Entscheidungsstichwort (Thema)

Ärztliche Aufklärungspflicht bei einem dreistufigen diagnostischen Eingriff mit Risikokumulation; Aufklärungszeitpunkt

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein Patient vor einem dreistufigen diagnostischen Eingriff (hier: Angiographie, Embolisation und Occlusionstest) nur über die Risiken der ersten Stufe aufgeklärt und verwirklicht sich in einer späteren Stufe ein Risiko, das auch auf der ersten Sufe hätte eintreten können, haftet der Arzt für das Aufklärungsversäumnis, wenn dem Patienten die Risikokumulation nicht bekannt war.

2. Eine Formularaufklärung zwischen Tür und Angel mit dem beschwichtigenden mündlichen Zusatz, der Arzt sei erfahren und in den zurückliegenden 7 Jahren sei nichts passiert, ist bei einem nicht dringlichen diagnostischen Eingriff unzureichend.

3. An den Nachweis, auch bei umfassender Aufklärung hätte der Patient eingewilligt, sind bei einem nicht vital indizierten diagnostischen Eingriff besonders strenge Anforderungen zu stellen.

 

Normenkette

BGB §§ 276, 823, 831, 847

 

Verfahrensgang

LG Mainz (Aktenzeichen 2 O 171/96)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24.8.2000 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des LG Mainz teilweise abgeändert.

Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000 DM zu zahlen. Im weitergehenden Hauptantrag wird die Klage abgewiesen.

Der Anspruch auf materiellen Schadensersatz wegen des ärztlichen Eingriffs vom 27.5.1993 ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, der Klägerin den künftigen materiellen und immateriellen Schaden wegen des ärztlichen Eingriffs vom 27.5.1993 zu ersetzen, soweit diese Schadensersatzansprüche nicht auf die Kranken- und Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte zu 2) kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 50.000 DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

 

Tatbestand

Die Klägerin beansprucht aus dem Gesichtspunkt ärztlichen Fehlverhaltens den Ausgleich materieller Schäden, die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie die Feststellung, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, künftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen.

Die gegen die Beklagte zu 1), die Universität gerichtete Klage ist rechtskräftig abgewiesen (Senat, Urt. v. 26.6.1997, Bl. 131–139 GA), so dass nur noch die Haftung des Beklagten zu 2), des Leiters des Instituts für Radiologie, infrage steht.

Bei der Klägerin sollte von Prof. Dr. med. M, Leiter der HNO-Universitätsklinik, am 28.5.1993 ein Tumor entfernt werden. Hierbei handelte es sich um einen sog. Glomustumor links im Bereich der Arteria carotis. Nachdem eine Dopplersonographie die mangelhafte Blutversorgung der beiden Hirnhälften ergeben hatte, wurden durch den Beklagten zu 2) zur weiteren diagnostischen Abklärung am 27.5.1993 eine Angiographie, eine Embolisation sowie eine Occlusionstestung durchgeführt. Unmittelbar vor dem Eingriff erhielt die Klägerin von einem Assistenzarzt anhand eines Informationsblattes – „Information über die Angiographie” (Bl. 17, 17 R GA) – Aufklärung.

Der Eingriff hatte eine halbseitige Lähmung der Klägerin und eine Aphasie zur Folge. Der Tumor wurde sodann am 21.6.1993 entfernt.

Die Klägerin hat – zur Haftung des Beklagten zu 2) – vorgetragen:

Dieser habe im Verlauf des diagnostischen Eingriffs einen Fehler begangen. Außerdem habe er sie, Klägerin, vor dem Eingriff nicht ausreichend aufgeklärt.

Wegen der von Dr. F in Freiburg durchgeführten Angiographie sei eine weitere Angiographie nicht notwendig gewesen. Auch habe die Dopplersonographie ausgereicht, um hinsichtlich der mangelhaften Versorgung der linken Hirnhälfte vollständige Klarheit zu erlangen.

Die Embolisation sei ebenfalls nicht indiziert gewesen. Vielmehr hätte der Beklagte zu 2) alles tun müssen, um die Angiographie, wie von ihm geplant, durchzuführen. Das sei, von der überflüssigen Embolisation abgesehen, aber nicht der Fall gewesen. Der Beklagte zu 2) habe den Katheter bei der Occlusionstestung falsch eingeführt. Er habe den Katheter dreimal angesetzt und die Untersuchung mit dem falsch sitzenden Katheter fortgeführt. Dies stelle einen eklatanten Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht dar.

Unmittelbar vor dem Eingriff habe sie, Klägerin, von einem Assistenzarzt ein Formblatt erhalten. Ihr sei kurz erklärt worden, dass die Angiographie notwendig sei, damit die am nächsten Tag angesetzte Operation vorgenommen werden könne. Bei einer solchen Untersuchung seien, so sei ihr erklärt worden, in den letzten 7 Jahren keine schwerwiegenden Komplikationen aufgetreten. Eine Aufklärung habe sie vom Assistenzarzt weder über die beabsichtigte Embolisation noch über die Occlusionstestung erfahren. Die durchzuführende Verödung sei ihr erst mitgeteilt worden, als sie sich schon auf dem Operationstisch befunden habe.

Wäre sie sachgemäß umfassend und auch nicht unter zeitlichem Druck aufgeklä...

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