Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers vom 7. Mai 2006 gegen die Verbotsverfügung des Antragsgegners vom 24. Mai 2006 – VL 1.3 – 57.02.01 – 20/06 – betreffend die Versammlung des Antragstellers vom 10. Juni 2006 in Gelsenkirchen
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 08.06.2006; Aktenzeichen 5 B 839/06) |
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Beschwerdeführers vom 27. Mai 2006 gegen die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Gelsenkirchen vom 24. Mai 2006 – VL 1.3 – 57.02.01 – 20/06 – wird wiederhergestellt.
Tatbestand
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
A.
1. Am 5. Februar 2006 meldete der Beschwerdeführer für den 10. Juni 2006 einen Aufzug mit Kundgebung in Gelsenkirchen unter dem Motto an: „Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre”. Mit Verfügung vom 24. Mai 2006 verbot das Polizeipräsidium in Gelsenkirchen – der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens – die Durchführung dieser Veranstaltung und ordnete mit weiterer Verfügung vom 30. Mai 2006 die sofortige Vollziehung des Verbots an. Die Versammlung gefährde die öffentliche Sicherheit, da eine Durchführung von Versammlungen von Rechtsextremisten während der am 9. Juni 2006 beginnenden Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft eine nachhaltige Schädigung des Ansehens der Bundesrepublik im Ausland bewirke, der durch mildere Mittel als ein Verbot der angemeldeten Versammlung nicht entgegen getreten werden könne. Der Beschwerdeführer ziele zudem darauf ab, gegen die Durchführung der Versammlung gerichtete Ausschreitungen der autonomen Szene und gewaltbereiter ausländischer Fußballanhänger (Hooligans) zu provozieren und könne daher als Zweckveranlasser dieser drohenden Gewalttätigkeiten in Anspruch genommen werden.
2. Der Beschwerdeführer erhob gegen die Verbotsverfügung Widerspruch und stellte bei dem Verwaltungsgericht einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Diesem Antrag gab das Verwaltungsgericht statt und führte insbesondere aus, dass die von dem Antragsgegner befürchtete nachhaltige Schädigung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland das verfügte Verbot nicht trage und eine Inanspruchnahme des Beschwerdeführers als Zweckveranlasser ausscheide.
3. Auf Beschwerde des Antragsgegners wies das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab. Die Verbotsverfügung des Antragsgegners sei bei summarischer Prüfung rechtmäßig. Von der Versammlung gehe eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aus. In tatsächlicher Hinsicht stützt das Oberverwaltungsgericht diese Einschätzung auf Ausführungen in einem von dem Antragsgegner am 6. Juni 2006 vorgelegten Schreiben des italienischen Ministeriums des Inneren an österreichische und deutsche Sicherheitsbehörden vom 9. Mai 2006. Das Schreiben berichtet von einem Treffen rechtsextremistischer Kreise aus verschiedenen Staaten am 22. März 2006 in Rieg, Österreich. Die maßgeblichen Ausführungen im Schreiben lauten:
Während des Treffens sprach man über die Möglichkeit Zusammenstöße und Unfälle zu planen, besonders bei der Gelegenheit der Demonstration, die am 10.6.2006 in Gelsenkirchen (BRD) stattfinden wird, über das Thema „Soziale Gerechtigkeit schaffen – Arbeitsplätze statt Globalisierung”.
Schließlich, um die Kontrolle und den Eingriff der deutschen Sicherheitsbehörde bei der Gelegenheit der Fußball-WM zu vermeiden, haben die Fan-Clubs, die „NPD-Jungen Nationaldemokraten” und die anderen extremistischen Organisationen entschieden, seine Initiativen während der WM mit kurzer Vorankündigung und unter „Deckungs-Namen” bekannt zu machen.
Die aus dem Schreiben ersichtlich werdenden Gefahren seien dem Beschwerdeführer zuzurechnen. Die mit dem Beschwerdeführer verbundene Organisation „NPD Junge Nationaldemokraten” sei an dieser Absprache beteiligt gewesen. Zudem unterhielten Personen aus dem Umkreis der Leitungsebene des Beschwerdeführers enge Kontakte zu Personen, die ihrerseits mit der regionalen und überregionalen rechtsextremistischen Szene und diesen nahe stehenden gewaltbereiten Fußballanhängern verbunden seien. Angesichts der mit der Situation der Fußball-Weltmeisterschaft verbundenen außergewöhnlichen Gefährdungslage stelle es überspannte Anforderungen an den Antragsgegner, wolle man von ihm eine weitere Konkretisierung der Verbindungen des Beschwerdeführers verlangen, als sie sich aus dem Schreiben des italienischen Innenministeriums ergebe.
4. Der Beschwerdeführer hat Verfassungsbeschwerde erhoben und gleichzeitig beantragt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 27. Mai 2006 gegen die Verbotsverfügung des Antragsgegners vom 24. Mai 2006 wiederherzustellen. Der Beschwerdeführer macht geltend, die angegriffene Verfügung sowie die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts seien rechtswidrig und verletzten ihn in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG.
Entscheidungsgründe
B.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
I.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
Im Eilrechtsschutzverfahren sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn – wie hier – aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 ≪152 f.≫).
2. Im Zuge der anzustellenden Folgenabwägung ist es für das Bundesverfassungsgericht regelmäßig ausgeschlossen, in eine eigenständige Ermittlung und Würdigung des dem Eilrechtsschutzbegehren zugrunde liegenden Sachverhalts einzutreten.
a) In Fällen dieser Art hat das Bundesverfassungsgericht seiner Abwägung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde zu legen (vgl. BVerfGE 34, 211 ≪216≫; 36, 37 ≪40≫; BVerfGK 3, 97 ≪99≫). Anderes gilt jedoch, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam sind oder die angestellte Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt (vgl. BVerfGK 3, 97 ≪99≫). Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn die Gefahrenprognose auf Umstände gestützt wird, deren Berücksichtigung dem Schutzgehalt des Art. 8 GG offensichtlich widerspricht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3054≫; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, NVwZ 2000, S. 1406 ≪1407≫; stRspr).
b) aa) Ist das Verbot der Versammlung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestützt (§ 15 VersG), erfordert die von der Behörde oder den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪353 f.≫; 87, 399 ≪409≫). Das Bundesverfassungsgericht prüft im Eilverfahren zwar regelmäßig nicht, ob die vorgebrachten Anhaltspunkte tatsächlich vorliegen, hat aber im Rahmen der Folgenabwägung zu berücksichtigen, ob die für die Beurteilung der Gefahrenlage herangezogenen Tatsachen unter Berücksichtigung des Schutzgehalts des Art. 8 GG in nachvollziehbarer Weise auf eine unmittelbare Gefahr hindeuten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 8/01 –, NJW 2001, S. 1407 ≪1408 f.≫). Bedeutsam für die Folgenabwägung kann auch werden, ob die Einschätzung der Erforderlichkeit einer Maßnahme durch die sach- und ortsnahe Fachbehörde oder das erstinstanzliche Gericht durch das Rechtsmittelgericht bestätigt worden ist oder ob bereits die mangelnde Übereinstimmung zwischen Versammlungsbehörde und den Gerichten bei der Gefahrenbeurteilung auf besondere Unsicherheiten der Prognose hinweist.
bb) Gibt es neben Anhaltspunkten für die von der Behörde oder den Gerichten zugrunde gelegte Gefahrenprognose auch Gegenindizien, so haben sich die Behörde und Gerichte auch mit diesen in einer den Grundrechtsschutz hinreichend berücksichtigenden Weise auseinander zu setzen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3055≫ sowie vom 11. April 2002 – 1 BvQ 12/02 –, NVwZ-RR 2002, S. 500). Hierbei haben die Behörde und die Gerichte insbesondere zu beachten, dass die materielle Feststellungs- und Beweislast für die das Verbot rechtfertigenden Umstände bei der Verwaltung liegt. Eine Obliegenheit des Veranstalters, sich von gegen ihn ohne zureichende Konkretisierung erhobenen Vorwürfen zu entlasten, wäre mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 – 1 BvR 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 ≪2070≫).
c) Nach diesem Maßstab tragen – wie das Verwaltungsgericht näher dargelegt hat – die von der Versammlungsbehörde aufgezeigten Gesichtspunkte vorliegend das Versammlungsverbot und die Anordnung seiner sofortigen Vollziehung nicht. Gleiches gilt für die vom Oberverwaltungsgericht abweichend von den Darlegungen der Versammlungsbehörde zur Begründung seiner Entscheidung herangezogenen Gesichtspunkte.
aa) Soweit die Versammlungsbehörde die Verbotsverfügung auf die Prognose einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch eine drohende Störung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland gestützt hat, ist von dem Verwaltungsgericht dargelegt worden, dass diese Annahme die Verbotsverfügung nicht trägt. Das Oberverwaltungsgericht ist dieser Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht entgegen getreten.
Das Verwaltungsgericht hat offen gelassen, wie bisher auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Prüfung einer Verletzung der öffentlichen Ordnung (Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001, NJW 2001, S. 2069 ≪2071≫), ob das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland ein eigenständiges Schutzgut im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG darstellt. Es hat unter anderem ausgeführt, dass sich ein versammlungsrechtlich tragfähiger Verbotsgrund vorliegend nicht aus einer von dem Antragsgegner geltend gemachten Beeinträchtigung des Ansehens der Bundesrepublik begründen lasse. Es verweist insbesondere darauf, dass sich das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Weltöffentlichkeit in besonderem Maße aus ihrer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung herleite. Konstitutiv für diese sei auch die in Art. 5 und Art. 8 GG gewährleistete Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Es lasse sich deshalb nicht rechtfertigen, allein in der Wahrnehmung dieser Grundrechte durch Rechtsextremisten während der Fußball-Weltmeisterschaft eine Störung der öffentlichen Sicherheit durch Beeinträchtigung des Ansehens der Bundesrepublik im Ausland herzuleiten. Dies gelte auch in einer Situation großer, mit entsprechender Medienberichterstattung begleiteter internationaler Aufmerksamkeit, die insbesondere an einem Ort gegeben sei, an dem Weltmeisterschaftsspiele ausgetragen würden.
Das Verwaltungsgericht berücksichtigt bei seinen Erwägungen, dass die verfassungsrechtlich maßgebenden Grenzen der Inhalte einer auf einer Versammlung geäußerten Meinung sich nicht nach Art. 8 Abs. 2 GG, sondern nach Art. 5 Abs. 2 GG richten (vgl. BVerfGE 90, 241 ≪246≫; 111, 147 ≪154 f.≫; BVerfGK 2, 1 ≪5≫; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 – 1 BvQ 3/06 –, NVwZ 2006, S. 585 ≪586≫). Der Gesetzgeber hat in seiner Rechtsordnung, insbesondere in den Strafgesetzen, Meinungsäußerungen nur dann beschränkt, wenn sie zugleich sonstige gewichtige Rechtsgüter verletzen. Werden entsprechende Strafgesetze durch Meinungsäußerungen missachtet, so liegt darin zugleich eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit; diese kann durch die Ordnungsbehörden abgewehrt werden, und zwar auch mit Auswirkungen auf Versammlungen (vgl. BVerfGE 111, 147 ≪156≫). Zu den maßgebenden Strafgesetzen gehören auch solche, die zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter bestimmte geäußerte Inhalte verbieten, so etwa §§ 90 a, 90 b StGB (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole sowie von Verfassungsorganen). Wie das Verwaltungsgericht dargelegt hat, ist vorliegend jedoch nicht erkennbar, inwiefern aus dem Motto oder der thematischen Ausrichtung der Versammlung eine Verletzung von Strafgesetzen folgen soll.
bb) Gleichfalls tragfähig sind die Erwägungen des Verwaltungsgerichts dahingehend, der Antragsgegner habe nicht durch konkrete Tatsachen belegt, dass ein von der Anmeldung abweichender Verlauf der Versammlung beabsichtigt sei. Soweit die Behörde als Gegenreaktion auf diese Versammlung Gewalttätigkeiten insbesondere von Personen der linksautonomen Szene befürchte, seien polizeiliche Maßnahmen vorrangig gegen solche Störer zu richten. Eine Inanspruchnahme des Veranstalters als Zweckveranlasser komme allenfalls bei Vorliegen besonderer, außerhalb der inhaltlichen Ausrichtung einer Veranstaltung liegender Umstände in Betracht. Hierfür habe der Antragsgegner gleichfalls nichts aufgezeigt. Sie verweise allein auf das befürchtete Verhalten einzelner Gruppen gewaltbereiter ausländischer Fußballanhänger.
Diese Erwägungen des Verwaltungsgerichts tragen dem verfassungsrechtlichen Erfordernis Rechnung, dass die behördlichen Maßnahmen bei drohenden Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen primär gegen den Störer zu richten sind und eine Heranziehung der Figur des Zweckveranlassers als Begründung für die Störereigenschaft eines Veranstalters wenn überhaupt, dann allenfalls bei Vorliegen besonderer, über die inhaltliche Ausrichtung der Veranstaltung hinausgehender provokativer Begleitumstände in Betracht kommen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, NVwZ 2000, S. 1406 ≪1407≫). Das Verwaltungsgericht vermag in der Durchführung einer Versammlung von Rechtsextremisten im zeitlichen Zusammenhang mit einem im Blickpunkt der ausländischen Medienöffentlichkeit stehenden sportlichen Großereignis wie der Fußball-Weltmeisterschaft einen solchen provokativen Begleitumstand nicht zu erkennen. Seine Argumentation trägt den verfassungsrechtlich gebotenen strengen Anforderungen an die Annahme einer allein aus Ort und Zeitpunkt einer Versammlung abgeleiteten Provokationswirkung Rechnung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 – 1 BvQ 3/06 –, NVwZ 2006, S. 585 ≪586≫).
cc) Auf die Voraussetzungen eines polizeilichen Notstands ist die Inanspruchnahme des Beschwerdeführers bereits von dem Antragsgegner nicht gestützt worden. Der Antragsgegner hat vielmehr im Beschwerdeverfahren ausdrücklich ausgeführt, dass für den Bereich des Landes Nordrhein-Westfalen unbeschadet der mit der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft verbundenen besonderen personellen Anforderungen an die Polizei- und Ordnungsbehörden die für den Schutz der beabsichtigten Versammlung vor Einwirkungen gewaltbereiter Gegendemonstranten erforderlichen Polizeikräfte verfügbar seien.
dd) Die Tragfähigkeit der Tatsachenfeststellung und Tatsachenwürdigungen des erstinstanzlichen Gerichts als Grundlage einer verfassungsgerichtlichen Folgenabwägung wird durch die Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts nicht in Frage gestellt. Die von dem Oberverwaltungsgericht stattdessen gestellte Prognose einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch von den Versammlungsteilnehmern ausgehende Gewalttätigkeiten ist vielmehr ihrerseits offensichtlich nicht tragfähig.
Das Oberverwaltungsgericht leitet eine dem Beschwerdeführer zurechenbare unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit daraus ab, dass dieser mit der angemeldeten Versammlung einen Teilnehmerkreis mobilisiere, der mit hoher Wahrscheinlichkeit einen unfriedlichen Verlauf der Versammlung erwarten lasse. Das Gericht hat hinreichend konkrete Anhaltspunkte weder für die Wahrscheinlichkeit eines gewalttätigen Verlaufs der angemeldeten Versammlung noch für eine Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers oder der Versammlungsleitung hierfür nachvollziehbar aufgezeigt.
(1) Das vom Oberverwaltungsgericht herangezogene Schreiben des italienischen Innenministeriums, das über nachrichtendienstliche Erkenntnisse über ein internationales Treffen von Angehörigen rechtsextremistischer Kreise im März 2006 in Rieg, Österreich, berichtet, enthält keine Angaben, die die vom Oberverwaltungsgericht angenommene hohe Wahrscheinlichkeit nachvollziehbar belegen, dass aus der angemeldeten Versammlung heraus Gewalttätigkeiten begangen werden sollen. Die Versammlungsbehörde selbst hat das Schreiben nicht in dieser Weise bewertet. Sie hat es aufgrund einer Nachfrage des Oberverwaltungsgerichts über „Erkenntnisse zu einer möglicherweise beabsichtigten Provokation von Gewalttätigkeiten” im Anhang zur schriftlichen Begründung ihrer Beschwerde überreicht, ohne es zur Grundlage einer eigenen Einschätzung der Gefahr zu nehmen. In einer ergänzend eingereichten Auswertung im Polizeipräsidium Gelsenkirchen heißt es zu diesem Schreiben: „Eine abschließende Bewertung dieser Erkenntnisse durch deutsche Sicherheits- und Verfassungsschutzbehörden war bislang nicht möglich.” Es mangelt an einer nachvollziehbaren Begründung dafür, warum sich das Oberverwaltungsgericht trotz dieser Zurückhaltung in der Lage sieht, die Angaben im Schreiben als tatsächliche Grundlage für die angenommene „hohe Wahrscheinlichkeit” für gewalttätige Zwischenfälle im Zusammenhang mit der Versammlung des Beschwerdeführers zu nehmen.
Auch fehlt es an nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, dass sich die im Schreiben des italienischen Innenministeriums erwähnte „Möglichkeit, Zusammenstöße und Unfälle zu planen”, darauf bezieht, dass diese Vorfälle in der Demonstration der NPD selbst erfolgen sollen. Die Veranstalter von rechtsradikalen Versammlungen verhalten sich nach den der Kammer zugänglichen Erfahrungen im Hinblick auf die Beachtung rechtlicher Grenzen häufig opportunistisch und sind jedenfalls während einer Versammlung regelmäßig bemüht, es nicht zu Gewalttätigkeiten von Versammlungsteilnehmern kommen zu lassen, die dem Veranstalter zuzurechnen sind. Soweit es in der Vergangenheit Ausschreitungen bei rechtsextremistischen Versammlungen gegeben hat, erfolgten sie zumeist erst aus dem Zusammentreffen ihrerseits gewaltbereiter Gegendemonstranten mit den Rechtsextremisten.
(2) Das Oberverwaltungsgericht vermag gleichfalls nicht aufzuzeigen, inwiefern die Möglichkeit solcher gewalttätiger Ausschreitungen dem Beschwerdeführer zurechenbar sei. Die Versammlungsbehörde hat weder geltend gemacht, dass Gewalttätigkeiten aus der angemeldeten Versammlung heraus von Personen zu erwarten wären, die mit dem Versammlungsanliegen sympathisieren, noch hat sie Anhaltspunkte für eine mangelnde Bereitschaft der vorgesehenen Versammlungsleiter aufgezeigt, solchen Ausschreitungen einzelner Teilnehmer nachdrücklich entgegen zu wirken.
Hinreichende Anhaltspunkte zur Begründung einer Zurechnung der gefahrenauslösenden Umstände zum Beschwerdeführer lassen sich dem von dem Oberverwaltungsgericht herangezogenen Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 9. Mai 2006 nicht entnehmen. Die vom Oberverwaltungsgericht herangezogene Beteiligung von Vertretern einer dem Beschwerdeführer nahe stehenden Jugendorganisation wird dort nicht im Zusammenhang mit den angeführten Gesprächen über eine mögliche Planung von Zwischenfällen bei der Gelegenheit der von dem Beschwerdeführer beabsichtigten Versammlung, sondern erst im Hinblick auf eine Absprache erwähnt, Initiativen während der anstehenden Fußballweltmeisterschaft nur mit kurzer Vorankündigung und unter Decknamen bekannt zu machen, um einen Zugriff der deutschen Sicherheitsbehörden zu erschweren. Um eine Maßnahme dieses Typs aber handelt es sich bei der seit langem angemeldeten und öffentlich diskutierten Versammlung des Beschwerdeführers nicht.
Soweit das Oberverwaltungsgericht darauf hinweist, dass der stellvertretende Vorsitzende des Beschwerdeführers sowie dessen Lebensgefährtin eine Bekanntschaft zu Personen pflegten, die ihrerseits Verbindungen zu Kreisen gewaltbereiter und rechtsextremistischer Fußballanhänger in Nordrhein-Westfalen aufwiesen, ergibt sich aus diesem Umstand gleichfalls kein Hinweis darauf, dass derartige Fußball-Hooligans die Versammlung des Beschwerdeführers in einer ihm zurechenbaren Weise zum Anlass für Gewalttätigkeiten nutzen wollen.
(3) Gleichfalls nicht nachvollziehbar aufgezeigt ist von dem Oberverwaltungsgericht, inwiefern die Anforderungen an die Versammlungsbehörde überspannt werden, wenn von ihr auch während der derzeit stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft und der mit ihr verbundenen Gefahren, etwa von Straftaten der Fußball-Hooligans, eine den sonst gebotenen Anforderungen genügende Konkretisierung der tatsächlichen Grundlage einer versammlungsrechtlichen Gefahrenprognose verlangt wird. Welche mit diesem Ereignis verbundene Besonderheiten und Unwägbarkeiten es der Versammlungsbehörde erschwert haben sollen, dem bereits seit dem 10. Mai 2006 den inländischen Sicherheitsbehörden verfügbaren, von ihnen aber offenbar nicht als für die von dem Oberverwaltungsgericht gezogenen Schlussfolgerungen hinreichend aussagekräftig bewerteten Schreiben der italienischen Behörden weiter nachzugehen, ist von dem Oberverwaltungsgericht nicht konkret aufgezeigt worden. Mit der Durchführung einer Fußball-Weltmeisterschaft konkret verbundenen Erschwernisse der polizeilichen Sachverhaltsaufklärung werden auch nicht in dem Auswertungsvermerk der Versammlungsbehörde vom 6. Juni 2006 zu diesem Schreiben des italienischen Innenministeriums aufgezeigt.
3. Bleiben die von dem Oberverwaltungsgericht im Wege eines Austauschs der behördlichen Begründung benannten, jedoch nicht tragfähig und hinreichend nachvollziehbar dargelegten Gefahren für die öffentliche Sicherheit außer Betracht, sind die Nachteile eines Sofortvollzugs des Versammlungsverbots hinreichend gewichtig als Grundlage für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG.
Nicht ersichtlich und auch von den Gerichten und der Versammlungsbehörde nicht geltend gemacht ist, dass bei Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung anderweitige Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu befürchten stünden, denen nicht anders als durch ein Verbot der Versammlung entgegen gewirkt werden könnte.
Die Versammlungsbehörde hat zu entscheiden, ob und welche Auflagen gemäß § 15 VersG erforderlich und unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes des Antragstellers aus Art. 5 und 8 GG angemessen sind.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hoffmann-Riem, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1970502 |
NPA 2007 |