Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwaltshaftung
Leitsatz (amtlich)
Zur Führung des Gegenbeweises gegen die Richtigkeit des Eingangsstempels bei Einwurf eines Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten des Gerichts.
Normenkette
ZPO § 418 Abs. 2, § 85 Abs. 2, §§ 233-234, 519
Verfahrensgang
OLG Zweibrücken (Aktenzeichen 8 U 11/99) |
LG Kaiserslautern (Aktenzeichen 2 O 506/98) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 15. Juni 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagten mit der Begründung auf Schadensersatz in Anspruch, sie hätten als von ihm beauftragte Rechtsanwälte im Jahre 1984 verspätet Widerspruch gegen einen Umlegungsbeschluß eingelegt und es sodann versäumt, einen aussichtsreichen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger – rechtzeitig – Berufung eingelegt. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 22. März 1999 hat er mit einem Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten von diesem Tage die Berufung begründet. Der Eingangsstempel des Oberlandesgerichts enthält folgenden Vermerk: „Dem Nachtbriefkasten entnommen am 23. März 99. … Eingegangen nach 24.00 Uhr des 22. März 1999”. Nach einem schriftlichen, beim Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 25. März 1999 eingegangenen Hinweis der Senatsvorsitzenden auf jenes Eingangsdatum hat der Kläger vorgetragen, sein Prozeßbevollmächtigter habe am 22. März 1999 zusammen mit dessen Mitarbeiterin bis etwa 22.30 Uhr an dem Schriftsatz gearbeitet. Die Mitarbeiterin habe in Anwesenheit des Prozeßbevollmächtigten um 22.50 Uhr die Kanzlei verlassen und sei mit dem Schriftsatz zum 300 m entfernten Oberlandesgericht gefahren, wo sie ihn zusammen mit einem weiteren Schriftsatz – dieser enthält einen gleichlautenden Eingangsstempel – in den Nachtbriefkasten eingeworfen habe. Gleichzeitig hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Glaubhaftmachung seines Vorbringens hat er eidesstattliche Versicherungen seines Prozeßbevollmächtigten und von dessen Mitarbeiterin S. sowie der Buchhalterin C.-K. vorgelegt. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich dessen Revision.
Entscheidungsgründe
Die nach § 547 ZPO zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat sich vom rechtzeitigen Eingang der Berufungsbegründung nicht überzeugen können. Es hat dazu ausgeführt, eine Auskunft des Justizobersekretärs B. habe ergeben, daß dieser am Morgen des 23. März 1999 bei der Entnahme der Post aus dem Nachtbriefkasten keinen Fehler gemacht habe. B. habe sich noch konkret daran erinnert, daß sich an jenem Morgen Post sowohl in dem Fach für den Einwurf vor 24.00 Uhr als auch in demjenigen für die Zeit danach befunden habe. Für die allgemeine Mutmaßung des Klägers, das Personal bei Gericht sei nicht immer das zuverlässigste, gebe es keine konkrete Grundlage. Durch die vom Kläger vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen sei der durch den Eingangsstempel begründete Beweis für den Eingangszeitpunkt nicht widerlegt. Die Kanzleimitarbeiterin S. habe nicht näher und nachvollziehbar begründet, warum sie zu der Überzeugung gelangt sein will, daß sie die Post noch lange vor Mitternacht eingeworfen habe. Der Hinweis (der Buchhalterin C.-K.) auf die in den Kanzleiräumen hängende große Wanduhr überzeuge nicht, weil nach der Darstellung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers diese Uhr am nächsten Tag wegen leerer Batterien ausgefallen sei. Der Prozeßbevollmächtigte selbst habe es zunächst für möglich gehalten, daß die Uhr schon am Abend des 22. März 1999 langsamer gelaufen sei. Die Angabe der Frau C.-K., sie habe sich, nachdem sich Frau S. – gegen 22.45 Uhr – entfernt habe, noch eine gute Stunde in den Kanzleiräumen aufgehalten und sodann noch vor Mitternacht an einem Geldautomaten Geld abgehoben, könne nicht richtig sein, wenn man berücksichtige, daß sie noch den Weg zu dem Geldautomaten habe zurücklegen müssen. Sie und der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hätten im übrigen weder mitgeteilt, wo sich der Geldautomat befinde, noch über die Abhebung irgendwelche Belege vorgelegt.
II.
Diese Beweiswürdigung greift die Revision mit Erfolg als verfahrensfehlerhaft an.
1. Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Berufung verspätet begründet worden ist.
a) Die rechtzeitige Begründung einer Berufung ist Voraussetzung für deren Zulässigkeit. Ob die Berufung zulässig ist oder nicht, haben sowohl das Berufungs- wie auch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (BGH, Beschl. v. 27. November 1996 - XII ZB 177/96, NJW 1997, 1312). Der gerichtliche Eingangsstempel ist, wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO und erbringt den Beweis für den Zeitpunkt des Eingangs und nicht nur, wie die Revision meint, dafür, daß der Schriftsatz der Person, die den Stempel angebracht hat, zu dem darin angegebenen Zeitpunkt vorgelegen hat. Dieser Beweis kann jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO durch den Nachweis der Unrichtigkeit des im Eingangsstempel ausgewiesenen Zeitpunkts entkräftet werden. Dabei genügt freilich nicht bloße Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO; die Rechtzeitigkeit des Eingangs muß zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden, wobei der sogenannte Freibeweis gilt (vgl. zu alledem BGH, Beschl. v. 30. Oktober 1997 - VII ZB 19/97, NJW 1998, 461).
b) Die bloße, in aller Regel nicht völlig auszuschließende Möglichkeit, daß ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht richtig funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, reicht zur Führung des Gegenbeweises nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht aus. Auf der anderen Seite dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei die Anforderungen an den Gegenbeweis nicht überspannt werden. Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (BGH, Urt. v. 31. Mai 1995 - XII ZR 206/94, VersR 1995, 1467, 1468; Zöller/Geimer, ZPO 21. Aufl. § 418 Rdnr. 4). Dem ist das Berufungsgericht insofern nachgekommen, als es eine Stellungnahme des Justizbeamten eingeholt hat, der offenbar am Morgen des 23. März 1999 für die Leerung des Nachtbriefkastens und die Abstempelung der darin befindlichen Schriftstücke zuständig war. Indessen reichte es, wie die Revision zu Recht rügt, nicht aus, sich mit dessen Bestätigung zufrieden zu geben, er habe „einen Fehler nicht gemacht” und könne sich konkret daran erinnern, daß damals in beiden Fächern des Nachtbriefkastens Post gelegen habe. Den Ausführungen des Berufungsgerichts läßt sich nicht entnehmen, ob es Kenntnis von der allgemeinen Funktionsweise des Nachtbriefkastens hatte; es hätte sich darüber informieren müssen, ob und gegebenenfalls welche Fehlerquellen vorhanden sind, ob es schon zu Störungen gekommen war und ob es etwa insbesondere weitere Störfälle in der Nacht vom 22. zum 23. März 1999 gegeben hat (vgl. BGH, Beschl. v. 30. Oktober 1997 aaO S. 461 f). Auch der Frage, wie die Leerung des Nachtbriefkastens im allgemeinen vor sich zu gehen pflegt und ob es Besonderheiten am Morgen des 23. März 1999 gegeben hat, hätte nachgegangen werden müssen. Dabei wäre – auch darauf weist die Revision mit Recht hin – aufzuklären gewesen, wie es kommt, daß die beiden Datumsstempel auf dem Schriftsatz vom 22. März 1999 ebenso wie auf dem weiteren, gleichzeitig in den Nachtbriefkasten eingeworfenen Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Klägers in anderer Sache sich darin unterscheiden, daß jeweils der eine die Jahreszahl nur in der abgekürzten Form „99” ausweist. Schließlich fällt auf, daß die Stempel auf den beiden Schriftsätzen vom 22. März 1999 anders als spätere über den Nachtbriefkasten eingegangene Schriftsätze des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 19. Mai, 21. Mai und 11. Juni 1999 (GA 145, 149, 153, 162) offenbar nicht mit der Paraphe des nach den Ermittlungen des Berufungsgerichts für die Leerung am 23. März 1999 zuständigen Justizobersekretärs B. versehen sind.
c) Erst nach Aufklärung dieser Umstände wird es möglich sein, die Äußerungen des Prozeßbevollmächtigten des Klägers und seiner Mitarbeiterinnen abschließend zu würdigen. Dabei hält es der Senat für angezeigt, diese Personen als Zeugen zu vernehmen. Der Kläger hat inzwischen in einem nach Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nachgereichten Schriftsatz die Vernehmung der Zeuginnen S. und C.-K. auch beantragt.
2. Sollte sich nach der somit erforderlichen weiteren Beweisaufnahme ergeben, daß der Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht geführt ist, so käme auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Zwar ist es grundsätzlich zulässig, für den Fall, daß der Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht gelingt, Wiedereinsetzung mit der Begründung zu beantragen, daß die Partei und ihren Prozeßbevollmächtigen kein Verschulden an der Fristversäumung treffe (BGH, Beschl. v. 27. November 1996 aaO S. 1313). Nach der Darstellung des Klägers hat hier jedoch sein Prozeßbevollmächtigter das Hinausgehen des Schriftsatzes bis zu dem Zeitpunkt, in dem seine Angestellte mit diesem die Kanzleiräume verließ, persönlich überwacht. Daß erst danach der alsbaldige Einwurf des Schriftstücks in den Briefkasten durch irgendein nunmehr eingetretenes Ereignis verzögert worden wäre, hat der Kläger nicht nur nicht behauptet, sondern gerade in Abrede gestellt. Wenn gleichwohl ein verspäteter Einwurf als bewiesen anzusehen sein sollte, könnte das hiernach nur daran liegen, daß der Schriftsatz zu spät aus dem Machtbereich des Prozeßbevollmächtigten herausgelangt ist; das wäre nach dem vom Kläger geschilderten Geschehensablauf nicht ohne ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten denkbar.
III.
Der Senat sieht wegen der größeren Orts- und Sachnähe des Berufungsgerichts von eigenen Beweiserhebungen ab und verweist die Sache an dieses zurück, damit zur Frage der Rechtzeitigkeit des Eingangs der Berufungsbegründung die noch erforderlichen Feststellungen getroffen werden können.
Unterschriften
Paulusch, Kreft, Stodolkowitz, Kirchhof, Fischer
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 30.03.2000 durch Preuß Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 539296 |
BB 2000, 1165 |
DStZ 2000, 536 |
HFR 2000, 852 |
NJW 2000, 1872 |
EBE/BGH 2000, 146 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 2000, 899 |
VersR 2000, 868 |