Entscheidungsstichwort (Thema)
Maßfestsetzungen im Bebauungsplan - keine nachbarschützende Funktion. Nachbarschutz. Maß der baulichen Nutzung. Bebauungsplan. Rücksichtnahmegebot
Leitsatz (amtlich)
Die Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung durch Bebauungspläne haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten, vgl. Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 – kraft Bundesrechts grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion.
Normenkette
BauGB § 31 Abs. 2; BauNVO § 16
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 16.12.1994; Aktenzeichen 8 S 2712/94) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 12.08.1994; Aktenzeichen 6 K 3367/92) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für zwei Mehrfamilienhäuser mit Garagen und Stellplätzen. Die Baugenehmigung wurde unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt, wobei dem Bescheid nicht zu entnehmen ist, um welche Befreiungen es sich im einzelnen handelt und welche Erwägungen für die Befreiungen maßgeblich waren. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Bauvorhaben übersteige zwar die im Bebauungsplan festgesetzte Zahl der Vollgeschosse nach der hier anzuwendenden LBO 1972 um ein Geschoß, überschreite die zulässige Zahl der Geschoßfläche um ca. 70 qm sowie die auf 6 m begrenzte Traufhöhe um mehr als 1 m; außerdem würden sechs Garagen und vier Stellplätze zum größten Teil auf nicht überbaubaren Grundstücksflächen errichtet. Den hier in Betracht kommenden Festsetzungen des Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung komme jedoch im Regelfall keine nachbarschützende Wirkung zu. Anhaltspunkte dafür, daß im vorliegenden Fall ausnahmsweise eine drittschützende Wirkung angenommen werden könne, seien weder den Bebauungsplanakten zu entnehmen noch auf topographische Besonderheiten der örtlichen Situation zu stützen. Es könne auch nicht angenommen werden, daß bei Festsetzungen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in gleicher Weise wie bei Festsetzungen der Art der baulichen Nutzung generalisierend von einem Austauschverhältnis ausgegangen werden müßte, das auch den Maßfestsetzungen grundsätzlich eine nachbarschützende Funktion verleihe. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – (BVerwGE 94, 151 = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 118 = NJW 1994, 1546 = DVBl 1994, 284 = DÖV 1994, 263) sei deshalb hier nicht einschlägig. Da der Kläger durch die Abweichungen vom Bebauungsplan nicht konkret beeinträchtigt werde, sei er nicht in eigenen Rechten verletzt.
Entscheidungsgründe
II.
Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
Die Frage, ob die Festsetzungen eines Bebauungsplans betreffend Geschossigkeit, überbaubare Grundstücksfläche und Geschoßfläche nachbarschützende Bedeutung und Funktion im Sinne des Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1993 (a.a.O.) haben, auch wenn mit einer Abweichung von diesen Festsetzungen spürbare Beeinträchtigungen für den Nachbarn nicht verbunden sind, rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Die Erwägungen, die den Senat in der Entscheidung vom 16. September 1993 veranlaßt haben, den Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung nachbarschützende Funktion unabhängig davon zuzusprechen, ob der Nachbar durch ein baugebietswidriges Vorhaben tatsächlich spürbar beeinträchtigt wird, lassen sich nicht in gleicher Weise auf die Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung übertragen. Zwar gilt auch insoweit, daß der Nachbarschutz auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses beruht. Der Grundstückseigentümer kann deshalb grundsätzlich die Beachtung öffentlichrechtlicher Baubeschränkungen auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen, weil und soweit er selbst in der Ausnutzung seines Grundstücks solchen Beschränkungen unterworfen ist. Allerdings werden die Planbetroffenen durch die Maßfestsetzungen eines Bebauungsplans nicht in gleicher Weise zu einer „Schicksalsgemeinschaft” verbunden, wie das der Senat für die Festsetzung der Art der Nutzung angenommen hat. Das gilt vor allem für die Frage, ob der Nachbarschutz eine spürbare Beeinträchtigung im jeweiligen Einzelfall voraussetzt. Das hat der Senat für eine baugebietsfremde Nutzungsart deshalb grundsätzlich verneint, weil durch das baugebietswidrige Vorhaben, das zwar für sich gesehen noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung des Nachbarn führen mag, gleichwohl typischerweise eine „schleichende” Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird. Eine solche später nur schwer korrigierbare Entwicklung soll der Nachbar, der sich seinerseits an die Art der vorgeschriebenen Nutzung halten muß, rechtzeitig verhindern können.
Mit dieser Situation sind Abweichungen von den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung nicht vergleichbar. Sie lassen in aller Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Zum Schutz der Nachbarn ist daher das drittschützende Rücksichtnahmegebot des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. Urteil vom 19. September 1986 – BVerwG 4 C 8.84 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71; vgl. auch Urteil vom 6. Oktober 1989 – BVerwG 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343 = Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 93 bei Verstoß gegen nicht nachbarschützende Vorschriften eines Bebauungsplans) ausreichend, das eine Abwägung der nachbarlichen Interessen ermöglicht und den Nachbarn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen schützt. Ein darüber hinausgehender, von einer realen Beeinträchtigung unabhängiger Anspruch des Nachbarn auf Einhaltung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung kann dagegen dem Bundesrecht nicht entnommen werden.
Aus diesen Ausführungen ergibt sich gleichzeitig, daß das Berufungsgericht nicht von dem Urteil des Senats vom 16. September 1993 (a.a.O.) abgewichen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Gaentzsch, Hien, Heeren
Fundstellen
BRS 1995, 506 |
DVBl. 1995, 1025 |