Entscheidungsstichwort (Thema)
Baurechtlicher Nachbarschutz. unbeplanter Innenbereich. Rücksichtnahmegebot. schwerer und unerträglicher Eingriff
Leitsatz (amtlich)
Der baurechtliche Nachbarschutz muß im nicht überplanten Innenbereich nicht denselben Grundsätzen folgen wie im Geltungsbereich eines Bebauungsplans.
Ob Festsetzungen eines Bebauungsplans über das Maß der baulichen Nutzung und über die überbaubaren Grundstücksflächen drittschützende sind, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; BauGB §§ 30, 34 Abs. 1; BauNVO §§ 16, 23
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Beschluss vom 27.06.1995; Aktenzeichen 8 S 998/95) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 31.01.1995; Aktenzeichen 14 K 1506/94) |
Tenor
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27. Juni 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladenen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 DM festgesetzt.
Gründe
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
Die Frage, ob es mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist, dem Nachbarn ein Abwehrrecht vorzuenthalten, wenn ein Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich zwar im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche und das Maß der baulichen Nutzung den Rahmen überschreitet, der durch die Umgebungsbebauung gebildet wird, gleichwohl aber den Anforderungen gerecht wird, die sich aus dem Rücksichtnahmegebot ergeben, verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
Daß der Nachbarschutz im nicht überplanten Bereich nicht denselben Grundsätzen folgt wie in Gebieten, für die ein Bebauungsplan vorhanden ist, verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz. Die Ungleichbehandlung beruht auf Sachgesetzlichkeiten. Ob im Geltungsbereich eines Bebauungsplans ein Vorhaben zulässig ist, richtet sich nach den von der Gemeinde getroffenen konkreten planerischen Festsetzungen. Diese Anknüpfung versagt im nicht überplanten Bereich. § 34 Abs. 1 BauGB dient insoweit als Planersatz. Er enthält einen eigenständigen Zulässigkeitsmaßstab, der notwendigerweise weniger scharf ist, da er sich an der Umgebungsbebauung zu orientieren hat. Dies hat zur Folge, daß Vorhaben zulässig sein können, deren Verwirklichung auf der Grundlage der Festsetzungen eines Bebauungsplans ausgeschlossen werden könnte. Dem ist beim Nachbarschutz entsprechend Rechnung zu tragen. Angesichts der unterschiedlichen Ausgangssituation kann von einem Schutzdefizit des Nachbarn im Falle des § 34 Abs. 1 BauGB keine Rede sein. Entgegen der Annahme der Beschwerde unterliegt der Schutz des Nachbarn auch im Geltungsbereich eines Bebauungsplans Einschränkungen. Es trifft nicht zu, daß Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung oder die überbaubare Grundstücksfläche schlechthin nachbarschützende Wirkung haben. § 30 BauGB begründet aus sich heraus keine subjektiv-öffentlichen Rechte zugunsten des Nachbarn. Ob Festsetzungen auf der Grundlage der §§ 16 ff. und des § 23 BauNVO auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1985 – BVerwG 4 C 19.82 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 66; Beschluß vom 23. Juni 1995 – BVerwG 4 B 52.95 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Unter dem Aspekt des Art. 14 GG wirft die Beschwerde ebenfalls keine Fragen auf, die eine Zulassung der Revision rechtfertigen. Die neuere Rechtsprechung des Senats geht dahin, daß ein Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG als unmittelbare Anspruchsgrundlage jedenfalls in den Fällen nicht in Betracht kommt, in denen drittschützende Regelungen des einfachen Rechts vorhanden sind. Inhalt und Schranken des Eigentums werden nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG durch das Gesetz bestimmt. Neben den §§ 31 und 35 BauGB sowie dem § 15 BauNVO regelt auch § 34 Abs. 1 BauGB Umfang und Grenzen des Nachbarschutzes. Welche Beeinträchtigungen seines Grundeigentums der Nachbar hinnehmen muß und wann er sich gegen ein Bauvorhaben wenden kann, richtet sich nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots, das auch in dieser Vorschrift enthalten ist. Für selbständige Ansprüche aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bleibt daneben kein Raum (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 1991 – BVerwG 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69). Das Beschwerdevorbringen läßt nicht erkennen, inwiefern diese Rechtsprechung der Korrektur oder der Fortentwicklung bedürfen sollte. In dieser Richtung Erwägungen anzustellen, würde das anhängige Verfahren schon deshalb keine Gelegenheit bieten, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zweifelhaft ist, daß die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, unter denen nach der früheren Rechtsprechung des Senats ein nachbarliches Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG hergeleitet werden konnte (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1969 – BVerwG 4 C 234.65 – BVerwGE 32, 173). Es kann keine Rede davon sein, daß die der Klägerin erteilte Baugenehmigung die Beigeladenen schwer und unerträglich trifft. Den Gründen des angefochtenen Beschlusses ist zu entnehmen, daß das Bauvorhaben keiner der bauordnungsrechtlichen Vorschriften zuwiderläuft, die der Wahrung der von den Beigeladenen ins Feld geführten nachbarlichen Belange zu dienen bestimmt sind. Für einen weitergehenden Nachbarschutz besteht in einem solchen Falle auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kein Anlaß (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 und § 159 Satz 1 VwGO sowie § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG in Verbindung mit § 5 ZPO.
Unterschriften
Gaentzsch, Heeren, Halama
Fundstellen
NuR 1998, 447 |
BRS 1995, 531 |