Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Der Kläger ist Rechtsnachfolger seiner im Laufe des Revisionsverfahrens verstorbenen Ehefrau, der Versicherten. Streitig ist, ob deren Altersruhegeld um Kindererziehungszeiten für Enkelkinder zu erhöhen ist.

Die Versicherte war im Mai 1921 geboren. Sie war die Mutter von drei Kindern und zwar der Töchter I. - der Beigeladenen sowie E. und U. Für diese Töchter sind im Bescheid vom 18. November 1986, mit dem der Versicherten Altersruhegeld gewährt worden ist, Kindererziehungszeiten anerkannt worden. Die zusätzlich von der Versicherten beanspruchten Erziehungszeiten für ihre Enkelkinder B. W. , geboren am 28. September 1961, Tochter der Beigeladenen, sowie U. W. , geboren am 7. Juni 1964, Sohn der Tochter Edith, lehnte die Beklagte ab.

Beide Enkelkinder lebten nach der Geburt mit ihren ledigen Müttern in der Wohnung der Großeltern, der Versicherten und des Klägers. B. hielt sich bis zum 18. Februar 1980 bei den Großeltern auf und U. bis zum 31. März 1968. Für B. war Amtspflegschaft und für U. Amtsvormundschaft angeordnet worden. Der außereheliche Vater des Kindes B. zahlte für dieses ab 29. Januar 1962 Unterhalt in Höhe von 70,-- DM monatlich, worin 5,-- DM zur Abzahlung des Unterhaltsrückstandes enthalten waren. Die Beigeladene arbeitete bis 1965 halbtags als Serviererin in der Gaststätte ihrer Eltern. Nach eigenen Angaben erhielt sie keinen festen Lohn.

Für das Kind U. wurde von dessen außerehelichem Vater während des ersten Lebensjahres Unterhalt nicht gezahlt. Seine Mutter E. war nach der Geburt des Kindes halbtags als Verkäuferin mit einem Monatslohn von 150,-- DM beschäftigt. Sie ist im Jahre 1972 verstorben. Der Widerspruch der Versicherten gegen den Bescheid vom 18. November 1986 blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. März 1987).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Versicherten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Versicherten höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für die Enkelkinder B. und U. W. ab 1. Juni 1986 zu gewähren (Urteile vom 6. Oktober 1988 und 10. August 1989). Das LSG hat ausgeführt, zwischen der Versicherten und den mit ihr in häuslicher Gemeinschaft lebenden Enkelkindern habe ein Pflegeverhältnis bestanden, das dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entsprochen habe. Lebten Enkel mit ihren leiblichen Müttern zusammen im Haushalt der Großeltern, so werde das Elternverhältnis grundsätzlich der Mutter zuzubilligen sein. Von diesem Grundsatz sei zugunsten der Großmutter dann eine Ausnahme zu machen, wenn die Beziehung der Mutter zum Kind grundlegend und von Anfang an zerrüttet gewesen sei, die Mutter ihre Aufsichtsund Erziehungsaufgaben nicht wahrnehme und diese von der Großmutter übernommen würden. So sei es hier gewesen.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und zwar der §§ 1251a und 1227a der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie des § 56 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil (SGB I).

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Erstgerichts zurückzuweisen.

Der Kläger setzt als Sonderrechtsnachfolger der verstorbenen Versicherten den Rechtsstreit fort. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 1. Oktober 1990 Witwerrente ab 1. Juni 1990.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die beanspruchten Kindererziehungszeiten für die Enkelkinder B. und U. W. stehen der Versicherten zu.

Anspruch auf Anrechnung von Kindererziehungszeiten hat die Versicherte gemäß § 1251a RVO, wobei in Abs. 3 Satz 1 § 1227a Abs. 3 RVO für entsprechend anwendbar erklärt wird. Nach dessen Satz 1 gelten zwar nicht Großmütter als Mütter i.S. der Vorschrift, wohl aber Pflegemütter. § 1227a Abs. 3 RVO verweist seinerseits auf § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I. Danach gelten als Eltern auch Pflegeeltern; das sind Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben. Hinsichtlich der Kindererziehungszeiten hat der Gesetzgeber § 56 SGB I nicht insoweit für anwendbar erklärt, als darin Regelungen betreffend Großeltern und Enkel enthalten sind. Die Versicherte kann also die Kindererziehungszeiten nur erhalten, wenn sie Pflegemutter war. Nach der Definition in § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I sind Pflegekinder Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind. Diese Voraussetzungen hat das LSG aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen zutreffend als erfüllt angesehen.

Die Versicherte hat mit ihren Enkelkindern in den ersten zwölf Monaten nach Ablauf des Monats der Geburt dieser Kinder in häuslicher Gemeinschaft gelebt. Das hat das LSG festgestellt und dagegen werden von den Beteiligten keine Einwendungen erhoben.

Wie der erkennende Senat bereits in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 12. September 1990 - 5 RJ 45/89 - entschieden hat, können Großmüttern als Pflegemüttern ihrer Enkelkinder Kindererziehungszeiten nach den §§ 1251a Abs. 3 Satz 1, 1227a Abs. 3 RVO i.V.m. § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I nur angerechnet werden, wenn die Beziehungen der Kinder zu ihren Müttern gelöst sind. In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Senat davon ausgegangen, daß Mutter und Großmutter i.S. der für das Pflegeverhältnis notwendigen Verbundenheit der Kinder mit Eltern nicht nebeneinander ein zweifaches Familienband mit dem Kind gleichzeitig unterhalten können (so bereits BSGE 12, 35, 37 f; 19, 106, 107; Urteil vom 10. Februar 1983 - 5b RJ 56/81 -; vgl. auch BSGE 25, 109, 111; 30, 28, 29f.).

Grundsätzlich ist im Sozialrecht von einem einheitlichen Begriff des Pflegekindes auszugehen, wenn nicht etwa Besonderheiten eines Rechtsgebietes es erfordern, diesen Rechnung zu tragen. In seiner Auffassung darüber, welche Anforderungen an ein Pflegekindverhältnis zu stellen sind, wenn eine Großmutter Kindererziehungszeiten für ein Enkelkind beansprucht, sieht sich der erkennende Senat durch einen Vergleich mit dem Kindergeldrecht bestätigt. Eine Verweisung auf die Definition des Pflegekindverhältnisses im Bundeskindergeldgesetz (BKGG) enthalten überdies die §§ 595 Abs. 1 Satz 2 und 1267 Abs. 1a RVO (betreffend Waisenrenten in der Unfall- und der Rentenversicherung).

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG i.d.F. des Zwölften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl. I 1294; 1990, 150) - BKGG n.F. handelt es sich bei Pflegekindern um "Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen diesen Personen und ihren Eltern nicht mehr besteht". In der Begründung zum Entwurf des 12. Änderungsgesetzes vom 30. Juni 1989 (BT-Drucks 11/4686 S. 6) heißt es, in der kindergeldrechtlichen Pflegekind-Definition fehle - anders als in der entsprechenden steuerrechtlichen Definition - die ausdrückliche Einschränkung, daß die als Pflegekinder in Betracht kommenden Kinder nicht mehr in der Obhut und Pflege ihrer leiblichen Eltern stehen dürften. Da es streitig geworden sei, ob diese Einschränkung wegen der Natur des Pflegekindschaftsverhältnisses auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Gesetz gelte, solle die Frage klarstellend im Gesetz bejaht werden.

Durch den Zusatz "und ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen diesen Personen und ihren Eltern nicht mehr besteht", der im 12. Änderungsgesetz an § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG angefügt worden ist, wird im Kindergeldrecht ein im Vergleich zum Recht der Kindererziehungszeiten "gleichliegender Sachverhalt" geregelt. Dieser Zusatz ist nach Auffassung des erkennenden Senats bei der Auslegung des § 56 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 3 SGB I i.S. einer Verdeutlichung und Klarstellung heranzuziehen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25. April 1990 - 5/4a RJ 51/87 - in BSGE 66, 300, 302). Die Unterschiede in den Gesetzesfassungen der genannten Vorschriften lassen nicht darauf schließen, daß der Gesetzgeber für ein Pflegekind im Kindergeldrecht etwas anderes gewollt hat als bei den Kindererziehungszeiten und der Sonderrechtsnachfolge. Ein vernünftiger Grund für eine solche Unterscheidung ist nicht ersichtlich.

Die ausdrückliche Angleichung der Formulierung in § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG n.F. an § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommenssteuergesetzes (EStG) läßt erkennen, daß der Gesetzgeber um eine im wesentlichen einheitliche Definition mit weitgehend übereinstimmenden Voraussetzungen bemüht ist. Da nicht angenommen werden kann, der Gesetzgeber habe dieselbe Rechtsbeziehung mit wesentlichen Unterschieden definieren wollen, einmal für den Bereich der Sonderrechtsnachfolge und der Kindererziehungszeiten in § 56 SGB I, zum anderen für das Kindergeld und die Waisenrenten in § 2 BKGG nF, und da auch aus der Rechtsnatur der Kindererziehungszeiten sich nicht die Notwendigkeit einer vom Kindergeldrecht abweichenden Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen ergibt, stimmen trotz unterschiedlicher Wortwahl die Begriffe im wesentlichen überein. Der verbleibende Unterschied, daß Pflegeeltern i.S. des § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I das Pflegekind nicht in ihren Haushalt aufgenommen haben müssen, vielmehr die häusliche Gemeinschaft ausreicht, begründet nicht die Notwendigkeit weiterer Unterschiede. Zu den Voraussetzungen, unter denen ein Pflegekindverhältnis i.S. des § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I angenommen werden kann, gehört daher auch, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und seinen Eltern nicht mehr besteht.

Mit dieser Auffassung setzt sich der erkennende Senat nicht in Widerspruch zu den Urteilen des BSG vom 18. Januar 1990 - 10 RKg 24 und 25/88 -, die ausdrücklich nur die Rechtslage im Kindergeldrecht vor dem Inkrafttreten des 12. Änderungsgesetzes vom 30. Juni 1989 betreffen.

Nun ist nach § 1227a Abs. 3 Satz 2 RVO dann, wenn mehrere Personen das Kind erziehen und sich aus Abs. 2 nichts anderes ergibt, der Elternteil versichert, der das Kind überwiegend erzieht. Diese Vorschrift kann dafür sprechen, daß es möglich sein soll, einem Pflegeelternteil, der zusammen mit einem Elternteil und dem Kind in einem gemeinsamen Haushalt lebt, die Kindererziehungszeit zuzubilligen. Für Pflegekinder i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKGG alter Fassung (aF) hat der 10. Senat des BSG dies in den Urteilen vom 18. Januar 1990 aus § 3 Abs. 2 BKGG gefolgert und bejaht. Satz 1 der zuletzt genannten Vorschrift enthält eine Rangfolge für die Gewährung von Kindergeld, wenn mehrere Personen die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Lebt das Kind in einem gemeinsamen Haushalt von Pflegeeltern, Großeltern, Geschwistern oder Stiefeltern und eines Elternteils, so wird nach Satz 2 des § 3 Abs. 2 BKGG das Kindergeld dem Elternteil gewährt, es sei denn, er hat darauf verzichtet. Ein solcher Verzicht ist in der Regelung des § 1227a RVO über die Kindererziehungszeiten nicht vorgesehen. Grundsätzlich gilt also im Kindergeldrecht, daß beim Zusammenleben mehrerer Personen der Elternteil bevorrechtigt ist. Bei den Kindererziehungszeiten soll derjenige begünstigt werden, der das Kind überwiegend erzogen hat.

Da nach Auffassung des erkennenden Senats bei intakter Mutter-Kind-Beziehung ein Pflegekindverhältnis im Rechtssinn zur Großmutter nicht entstehen kann, ist zu fragen, welcher Anwendungsbereich dann für § 1227a Abs. 3 Satz 2 RVO noch übrig bleibt. In der Begründung zum Entwurf des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes (HEZG), wodurch § 1227a in die RVO eingefügt worden ist, wird als Beispiel für die Erziehung des Kindes durch mehrere Personen der Fall genannt, daß leibliche Mutter und Stiefmutter das Kind erziehen (BT-Drucks 10/2677 S. 33). In gleicher Weise kommt ein Stiefvater in Betracht. Bei der engen Definition des Pflegekindverhältnisses in Anlehnung an § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG n.F. ist bei Pflegekindern der Anwendungsbereich des § 1227a Abs. 3 Satz 2 RVO zwangsläufig eingeschränkt, sofern auch ein Elternteil erzieht. Hingegen ist bei der Erziehung durch Stief- und Pflegeeltern uneingeschränkt nach der zuletzt genannten Vorschrift zu verfahren.

Wie der Senat in dem bereits erwähnten Urteil vom 12. September 1990 entschieden hat, können Großmüttern Kindererziehungszeiten nur angerechnet werden, wenn die Beziehungen der Kinder zu ihren Müttern gelöst sind. Das ist nach den vorstehenden Ausführungen und in Anlehnung an die Definition in § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG n.F. dann anzunehmen, wenn ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen Mutter und Kind nicht mehr besteht, die Mutter ihre Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungspflichten (vgl. BSG in SozR 5870 § 2 Nr. 54) nicht erfüllt.

Übereinstimmend mit der Auffassung des erkennenden Senats ist das LSG im angefochtenen Urteil davon ausgegangen, daß beim Zusammenleben von Kindern mit ihren Müttern im Haushalt der Großeltern das Elternverhältnis sich grundsätzlich nach der Mutter richtet. Eine Ausnahme macht das LSG dann, "wenn die Beziehung Mutter-Kind grundlegend und von Anfang an zerrüttet ist, die Mutter ihre Aufsichts- und Erziehungsaufgaben nicht wahrnimmt und diese von der Großmutter übernommen werden müssen und tatsächlich auch übernommen werden". In einem solchen Ausnahmefall sei, ungeachtet eines Restes von Bindung des Kindes zu seiner leiblichen Mutter, der Raum frei für den Aufbau einer Elternbeziehung zwischen Großmutter und Enkel. So lägen die Dinge hier.

Die Feststellungen, die das LSG im konkreten Fall zur Lösung der Beziehungen zwischen den Töchtern der Versicherten und den Enkelkindern sowie zur Erziehung dieser Kinder durch die Versicherte getroffen hat, sind von der Beklagten nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden. Die Beklagte rügt - wie sich aus den von ihr bezeichneten Rechtsnormen ergibt ausschließlich die Verletzung materiellen Rechts. Möglicherweise will die Beklagte auch die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts angreifen. Das diesbezügliche Vorbringen in der Revisionsbegründung genügt jedoch nicht den, an die Rüge von Verfahrensmängeln, gemäß § 164 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu stellenden Anforderungen. Der erkennende Senat ist daher gemäß § 163 SGG an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden. Bei deren Zugrundelegung war die Versicherte Pflegemutter ihrer Enkelkinder B. und U., die sie auch im ersten Lebensjahr nach der Geburt erzogen hat. Ihr stehen daher die umstrittenen Kindererziehungszeiten zu.

Die somit nicht begründete Revision der Beklagten mußte zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.5 RJ 64/89

BUNDESSOZIALGERICHT

Verkündet am 28. November 1990

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518514

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