahmen im übrigen (insbesondere das Verbot des Inverkehrbringens) zumindest vertretbar gewesen seien. Die Revision des Klägers rügt indessen zu Recht, daß es insoweit – also hinsichtlich der die überwiegende Klageabweisung tragenden Annahme, die in der Verfügung getroffenen Maßnahmen seien bis auf die Anordnung des Sofortvollzugs rechtmäßig gewesen – an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt.
b) Wegen der in dem Bescheid angeordneten Verpflichtung des Klägers, bereits im Verkehr befindliches Traubenkernöl zurückzunehmen und unschädlich zu beseitigen, greift diese Revisionsrüge schon deswegen durch, weil das Berufungsgericht – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – insoweit jegliche Feststellungen unterlassen hat.
c) Hinsichtlich der Untersagung, Traubenkernöl weiterhin in Verkehr zu bringen, unterscheidet das Berufungsgericht wie folgt:
aa) Es ist der Auffassung, die Untersagungsverfügung habe nicht auf Art. 2 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 315/93 gestützt werden können, da das Traubenkernöl des Klägers keine Kontaminanten in einer gesundheitlich und insbesondere toxikologisch nicht vertretbaren Menge enthalte. Dieser Beurteilung liegt der zutreffende rechtliche Ausgangspunkt zugrunde, daß die Verordnung unmittelbar verbindlich ist (Art. 9 Abs. 2) und daher eine geeignete Grundlage für ein Einschreiten der Lebensmittelüberwachung bietet. Allein in Betracht kommender Prüfungsmaßstab ist dabei im vorliegenden Fall die toxikologische Vertretbarkeit als der Hauptanwendungsbereich der Verordnung. Die Feststellungen des Berufungsgerichts, daß das Traubenkernöl nicht gesundheitsgefährdend ist, sind – entgegen den Ausführungen des beklagten Landes in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat – auch in tatsächlicher Hinsicht revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
bb) Die alleinige Grundlage für die Untersagungsverfügung erblickt das Berufungsgericht vielmehr in Art. 2 Abs. 2 der genannten Verordnung. Danach sind die Kontaminanten ferner auf so niedrige Werte zu begrenzen, wie sie durch gute Praxis auf allen in Art. 1 genannten Stufen sinnvoll erreicht werden können. In der Präambel zu der Verordnung ist dazu ergänzend folgendes ausgeführt:
„Kontaminanten können auf jeder Stufe von der Herstellung bis zum Verbrauch in die Lebensmittel gelangen.
Für den Schutz der öffentlichen Gesundheit ist es erforderlich, diese Kontaminanten in toxikologisch vertretbaren Grenzen zu halten.
In allen Fällen, in denen durch die gute Fachpraxis noch niedrigere Werte erreicht werden können, sind diese neuen Werte zu beachten. Angesichts der fachlichen Ausbildung und der Erfahrung ihrer Beauftragten können die Behörden die Übereinstimmung mit dieser guten Praxis wirksam überprüfen.”
Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß die „gute Praxis” darauf hinausläuft, Werte zu erreichen, die noch niedriger sind als die gesundheitlich und toxikologisch gerade noch vertretbaren Mengen im Sinne des Art. 2 Abs. 1. Der entscheidenden Frage, ob das in der Verfügung angeordnete Verbot, Traubenkernöl weiterhin in den Verkehr zu bringen, und die weitere Verpflichtung, bereits im Verkehr befindliches Öl zurückzunehmen, diesen Anforderungen genügen, ist das Berufungsgericht indessen im Ergebnis ausgewichen, indem es für die Rechtswidrigkeit allein auf die Anordnung des Sofortvollzuges abgestellt hat. Es hat ausgeführt, es sei nicht geboten gewesen, mit dem einschneidenden Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb des Klägers durch das sofort durchzusetzende Vertriebsverbot durch die Behörde zu reagieren; vielmehr wäre es ausreichend gewesen, eventuell ein Vertriebsverbot mit der Festlegung einer Höchstbelastungsgrenze an Benzo(a)pyren zu erlassen, dessen Rechtmäßigkeit dann im Verwaltungsstreitverfahren zu entscheiden gewesen wäre. Damit bleibt – wie die Revision mit Recht beanstandet – die Frage der Rechtmäßigkeit des Vertriebsverbotes letztlich in der Schwebe. Auch der erkennende Senat sieht sich außerstande, diese Frage aufgrund der getroffenen Tatsachenfeststellungen abschließend zu entscheiden. Insoweit bedürfen die Standards der – anzustrebenden oder bereits erreichten – „guten Praxis” weiterer tatrichterlicher Klärung, gegebenenfalls mit Hilfe sachverständiger Beratung. Von Bedeutung kann insoweit die Auffassung der Fachkreise sein, wie sie in anderen Bereichen etwa in den anerkannten Regeln des Standes der Technik ihren Ausdruck gefunden hat. Da es insoweit bisher an hinreichenden Feststellungen fehlt, kann die klageabweisende Entscheidung des Berufungsgerichts nicht bestehen bleiben.
II. Die Anschlußrevision des beklagten Landes:
Der Erfolg der Anschlußrevision liegt darin, daß die Feststellung des Tatbestandes eines enteignungsgleichen Eingriffs auch insoweit nicht bestehenbleiben kann, als sie allein auf der Anordnung des Sofortvollzuges beruht. Führt die nach den vorstehenden Darlegungen vorzunehmende erneute Prüfung nämlich zu dem Ergebnis, daß die Anordnung des Vertriebsverbotes selbst rechtmäßig gewesen ist, so stellt sich die weitere Frage, ob die Eigentumspositionen, in die durch den Sofortvollzug eingegriffen worden ist, überhaupt noch den Schutz des Grundgesetzes verdienten. Bei Positionen, die nur durch Verstoß gegen materielles EG-Recht realisiert werden konnten, wäre dies nicht der Fall.
III. Ergebnis:
Das Berufungsurteil kann nach alledem im wesentlichen keinen Bestand haben. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, die Frage der Rechtmäßigkeit erneut zu prüfen und sodann erforderlichenfalls weiter zu klären, inwieweit die einzelnen Schadenspositionen in den Schutzbereich der Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs fallen. Entscheidungsreif ist dagegen der Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten: Da dieser seine alleinige Grundlage ausschließlich in der Amtshaftung finden kann, hatte es insoweit bei der Klageabweisung zu verbleiben.
Unterschriften
Rinne, Wurm, Kapsa, Dörr, Galke
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 13.07.2000 durch Riegel Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 538750 |
BGHR |
NVwZ-RR 2000, 744 |
Nachschlagewerk BGH |
WM 2000, 2016 |
AgrarR 2001, 25 |
RdL 2000, 267 |
LMuR 2001, 84 |