Verfahrensgang
LG Traunstein (Beschluss vom 06.12.2005; Aktenzeichen 6 Qs 112/05) |
AG Traunstein (Beschluss vom 28.09.2005; Aktenzeichen 5 Cs 230 Js 28439/02) |
Tenor
- Die Beschlüsse des Landgerichts Traunstein vom 6. Dezember 2005 – 6 Qs 110/05, 6 Qs 111/05 und 6 Qs 112/05 – sowie die Beschlüsse des Amtsgerichts Traunstein vom 28. September 2005 – 5 Cs 230 Js 17879/02, 5 Cs 230 Js 15627/02 und 5 Cs 230 Js 28439/02 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Amtsgericht Traunstein zurückverwiesen.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden betreffen strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren.
A. – I.
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Asylbewerber, reiste Ende 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihm wurde zur Durchführung des Asylverfahrens eine räumlich auf das Gebiet der Stadt und des Landkreises Rosenheim beschränkte Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG erteilt. Am 30. Januar 2002, 12. Mai 2002 und 8. Juni 2002 hielt er sich in Starnberg und München auf, wo er jeweils bei polizeilichen Personenkontrollen angetroffen wurde. Ein weiteres Aufgreifen erfolgte am 27. März 2002 im Nachtzug München-Paris auf der Höhe von Günzburg. Nach Einleitung entsprechender Strafverfahren beantragte die Staatsanwaltschaft Traunstein gegen ihn insgesamt drei Strafbefehle wegen wiederholter Zuwiderhandlung gegen Aufenthaltsbeschränkungen nach § 85 Nr. 2, § 56 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG beim Amtsgericht Rosenheim. Antragsgemäß wurde der Beschwerdeführer am 28. Mai 2002 (Az. 5 Cs 230 Js 15627/02) zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 2 €, am 21. Juni 2002 (Az. Cs 230 Js 17879/02) zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 2 € und am 15. Oktober 2002 (Az. 5 Cs 230 Js 28439/02) zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 2 € verurteilt; die einzelnen Geldstrafen wurden durch einen späteren Beschluss im Wege nachträglicher Gesamtstrafenbildung zu einer einheitlichen Geldstrafe zusammengefasst. Als Beweismittel bezeichnen die drei Strafbefehle gemäß § 409 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO übereinstimmend das Geständnis des Beschwerdeführers, die Aussagen der die Personenkontrollen durchführenden Polizeibeamten sowie den Bundeszentralregisterauszug des Beschwerdeführers. Nachdem er gegen keinen der drei Strafbefehle Einspruch eingelegt hatte, erwuchsen diese in Rechtskraft.
2. Mit gleichlautenden Schriftsätzen beantragte die Verteidigerin des Beschwerdeführers am 19. August 2005 die Wiederaufnahme der Strafbefehlsverfahren und trug vor, seit 1988 seien keine Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern mehr in den Irak durchgeführt worden. Nach der Erlasslage des Bayerischen Staatsministeriums des Innern liege jedenfalls ein faktischer Abschiebestopp für irakische Asylbewerber vor. Eine Lageänderung, die zukünftig Abschiebungen in den Irak möglich machen würde, sei derzeit nicht absehbar. Bei der Abschiebesituation betreffend den Irak handele es sich auch – wie die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 19. Juli 2002 (2 BvR 18/02, 2 BvR 76/02, StV 2003, S. 225 f.) entschieden habe – um eine neue Tatsache im Sinne von § 359 Nr. 5 in Verbindung mit § 373a Abs. 2 StPO. Dafür, dass die dargelegte Abschiebesituation Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung bei Erlass der Strafbefehle gewesen sei, fänden sich in den Gerichtsakten keinerlei Anhaltspunkte. Da nach § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz 2. Alt. AsylVfG das Verlassen des Geltungsbereiches der Aufenthaltsgestattung dann ohne Erlaubnis vorübergehend zulässig sei, wenn die Abschiebung eines Ausländers aus sonstigen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auf Dauer ausgeschlossen ist, sei die im Wiederaufnahmeverfahren vorgetragene Tatsache auch geeignet, die Freisprechung des Beschwerdeführers zu begründen.
3. Mit nahezu wortgleichen Beschlüssen verwarf das Amtsgericht Traunstein am 28. September 2005 die Wiederaufnahmeanträge als unzulässig.
Ein Wiederaufnahmegrund gemäß § 373a Abs. 2, § 359 Nr. 5 StPO liege nicht vor. So sei die Tatsache eines faktischen Abschiebestopps für irakische Asylbewerber der Justiz, vor allem der Justiz im Landgerichtsbezirk Traunstein, seit vielen Jahren und aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. Mithin handele es sich um keine neue Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinn. Dass das Bundesverfassungsgericht wie auch das Bayerische Oberste Landesgericht einen faktischen Abschiebestopp als ein dauerhaftes Abschiebehindernis im Sinne von § 58 Abs. 4 AsylVfG ansähen, stelle eine Änderung der Rechtsprechung dar, die ihrerseits nicht geeignet sei, die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Strafverfahren zu schaffen.
4. Gegen die amtsgerichtlichen Beschlüsse legte die Verteidigerin des Beschwerdeführers mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2005 sofortige Beschwerde ein und trug vor, dass das Amtsgericht lediglich behaupte, der vorgetragene Abschiebestopp stelle keine neue Tatsache dar, und stattdessen zu Unrecht von einer bloßen Rechtsprechungsänderung ausgehe. Mit dem im Wiederaufnahmeantrag zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juli 2002, der für die identische Fallkonstellation in der Nichtberücksichtigung des Abschiebestopps eine neue Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne gesehen habe, setze sich das Amtsgericht nicht auseinander. Aus den Strafakten des Beschwerdeführers ergebe sich weder ein Hinweis darauf, dass die Tatsache des Abschiebestopps bekannt gewesen sei, noch ein Hinweis darauf, dass in irgendeiner Form geprüft worden wäre, ob ein dauerhaftes Abschiebungshindernis vorgelegen habe. Es sei weder die Ausländerakte des Beschwerdeführers beigezogen noch eine Anfrage an die zuständigen Stellen bezüglich der Abschiebungssituation gerichtet worden. Die polizeilichen Ermittlungen hätten sich ausschließlich auf den Bestand einer Aufenthaltsbeschränkung beschränkt. Dies wie auch der Umstand, dass die Norm des § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG in den Strafbefehlen nicht zitiert werde, belege, dass die Abschiebungssituation der Entscheidung über die Strafbefehle gerade nicht zugrunde gelegt worden sei.
5. Im Zuge des Beschwerdeverfahrens holte das Landgericht Traunstein von den Richtern des Amtsgerichts Rosenheim, die die verfahrengegenständlichen Strafbefehle gegen den Beschwerdeführer erlassen hatten, Stellungnahmen zu der Frage der Berücksichtigung der Abschiebungssituation betreffend den Irak ein.
Richterin am Amtsgericht G… führte hierzu im Rahmen einer dienstlichen Stellungnahme aus, dass sie unter anderem aufgrund ihrer früheren Tätigkeit bei der Stadt München zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls in Erinnerung gehabt habe, dass von der Abschiebung von irakischen Staatsangehörigen, insbesondere kurdischer Volkszugehörigkeit, aus verschiedenen Gründen trotz abgelehnten Asylantrags (rein tatsächlich) von der Abschiebung abgesehen worden sei (= Verfolgung aufgrund Volkszugehörigkeit bzw. tatsächliche Probleme aufgrund des dortigen Regimes und damit auch für die Betroffenen). Sie sei davon ausgegangen, dass sich hieran aufgrund der unveränderten politischen Situation im Irak nichts geändert habe.
Richter am Landgericht S… erklärte, er sei am Amtsgericht Rosenheim jeweils hälftig als Strafrichter und Ermittlungsrichter tätig gewesen. Im Rahmen der ermittlungsrichterlichen Tätigkeit sei er unter anderem auch für Abschiebehaftsachen zuständig gewesen und habe in ständigem Kontakt zu den Ausländerbehörden der Stadt und des Landkreises Rosenheim gestanden. Mitte 2002 sei ihm die Abschiebepraxis der Ausländerbehörden bei irakischen Staatsangehörigen – Abschiebestopp – deshalb höchstwahrscheinlich bekannt gewesen. Die allgemeine politische Situation im Irak sei aus der täglichen Berichterstattung hinlänglich bekannt gewesen. Nach seiner Auffassung sei zum damaligen Zeitpunkt jedoch nicht von einem dauerhaften Abschiebehindernis auszugehen gewesen. Konkrete Gedanken beim Erlass des Strafbefehls am 21. Juni 2002 seien für ihn jedoch nicht mehr nachvollziehbar.
6. Mit textidentischen Beschlüssen verwarf das Landgericht Traunstein am 6. Dezember 2005 die sofortigen Beschwerden gegen die amtsgerichtlichen Beschlüsse als unbegründet.
Neue Tatsachen im wiederaufnahmerechtlichen Sinne lägen nur dann vor, wenn sie dem erkennenden Gericht bei der Urteilsfindung nicht bekannt gewesen seien und von ihm daher bei der Entscheidungsfindung nicht hätten berücksichtigt werden können. Auch wenn sich aus der Strafakte des Beschwerdeführers nicht ausdrücklich ergebe, dass dem Gericht die Abschiebungssituation betreffend den Irak bekannt gewesen sei und es diese bei seiner Entscheidung berücksichtigt habe, so handele es sich dabei um eine allgemeinkundige Tatsache (vgl. Urteile des Bayerischen Obersten Landesgerichts 4St RR 093/04, 4St RR 176/04). Als allgemeinkundige Tatsache sei die Abschiebungssituation betreffend den Irak damit auch dem Amtsgericht Rosenheim bekannt gewesen und deshalb auch zur Grundlage seiner Überzeugungsbildung bei Erlass der Strafbefehle gemacht worden. Überdies hätten die erkennenden Richter in ihren dienstlichen Stellungnahmen zu den jeweiligen Verfahren bekundet, dass ihnen die Abschiebungssituation zum Entscheidungszeitpunkt bekannt gewesen sei. Eine neue Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO in Verbindung mit § 373a Abs. 2 StPO liege deshalb nicht vor.
Die von der Verteidigerin des Verurteilten vorgelegten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bayerischen Obersten Landesgerichts würden sich ausschließlich mit der Frage beschäftigen, wie der unbestimmte Rechtsbegriff des “auf Dauer angelegten Abschiebungshindernisses” im Sinne des § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG auszulegen sei. Hierbei handele es sich um rechtliche Erwägungen, auf die ein Wiederaufnahmeantrag nicht gestützt werden könne, selbst wenn sich die Rechtsprechung geändert habe.
II.
Mit den rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerden rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG.
Die fachgerichtlichen Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren ließen unberücksichtigt, dass sich aus den Strafakten der Staatsanwaltschaft Traunstein sowie den Strafbefehlen keine Hinweise darauf ergäben, dass dem Amtsgericht Rosenheim die Abschiebungslage in den Irak zum Zeitpunkt des Strafbefehlserlasses bekannt gewesen sei. Angesichts der Komplexität der Regelung, wie sie sich nach der innenministeriellen Weisungslage darstelle, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass gerade die Abschiebungspraxis allgemeinkundig gewesen sei. Auch aus den Stellungnahmen der erkennenden Richter zum Strafbefehlsverfahren lasse sich nicht herleiten, dass es sich bei dem Abschiebestopp betreffend den Irak nicht um das Vorliegen einer neuen Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne handele, zumal sich in den Akten keinerlei Hinweis auf deren Prüfung und Berücksichtigung finde. Damit würden die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts Traunstein den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip an die Gestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens zu stellen seien, nicht gerecht.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat zu den Verfassungsbeschwerden Stellung genommen und erachtet sie bereits für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eröffnenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
1. Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens ist dazu bestimmt, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der materialen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen, die sich beide verfassungskräftig aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (BVerfGE 22, 322 ≪329≫). Demgemäß ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass im Wiederaufnahmeverfahren zunächst die Zulässigkeit gemäß § 368 Abs. 1 StPO zu prüfen ist, die bei der Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel (§ 359 Nr. 5 StPO) voraussetzt, dass diese geeignet sind, die Freisprechung des Angeklagten oder – in Anwendung eines milderen Strafgesetzes – eine geringere Bestrafung zu begründen (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 1974 – 2 BvR 407/74 –, MDR 1975, S. 468 f.).
Weicht das Wiederaufnahmegericht von den Grundsätzen des Wiederaufnahmeverfahrens im Sinne einer wesentlichen Verschlechterung der Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs ab, so verfehlt es dessen Ziel, den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit angemessen zu lösen. Wird das Wiederaufnahmeverfahren – an diesem Ziel gemessen – derart ineffektiv, so steht dies in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes und verletzt den Verurteilten in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, das ein Recht auf effektiven Rechtsschutz in sich schließt (vgl. BVerfGE 53, 115 ≪127 f.≫; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993 – 2 BvR 1746/91 –, NJW 1993, S. 2735 f. und vom 7. September 1994 – 2 BvR 2093/93 –, NJW 1995, S. 2024).
2. Bei Strafbefehlen, die einem rechtskräftigen Urteil gleich stehen (§ 410 Abs. 3 StPO) und auf die die für die Wiederaufnahme geltenden Vorschriften (§§ 359 bis 373 StPO) entsprechend anzuwenden sind (§ 373a Abs. 2 StPO), ist hinsichtlich der Beweiswürdigung und für die Beurteilung, ob neue Tatsachen und Beweismittel vorliegen, auf die Aktenlage abzustellen. Die Bestimmung des § 373a Abs. 2 StPO, wonach die Vorschriften der §§ 359 bis 373 StPO entsprechend anzuwenden sind, lässt bei der Eignungsprüfung Raum, der Eigenart des Strafbefehlsverfahrens angemessen Rechnung zu tragen. Das Strafbefehlsverfahren ist als summarisches Verfahren ausgestaltet, bei dem die den Schuldvorwurf begründenden Tatsachen nicht so sorgfältig geprüft werden wie im Rahmen einer Hauptverhandlung, sodass ein Strafbefehl möglicherweise auf weniger zuverlässigen Erkenntnissen beruht (vgl. BVerfGE 65, 377 ≪384 f.≫). Im Wiederaufnahmeverfahren gegen einen Strafbefehl ist es daher rechtsstaatlich geboten, sich aus den Akten aufdrängende, klar auf der Hand liegende Fehler bei der Tatsachenfeststellung zu beachten (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993 – 2 BvR 1746/91 –, NJW 1993, S. 2735 f. m.w.N.).
3. Für den der vorliegenden Konstellation entsprechenden Fall eines Wiederaufnahmeantrags gegen eine im Strafbefehlsverfahren erfolgte Verurteilung nach § 85 Nr. 2, § 56 Abs. 1 AsylVfG hat die Kammer mit Beschluss vom 19. Juli 2002 (2 BvR 18/02, 2 BvR 76/02, StV 2003, S. 225 f.) bereits festgestellt, dass als Tatsachen im wiederaufnahmerechtlichen Sinne alle als existierend feststellbaren Vorgänge oder Zustände zu verstehen sind, die der Gegenwart oder der Vergangenheit zugehören. Ob eine derartige Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinne neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn es ihr hätte zugrunde gelegt werden können (vgl. Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1997, § 359 ≪Rn. 93≫ m.w.N.).
Neu im wiederaufnahmerechtlichen Sinne ist danach auch die Abschiebungssituation betreffend ein bestimmtes Zielland, wenn sich für deren Berücksichtigung im Strafbefehlsverfahren keine Anhaltspunkte in den Verfahrensakten finden, selbst wenn dem Amtsgericht bei Strafbefehlserlass bekannt gewesen sein sollte, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Asylbewerber mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Ziellandes handelte.
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine nach §§ 359 ff. StPO zu treffende Entscheidung werden die in den Wiederaufnahmeverfahren des Beschwerdeführers ergangenen Beschlüsse nicht gerecht.
1. Die den angefochtenen Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zugrunde liegende Auffassung, die konkrete Abschiebesituation im ersten Halbjahr 2002 betreffend den Irak sei allgemeinkundig gewesen und deshalb Urteilsgrundlage der Strafbefehle gegen den Beschwerdeführer geworden, selbst wenn sich dies in den der Verurteilung zugrunde liegenden Verfahrensakten nicht widerspiegele, ist von Verfassungs wegen nicht tragfähig.
a) Offenkundige Tatsachen – in der Form allgemeinkundiger oder gerichtskundiger Tatsachen – können strafprozessual bei der Urteilsfindung wie auch bei Erlass eines Strafbefehls als Entscheidungsgrundlage grundsätzlich herangezogen werden (vgl. BGHSt 6, 292 f.; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2001, § 244 Rn. 227 ff.). Die Gerichts- bzw. Allgemeinkundigkeit einer bestimmten Tatsache hat verfahrensrechtlich zur Folge, dass deren Beweisbedürftigkeit mittels des Kanons der strafprozessualen Beweismittel entfällt. Nicht entbehrlich bleibt indes die erkennbare Einbeziehung der allgemein- bzw. gerichtskundigen Tatsache in das Strafverfahren (vgl. BGHSt 6, 292, 295 f.; Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2001, § 244 Rn. 234; Graul, Systematische Untersuchungen zur Offenkundigkeit im Strafprozess, 1996, S. 291 ff. m.w.N.). Diese gebietet verfassungsrechtlich bereits die Garantie rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 10, 177 ≪183≫; 12, 110 ≪112 f.≫; 48, 206 ≪209≫). Der Beschuldigte eines Strafverfahrens muss jedenfalls die Möglichkeit besitzen, sich zu der für allgemein- bzw. gerichtskundig erachteten Tatsache zu äußern und die Annahme ihrer Offenkundigkeit gegebenenfalls zu entkräften. Reicht in der mündlichen Verhandlung für die Einführung einer allgemein- bzw. gerichtskundigen Tatsache ein entsprechender Hinweis des Vorsitzenden grundsätzlich aus, bedarf es im Strafbefehlsverfahren jedenfalls eines Anhaltspunktes im Strafbefehl selbst, dass eine bestimmte allgemeinkundige Tatsache zum Gegenstand der Entscheidungsfindung bei seinem Erlass gemacht worden ist.
Demnach kann einer im Wiederaufnahmeverfahren vorgetragenen Tatsache nur dann entgegengehalten werden, sie sei nicht neu im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO, sondern als allgemein- bzw. gerichtskundig bereits Gegenstand der Urteilsfindung geworden, wenn sie zuvor in der geschilderten Art und Weise in das Strafverfahren eingeführt worden ist, das heißt im Strafbefehlsverfahren Eingang in die Verfahrensakten und in den Text des Strafbefehls selbst gefunden hat, sei es als dort explizit aufgeführtes Beweismittel oder in sonstiger Art und Weise (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993 – 2 BvR 1746/91 –, NJW 1993, S. 2735; LG Landau, Beschluss vom 12. September 2002 – 2 Qs 19/02 –, juris; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1997, § 359 Rn. 88). Würde man auf das Erfordernis der ausdrücklichen Bezeichnung der verwendeten allgemeinkundigen Tatsache verzichten, wäre der verurteilte Betroffene diesbezüglich im Wiederaufnahmeverfahren rechtsschutzlos gestellt.
Die Zurückweisung eines auf neue Tatsachen im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO gegründeten Wiederaufnahmeantrags als unzulässig mit der Begründung, die vorgetragene Tatsache sei nicht neu, vielmehr bereits als allgemeinkundig Gegenstand der Urteilsfindung geworden, ohne Anhaltspunkt dafür, dass die offenkundige Tatsache in irgendeiner Art und Weise Eingang in das Strafverfahren gefunden hat, verschiebt mithin die Chance des Verurteilten zur Erlangung eines gerechten Richterspruchs derart – nämlich aussichtslos – zu seinen Lasten, dass das Wiederaufnahmeverfahren seine Funktion, einen angemessenen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit herzustellen, verfehlt. Hierin liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
Da sich in den dem Bundesverfassungsgericht vorliegenden Verfahrensakten der streitgegenständlichen Strafbefehlsverfahren keinerlei Hinweis darauf findet, dass die Abschiebungssituation betreffend den Irak Gegenstand der Urteilsfindung geworden wäre – insbesondere die Strafbefehle weder in der Liste der verwendeten Beweismittel derartige Hinweise enthalten noch bei der Angabe der der Verurteilung zugrunde liegenden Normen, § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG, der Anlass zur Prüfung der Abschiebungssituation gegeben hätte, zitieren –, muss, ungeachtet einer möglichen Allgemein- bzw. Gerichtskundigkeit, für das Wiederaufnahmeverfahren zwingend davon ausgegangen werden, dass die Abschiebungssituation betreffend den Irak nicht Gegenstand der Urteilsfindung im Strafbefehlsverfahren geworden ist. Die Auffassung des Amtsgerichts, die angenommene Allgemeinkundigkeit der Abschiebungssituation führe per se dazu, dass keine neue Tatsache im wiederaufnahmerechtlichen Sinn vorliege, ebenso wie die Ansicht des Landgerichts, die Allgemeinkundigkeit der Abschiebungssituation mache diese ohne sichtbare Einbeziehung in das Verfahren zum Gegenstand der Urteilsfindung und lasse deshalb die Neuheit im Wiederaufnahmeverfahren entfallen, ist demnach verfassungsrechtlich nicht haltbar und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
2. Auch soweit die angefochtenen Entscheidungen des Landgerichts darauf verweisen, den die Strafbefehle gegen den Beschwerdeführer erlassenden Richtern sei individuell die Abschiebesituation betreffend den Irak bekannt gewesen, stellt dies keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Verwerfung der Wiederaufnahmeanträge als unzulässig dar.
Dies stimmt zum einen betreffend den Richter am Landgericht S… nicht mit dessen dienstlicher Stellungnahme überein, in der er ausdrücklich nur bekundet hat, ihm sei der Abschiebestopp höchstwahrscheinlich zum Entscheidungszeitpunkt bekannt gewesen. Darüber hinaus lassen die dienstlichen Erklärungen, mögen sie auch von einer potentiellen Kenntnis der Abschiebesituation zeugen, nicht den Schluss zu, dass diese Kenntnis auch in die Entscheidungsfindung bei Erlass der Strafbefehle Eingang gefunden hat. Hierzu verhält sich die Stellungnahme der Richterin am Amtsgericht G… überhaupt nicht; Richter am Landgericht S… verweist diesbezüglich auf seine fehlende Erinnerung. Wie die Verteidigerin des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang zu Recht ausführt, deutet der Umstand, dass die zu einer Prüfung der Abschiebesituation Anlass gebende Norm des § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG in den gesamten Strafbefehlsakten kein einziges Mal Erwähnung findet, vielmehr darauf hin, dass ungeachtet möglicher allgemeiner Bekanntheit der Abschiebungssituation sie jedenfalls in den konkreten Verfahren nicht geprüft und damit der Entscheidungsfindung nicht zugrunde gelegt worden ist.
3. Soweit das Amtsgericht und das Landgericht in ihren Beschlüssen dem Wiederaufnahmevorbringen des Beschwerdeführers ferner entgegenhalten, die zur Stützung seines Antrags vorgelegten Gerichtsentscheidungen beschäftigten sich ausschließlich mit der Frage, wie der unbestimmte Rechtsbegriff des “auf Dauer angelegten Abschiebungshindernisses” im Sinne des § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG auszulegen sei, und es handele sich hierbei um ausschließlich rechtliche Erwägungen, auf die ein Wiederaufnahmeantrag nicht gestützt werden könne, selbst wenn sich die Rechtsprechung geändert hätte, sind diese Erwägungen ebenfalls nicht tragfähig. Sie verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
So verhält sich der Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juli 2002 – 2 BvR 18/02 –, 2 BvR 76/02 – zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals des “auf Dauer angelegten Abschiebungshindernisses” im Sinne von § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG inhaltlich nicht. Umgekehrt ergibt sich – eindeutig und damit das Ergebnis der streitgegenständlichen Wiederaufnahmeverfahren vorzeichnend – aus der Begründung des Beschlusses, dass es sich bei der Abschiebungssituation betreffend ein bestimmtes Zielland im Zusammenhang mit Straftaten nach § 85 Nr. 2, § 56 Abs. 1 AsylVfG gerade nicht um eine so genannte Rechtstatsache, auf die ein Wiederaufnahmeantrag regelmäßig nicht gestützt werden kann, sondern stattdessen um eine wiederaufnahmerechtlich beachtliche Tatsache im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO handelt. Damit stützt – entgegen der Auffassung des Amts- und des Landgerichts – der verfassungsgerichtliche Beschluss, auf den der Beschwerdeführer sich vor den Wiederaufnahmegerichten bezogen hat, sein Wiederaufnahmevorbringen vollumfänglich.
Demgegenüber trifft es zwar zu, dass die Revisionsentscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 22. September 2004 (4St RR 093/04, NStZ-RR 2005, S. 48 f.) und 11. Januar 2005 (4St RR 176/04, StV 2005, S. 216 f.) die Auslegung von § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG zum Gegenstand haben. Allerdings nehmen die Wiederaufnahmeanträge des Beschwerdeführers diese Entscheidungen nicht als Beleg für eine – möglicherweise geänderte – rechtliche Bewertung der Reichweite eines faktischen Abschiebestopps betreffend den Irak in Anspruch; er behauptet auch keine fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Amtsgericht Rosenheim bei Erlass der streitgegenständlichen Strafbefehle. Die Entscheidungen dienen vielmehr – zusätzlich zu den vorgelegten Erlassen und Auskünften des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zur Abschiebungssituation betreffend den Irak – zum Nachweis des gegenwärtig und zukünftig unabsehbar fortbestehenden faktischen Abschiebestopps, von dem das Bayerische Oberste Landesgericht offensichtlich ebenfalls ausgegangen ist.
Die den Inhalt des vom Beschwerdeführer Vorgebrachten unrichtig wiedergebende willkürliche Auslegung, die die Wiederaufnahmegerichte ihrer Entscheidungsfindung zugrunde gelegt haben, ist mit den das Wiederaufnahmeverfahren regierenden verfassungsrechtlichen Maßstäben ebenfalls nicht vereinbar.
III.
Die angegriffenen Beschlüsse waren gemäß § 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Traunstein zurückzuverweisen. Das Amtsgericht wird bei seiner erneuten Entscheidung über die Wiederaufnahmeanträge auch zu berücksichtigen haben, dass die gegen den Beschwerdeführer ergangenen Strafbefehle nicht nur die konkrete Abschiebesituation betreffend den Irak zum Tatzeitpunkt nicht zur Entscheidungsgrundlage gemacht haben, sondern auch keine rechtlichen Erwägungen zur Auslegung von § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG enthalten. Dem Wiederaufnahmevorbringen kann mithin nicht entgegengehalten werden, es sei deshalb ungeeignet, die Freisprechung des Beschwerdeführers zu bewirken, weil das Amtsgericht dem Erlass der Strafbefehle die Auffassung zugrunde gelegt hätte, ein nur faktischer Abschiebestopp falle nicht unter § 58 Abs. 4 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG, wie dies die dienstliche Stellungnahme des Richters am Landgericht S… sowie die Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft Traunstein zu den Wiederaufnahmeanträgen des Beschwerdeführers nahe legen.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1611250 |
NJW 2007, 207 |