Leitsatz (amtlich)

Im Fehngebiet Ostfrieslands besteht ein im 19. Jahrhundert entstandenes örtliches Gewohnheitsrecht fort, wonach Anlieger eines Nebenkanals ("Inwieke") den Randstreifen des Kanals auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen eines Notwegerechts begehen und befahren dürfen, um zu hinterliegenden Grundstücken zu gelangen.

 

Verfahrensgang

LG Aurich (Urteil vom 09.07.2007; Aktenzeichen 2 O 290/06)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 21.11.2008; Aktenzeichen V ZR 35/08)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 9.7.2007 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des LG Aurich wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung fallen den Beklagten zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der Kläger gegen Sicherheitsleistung von 5.000 EUR abzuwenden, sofern diese vor der Vollstreckung nicht Sicherheit in Höhe des jeweils aus diesem Urteil zu vollstreckenden Betrages leisten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

Die Parteien streiten um die Benutzung einer an einer früheren Inwieke, einem kleinen Kanal, angrenzenden Grundstücksfläche als Weg.

Entlang der Ostseite des 1999 von den nach Ostfriesland zugezogenen Beklagten erworbenen - den Klägern benachbarten - Hausgrundstücks in R. verlief früher ein von dem an der R. straße entlanglaufenden Hauptkanal ("Wieke" oder "Hauptwieke") im rechten Winkel abzweigender Nebenkanal ("Innenwieke" oder "Inwieke"), der heute im vorderen Bereich teilweise zugeschüttet ist und auch im Übrigen nicht länger als Wasserweg benutzt wird. Die Grenze des Grundstücks der Beklagten auf der der Inwieke zugewandten Seite liegt nach den Liegenschaftsplänen in der Mitte der Inwieke. Entlang der Inwieke verläuft ein Weg - dessen Charakter als Weg die Beklagten indessen bestreiten - zu den hinterliegenden Grundstücken, die teils den Klägern, teils anderen Eigentümern gehören. Die Kläger haben ihre Grundstücke teilweise verpachtet. Zu Gunsten jedenfalls eines hinterliegenden Grundstücks eines anderen Eigentümers ist seit 1952 hinsichtlich des auf dem Grundstück der Beklagten verlaufenden Weges entlang der früheren Inwieke ein dingliches Wegerecht im Grundbuch eingetragen. Im Übergangsbereich von der Wegefläche zum ehemaligen Verlauf der Inwieke steht Buschwerk.

Die Beklagten haben auf ihrem Grundstück einen Metallzaun mit Tor errichtet, der eine Wegnutzung entlang der Inwieke durch die Kläger verhindert. Diese haben die Beklagten daraufhin unter Berufung auf das "Inwiekenrecht", das ein in Ostfriesland seit alters bestehendes ungeschriebenes Gewohnheitsrecht sei, auf Duldung der Benutzung eines Randstreifens von 3m Breite als Weg verklagt.

Das LG hat zur Beachtung des von den Klägern angeführten Gewohnheitsrechts als verbindliches Recht durch die betroffenen Bevölkerungsteile im R. er Gebiet Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des beim Niedersächsischen Staatsarchiv und bei der Ostfriesischen Landschaft tätigen Historikers Dr. phil. P.W. sowie durch Vernehmung der langjährig in den Gemeindeverwaltungen der Fehnorte R. und O. tätigen Zeugen P., B. und F. Diese haben übereinstimmend bekundet, dass - abgesehen von gelegentlichen Problemen mit zugezogenen Ortfremden - das Inwiekenrecht im Bereich der Gemeinde R. noch immer von den Einwohnern anerkannt und praktiziert wird. Der Zeuge P. hat zudem durch Vorlage einer Vielzahl von Fotografien den Fortbestand der Inwieken-Wege an zahlreichen Grundstücken dokumentiert. Er hat weiter bekundet, in Fällen, in denen eine Überwegung durch Eintragung ins Grundbuch abgesichert werde, werde stets der Verlauf des Weges gewählt, der bereits aufgrund des Inwiekenrechts benutzt werden dürfe. Ungeachtet einer gelegentlich praktizierten dinglichen Absicherung eines Wegerechts im Grundbuch sei das Vertrauen in Fortbestand und Anerkennung des Inwiekenrechts nach wie vor so groß, dass - wie der Zeuge B. ausgesagt hat - solche Eintragungen nur selten im Fehngebiet vereinbart werden.

Aufgrund der Beweisaufnahme hat das LG festgestellt, dass das "Inwiekenrecht" heute noch geltendes Gewohnheitsrecht ist, und die Beklagten zur Duldung der Benutzung des Weges in einer lichten Breite von 3m zum Befahren und Begehen durch die Kläger verurteilt.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

Sie wiederholen ihr erstinstanzliches Vorbringen und tragen insbesondere vor, das Inwiekenrecht habe seine Geltung wegen des Strukturwandels in den Fehnsiedlungen verloren. Zudem sei es jedenfalls durch das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gegenstandslos geworden. Ein Gewohnheitsrecht könne auch deshalb nicht angenommen werden, weil es - auch nach dem Vorbringen der Kläger - nicht die gesamte Bevölkerung, sondern nur ein kleinerer Kreis von Anliegern der Inwieke beanspruchen könne. In den Vorschriften über das Notwegerecht (§§ 917, 918 BGB) seien die nicht durch Verträge oder Dienstbarkeiten gesicherten Überwegungsrechte abschließend geregelt. Hinsichtlich der Überwegung ihres (der Beklagten) Grundstüc...

Dieser Inhalt ist unter anderem im VerwalterPraxis enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge