Im Ausland erworbene Berufserfahrung ist bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen
Die Klägerin war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich als Lehrerin tätig. Weniger als sechs Monate nach dem Ende dieser Tätigkeit trat sie als Lehrerin in den Schuldienst des beklagten Landes Niedersachsen ein. Dieses zahlte der Klägerin in Anwendung des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L Entgelt nach der Stufe 3 der Entgeltgruppe 11 TV-L ab dem Tag der Einstellung, da die Klägerin über in Frankreich erworbene mindestens dreijährige einschlägige Berufserfahrung verfügte. Die Klägerin beanspruchte demgegenüber die vollständige Berücksichtigung ihrer einschlägigen Berufserfahrung und daher Entgelt nach Stufe 5 der Entgelttabelle. Dies lehnte das beklagte Land ab. Es gestand aber zu, dass die Berufserfahrungszeiten der Klägerin nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L die begehrte Stufenzuordnung zur Folge gehabt hätte, wenn sie sie beim Land Niedersachsen zurückgelegt hätte.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG und die unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen. Das beklagte Land hat demgegenüber gemeint, die Privilegierung bezwecke, den Besitzstand insbesondere zuvor beim selben Arbeitgeber befristet Beschäftigter zu wahren. Die auf der Staatsangehörigkeit beruhende mittelbare Diskriminierung sei deswegen gerechtfertigt. Das Arbeitsgericht hat der Feststellungsklage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen (Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 9.3.2017, 4 Sa 86/16 E).
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat den EuGH um die Beantwortung einer Frage zur Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ersucht, worüber dieses mit Urteil vom 23.4.2020 entschieden hat.
Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht eingeschränkt werden
Die Klage auf Bezahlung nach der Entgeltstufe 5 hatte vor dem BAG Erfolg.
Das Gericht entschied, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts die bei einem anderen Arbeitgeber im Ausland erworbene einschlägige Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung anlässlich einer Einstellung in vollem Umfang zu berücksichtigen ist. Die in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L enthaltene Begrenzung auf 3 Jahre ist mit Art. 45 Abs. 1 AEUV nicht vereinbar und deshalb unanwendbar.
Das BAG begründet dies damit, dass die in § 16 TV-L vorgesehene Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 Abs. 1 AEUV ungerechtfertigt einschränkt. Ein wie hier vorliegendes tarifliches System dürfe nicht zur Diskriminierung von Arbeitnehmern, die die Freizügigkeit in Anspruch nehmen, führen. Eine Differenzierung zwischen Zeiten einschlägiger Berufserfahrung danach, ob sie im Inland bei demselben Arbeitgeber oder im Ausland bei einem anderen Arbeitgeber erworben wurden, ist ausgeschlossen. Denn die Begrenzung der Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung sei geeignet, die Inanspruchnahme der Grundfreiheit unter Verstoß gegen Art. 45 Abs. 1 AEUV weniger attraktiv zu machen. Daher müssen sämtliche von dem betreffenden Arbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten einschlägigen Berufserfahrungszeiten berücksichtigt werden.
(BAG, Urteil vom 29.4.2021, 6 AZR 232/17)
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