Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Fürsorgepflicht eines funktionell unzuständigen Gerichts im Falle einer rechtsfehlerhaft bei ihm eingelegten Rechtsmittelschrift.
1. Die Beschwerdeführerin und Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine Gesellschaft mit Sitz auf der zu Großbritannien gehörenden Insel Jersey. Das klagabweisende Urteil des Amtsgerichts wurde der Beschwerdeführerin am 16. Juni 2004 zugestellt. Gegen dieses Urteil legte die Beschwerdeführerin am 6. Juli 2004 Berufung zum Landgericht ein, die Berufungsschrift ging noch am selben Tag per Fernschreiben und am 8. Juli 2004 im Original beim Landgericht ein. Nach Eingang der Berufungsschrift forderte die Geschäftsstelle des Landgerichts selbständig die Gerichtsakten vom Amtsgericht an, die Berufungskammer wurde mit der Angelegenheit zunächst nicht befasst. Mit Schriftsatz vom 5. August 2004 beantragte die Beschwerdeführerin die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 31. August 2004, woraufhin der Vorgang der Kammer vorgelegt wurde. Mit Verfügung vom 9. August 2004 entsprach der stellvertretende Kammervorsitzende dem Verlängerungsantrag.
Nach Eingang der Berufungsbegründung und Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung wies der stellvertretende Kammervorsitzende die Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 7. Oktober 2004 auf bestehende Zuständigkeitsbedenken hin. Zuständig sei wegen des im Ausland gelegenen allgemeinen Gerichtsstandes der Beschwerdeführerin gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b GVG das Oberlandesgericht. Auf diesen Hinweis legte die Beschwerdeführerin am 11. Oktober 2004 Berufung zum Oberlandesgericht ein und beantragte zugleich die Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist.
Das Oberlandesgericht wies diesen Antrag auf Wiedereinsetzung mit Beschluss vom 25. November 2004 zurück und verwarf zugleich die Berufung als unzulässig. Die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 5. Oktober 2005 zurück (veröffentlicht in NJW 2005, S. 3776 f.). Zuständig für die Verhandlung und Entscheidung über die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts sei wegen des im Ausland gelegenen allgemeinen Gerichtsstandes der Beschwerdeführerin das Oberlandesgericht nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b GVG. Dort sei die Berufung verfristet eingelegt worden. Dies sei auch schuldhaft erfolgt, so dass eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht komme. Insbesondere habe die Beschwerdeführerin trotz des Umstandes, dass zwischen dem Eingang der Berufung beim Landgericht und dem Ablauf der Berufungsfrist ein vergleichsweise langer Zeitraum von zehn Tagen gelegen habe, die fristgerechte Weiterleitung der beim Landgericht eingegangenen Berufungsschrift an das Oberlandesgericht nicht ohne weiteres erwarten können. Denn weder könne die Kenntnis der besonderen Zuständigkeitsregelung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b GVG bei einem Geschäftsstellenbeamten vorausgesetzt werden noch habe eine Verpflichtung bestanden, die Berufungsschrift unmittelbar der Kammer vorzulegen. Damit habe vielmehr abgewartet werden können bis zum Eingang der angeforderten Amtsgerichtsakten, der Berufungsbegründung oder eines etwaigen Verlängerungsantrages.
2. Mit ihrer fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren.
Hätte das Landgericht seine Zuständigkeit unmittelbar nach Eingang der Berufungsschrift geprüft und diese sodann entsprechend seiner prozessualen Fürsorgepflicht im gewöhnlichen Geschäftsgang an das Oberlandesgericht weitergeleitet, wäre die Berufungsschrift dort noch fristgerecht eingegangen. Verzögerungen im internen Ablauf des Landgerichts, auf den die Beschwerdeführerin keinen Einfluss nehmen könne, dürften nicht zu ihren Lasten gehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫). Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG ist nicht gegeben. Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip ist nicht verletzt.
1. Aus diesem “allgemeinen Prozessgrundrecht” folgt zwar die Verpflichtung des Richters, das Verfahren so zu gestalten, wie die Parteien es von ihm erwarten dürfen (vgl. BVerfGE 78, 123 ≪126≫). Insbesondere ist der Richter allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. BVerfGE 38, 105 ≪111 ff.≫; 40, 95 ≪98 f.≫; 46, 202 ≪210≫) und ist es ihm untersagt, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile abzuleiten (vgl. BVerfGE 51, 188 ≪192≫; 60, 1 ≪6≫; 75, 183 ≪190≫). Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungs wegen geboten ist, kann sich aber nicht nur am Interesse des Rechtsuchenden an einer möglichst weit gehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Danach muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden (vgl. BVerfGE 93, 99 ≪114≫; BVerfG ≪2. Kammer des Ersten Senats≫, NJW 2001, S. 1343).
Die Abwägung zwischen den betroffenen Belangen fällt etwa dann zugunsten des Rechtsuchenden aus, wenn das angegangene Gericht zwar für das Rechtsmittelverfahren nicht zuständig ist, jedoch vorher mit dem Verfahren befasst war (vgl. BVerfGE 93, 99 ≪114 f.≫; BVerfG ≪2. Kammer des Ersten Senats≫, NJW 2001, S. 1343; BVerfG ≪1. Kammer des Ersten Senats≫, NJW 2005, S. 2137). Gleiches gilt für eine leicht und einwandfrei als fehlgeleitet erkennbare Rechtsbehelfsschrift (vgl. BVerfG ≪3. Kammer des Ersten Senats≫, NJW 2002, S. 3692). In diesen Fällen der offensichtlichen eigenen Unzuständigkeit stellt es für die Funktionsfähigkeit des Gerichts keine übermäßige Belastung dar, in Fürsorge für die Verfahrensbeteiligten einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsganges an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Geschieht dies nicht, kann die nachfolgende Fristversäumnis nicht zu Lasten des Rechtsuchenden gehen und es ist Wiedereinsetzung zu gewähren.
2. Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte lässt sich jedoch keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift ableiten. Dies enthöbe die Verfahrensbeteiligten und deren Prozessbevollmächtigte ihrer eigenen Verantwortung für die Einhaltung der Formalien und überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens.
Die Praxis des Landgerichts, eingehende Berufungen zunächst lediglich durch die Geschäftsstelle erfassen zu lassen und erst nach Eingang der Berufungsbegründung einer richterlichen Zuständigkeitsprüfung zu unterziehen, ist daher von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Weiterleitung offensichtlich fehlgeleiteter Schriftsätze kann auch auf diese Weise gewährleistet sein. Hierzu zählt die vorliegende Unzuständigkeit wegen Auslandsberührung gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b GVG jedoch nicht. Die Kenntnis dieser erst durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl I S. 1887; zum Gesetzeszweck vgl. BGHZ 155, 46 ≪48 f.≫) mit Wirkung zum 1. Januar 2002 geschaffenen besonderen funktionellen Zuständigkeit des Oberlandesgerichts kann bei einem Geschäftsstellenbeamten nicht vorausgesetzt werden. Selbst durch den rechtskundigen Richter kann eine abschließende Beurteilung der gegebenen Zuständigkeit erst nach Eingang der Berufungsbegründung oder der Akten des Amtsgerichts erfolgen. Zwar werden sich in der Regel bereits aus der Berufungsschrift gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug ergeben, wie dies vorliegend durch die in der Berufungsschrift sowie in dem hierzu beigefügten Urteil des Amtsgerichts vom 7. Juni 2004 angeführte Anschrift der Beschwerdeführerin auf Jersey der Fall war. Entscheidend nach § 119 b Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b GVG ist jedoch der allgemeine Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz, also regelmäßig der Zustellung der Klageschrift nach § 253 Abs. 1, § 261 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO (vgl. BGHZ 155, 46 ≪48≫; BGH NJW-RR 2004, S. 1073 ≪1074≫; Kissel/Mayer, GVG, 4. Auflage 2005, § 119 Rn. 27a; Zöller/Gummer, ZPO, 25. Auflage 2005, § 119 GVG Rn. 14). Dieser kann von der aktuellen Anschrift einer Partei im Zeitpunkt des Urteilserlasses und der Berufungseinlegung durchaus abweichen.
Die Beschwerdeführerin wurde durch die verzögerte Vorlage der Berufungsschrift an die Berufungskammer folglich nicht beschwert, da eine abschließende Beurteilung der Zuständigkeit ohnehin erst auf Grundlage der beizuziehenden Akten des Amtsgerichts oder der Berufungsbegründungsschrift getroffen werden konnte, bei deren Eintreffen die Berufungsfrist zum Oberlandesgericht aber bereits abgelaufen war. Aus dem gleichen Grund wirkt sich insoweit die von der Beschwerdeführerin behauptete unterschiedliche Handhabung der Vorlage einer neu eingegangenen Berufungsschrift an die Berufungskammer in den verschiedenen Landgerichtsbezirken verfassungsrechtlich nicht aus.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1489117 |
NJW 2006, 1579 |