Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen. Bundesautobahn, Geschwindigkeitsbegrenzung auf –. Gefahr, konkrete. konkrete Gefahr. Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko erheblich übersteigt. allgemeines Risiko, das durch ein besonderes Risiko erheblich überstiegen wird. erhebliches Übersteigen eines allgemeinen Risikos. Übersteigen, erhebliches – eines allgemeinen Risikos. Ermessen. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. milderes Mittel
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an eine rechtmäßige Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen nach § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 2 StVO (im Anschluss an Urteil vom 21. Januar 1999 – BVerwG 3 C 9.98 – Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 38 m.w.N.).
Normenkette
StVO § 45 Abs. 1, 9 S. 2
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Entscheidung vom 07.12.1999; Aktenzeichen 3 Bf 51/96) |
VG Hamburg (Entscheidung vom 07.08.1996; Aktenzeichen 19 VG 938/95) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 1999 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Verfahrensbeteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit von Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Bundesautobahn (BAB) 1 im Bereich der beklagten Freien und Hansestadt Hamburg (FHH). Der Kläger wohnt in A. und ist Inhaber einer Mineralölraffinerie in H.; er befährt nach seinem Vorbringen täglich, bisweilen mehrfach täglich, die BAB 1 auch über die Grenzen der FHH hinaus.
Zwischen den Landesgrenzen der FHH einerseits zu Niedersachsen und andererseits zu Schleswig-Holstein verläuft die BAB 1 auf einer Länge von ca. 18,8 km auf dem Gebiet der Beklagten. Sie ist zwar überwiegend, jedoch nicht durchgängig sechsspurig (jeweils in Fahrtrichtung dreistreifig) ausgebaut. Die Strecke ist neben einem häufigen Wechsel der Anzahl der zur Verfügung stehenden Fahrstreifen geprägt durch zwei Autobahnkreuze (Hamburg-Süd und Hamburg-Ost), ein Autobahndreieck (Hamburg-Südost), zwei Elbbrücken (Norder- und Süderelbbrücke), einen Tunnel (Moorfleet) sowie fünf Anschlussstellen, was zu insgesamt 30 Zu- bzw. Abfahrten mit einer räumlichen Ausdehnung von zusammengerechnet ca. 7,7 km führt. Die maximale Distanz zwischen Autobahnkreuzen, Autobahndreieck und Anschlussstellen beträgt 2,5 km; in Einzelfällen folgen Anschlussstellen so dicht aufeinander, dass Beschleunigungsstreifen und Verzögerungsstreifen jeweils in beiden Richtungen ineinander übergehen.
Insbesondere seit der Vereinigung Deutschlands hat die Verkehrsbelastung der BAB 1 in dem hier interessierenden Verlauf in beiden Fahrtrichtungen deutlich zugenommen; der DTV-Wert, der die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke beschreibt, lag im Jahre 1998 zwischen 83 000 und 123 000, während der DTV-Wert für das gesamte Autobahnnetz im gleichen Zeitraum bei ca. 46 800 gelegen hat; dabei ist der Schwerverkehrsanteil mit bis zu 24 % überproportional hoch. Die hohe Verkehrsbelastung resultiert – zu nicht exakt ermittelbaren Anteilen – aus überregionalem wie regionalem Verkehr.
Die vom Kläger angegriffenen Beschränkungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit sind im Schwerpunkt im Jahre 1994 (sowie im Jahre 1999) erfolgt, wobei der Kläger im Verfahren erklärt hat, nicht gegen bereits früher erfolgte Begrenzungen im Bereich der Autobahnkreuze bzw. des Autobahndreiecks vorgehen zu wollen. Durch die angefochtenen Maßnahmen sehen sich Verkehrsteilnehmer mit folgenden Geschwindigkeitsbegrenzungen konfrontiert: In Fahrtrichtung Norden ist die Geschwindigkeit auf einer Länge von ca. 18 km ununterbrochen beschränkt, wobei Phasen weniger oder mehr einschränkender Begrenzungen (120, 100 bzw. 80 km/h) aufeinander folgen. Entsprechendes gilt auf einer Gesamtstrecke von 16,6 km für die Fahrtrichtung Süden.
Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Bescheid vom 31. Januar 1995). Das Verwaltungsgericht hat die Klage, mit der hilfsweise begehrt wurde, die angefochtenen Geschwindigkeitsbegrenzungen zumindest in tages- und jahreszeitlicher Hinsicht einzuschränken, durch Urteil vom 7. August 1996 abgewiesen.
Die Berufung des Klägers, mit der auch im Jahre 1999 angeordnete Verschärfungen bereits zuvor erfolgter Begrenzungen angegriffen wurden, hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 7. Dezember 1999 (berichtigt durch Beschluss vom 12. Mai 2000) zurückgewiesen (NZV 2000, 346). Es hat ausgeführt, die Klage sei unbegründet. Zum – wegen des Charakters der geschwindigkeitsbeschränkenden Maßnahmen als Verwaltungsakte in der Form der Allgemeinverfügung mit Dauerwirkung – maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erfüllten alle angefochtenen Maßnahmen die gesetzlichen Voraussetzungen.
Im Rahmen der den Straßenverkehrsbehörden im vorliegenden Zusammenhang eingeräumten Ermessensfreiheit könne sich der Kläger nicht auf spezifische qualifizierte Interessen berufen. Auch die Behauptung des Klägers treffe nicht zu, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen von § 45 Abs. 1 und Abs. 9 StVO in der Fassung der Verordnung vom 7. August 1997 (BGBl I S. 2028) seien nicht zu bejahen; ohne die angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkungen würde aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage bestehen, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der Sicherheit bzw. Ordnung des Verkehrs erheblich überstiege; die angeordneten geschwindigkeitsbegrenzenden Maßnahmen seien geeignete und zwingend gebotene Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Gefahrenlage.
Wegen der besonderen örtlichen Verhältnisse, auf die die Beklagte ihre Maßnahmen im Schwerpunkt gegründet habe, liege auf nahezu sämtlichen zu beurteilenden Streckenabschnitten belegbar die – ohnehin nahe liegende – erforderliche erheblich überdurchschnittliche Unfallgefahrenlage vor; eine Ausnahme gelte nur für die Streckenabschnitte in Fahrtrichtung Norden von km 147,5 bis km 145,5 sowie von km 145 bis km 144,5 (insgesamt 2,5 km). Diese Teilstrecken, die zum Teil sogar eine unterdurchschnittliche Unfallhäufigkeit aufwiesen, seien aber zu kurz, um vertretbarerweise eine Erhöhung auf eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h oder sogar darüber zulassen zu können.
Um festzustellen, ob auf den einzelnen geschwindigkeitsbeschränkten Streckenabschnitten eine Gefahrenlage vorliegt, die das allgemeine Risiko erheblich übersteigt, sei die Zahl der Unfälle auf den einzelnen Abschnitten („spezielles Risiko”) mit der Zahl der Unfälle auf dem gesamten deutschen Autobahnnetz („allgemeines Risiko”) zu vergleichen. Dabei sei jeweils die Zahl der Unfälle pro Autobahnkilometer ohne gesonderte Berücksichtigung der DTV heranzuziehen. Unzulässig sei es, entsprechend der Ansicht des Klägers nur auf den Durchschnitt derjenigen Abschnitte abzustellen, die mit dem streitigen Autobahnabschnitt vergleichbar seien. Anderenfalls müssten Maßnahmen unterbleiben, wenn auf vergleichbaren Autobahnabschnitten dieselben hohen Gefahren vorlägen, was nicht richtig sein könne. Deshalb sei eine erhebliche Überschreitung des allgemeinen Unfallrisikos jedenfalls dann gegeben, wenn die Unfallhäufigkeit auf dem fraglichen Streckenabschnitt um ein Drittel höher liege als die durchschnittliche Unfallhäufigkeit auf dem gesamten Autobahnnetz. Seien die Verhältnisse der zu untersuchenden Autobahnstrecke nicht einheitlich, so seien entsprechende Teilabschnitte zu bilden. Die Anwendung dieser Methode führe zu dem – im Einzelnen dargestellten – Ergebnis, dass bis auf die genannten kleinen Streckenabschnitte das spezifische Risiko ausreichend hoch sei.
Die angeordneten Maßnahmen seien auch geeignet. Dies ergebe sich daraus, dass die Zahl der Verkehrsunfälle auf dem in Rede stehenden Teil der BAB 1 nach Aufstellung der entsprechenden Verkehrsschilder insgesamt um mindestens 20 % zurückgegangen sei. Zu ermitteln, welche Ursachen die einzelnen Unfälle jeweils gehabt hätten, sei nicht erforderlich. Im Übrigen ergebe sich aus den Auskünften sachverständiger Stellen (Bundesanstalt für Straßenwesen, Bundesministerium für Verkehr), dass jedenfalls in aller Regel Geschwindigkeitsbeschränkungen zu einer Verringerung der Zahl der Unfälle führten.
Schließlich stünden auch keine milderen und gleichwohl gleich oder ähnlich wirksamen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zur Verfügung. Was die vom Kläger beanspruchten zeitlichen Eingrenzungen der Geschwindigkeitsbeschränkungen angehe, so sei es wegen verschiedener tatsächlicher Gegebenheiten (vor allem wegen wechselnder Einflüsse auf die Wochenend- und Ferienverkehre) nicht möglich, trennscharf und für die Verkehrsteilnehmer leicht nachvollziehbar verkehrsarme von verkehrsreichen Zeiten zu scheiden. Außerdem würde der Versuch, den verschiedenen Gegebenheiten durch entsprechend differenzierte Regelungen Rechnung zu tragen, zur Folge haben, dass die Verkehrsteilnehmer in unvertretbarer Weise verwirrt würden; es komme hier hinzu, dass die Vielzahl der Ein- und Ausfahrten zu zahlreichen Hinweisschildern namentlich in Form von Wegweisungstafeln (27 in Fahrtrichtung Norden und 25 in Fahrtrichtung Süden) geführt habe. Außerdem fielen verkehrsarme Zeiten ganz überwiegend in die Nachtzeit, in der die Orientierung naturgemäß ohnehin erschwert sei. Was die vom Kläger favorisierten Verkehrsbeeinflussungsanlagen anlange, so seien die hohen Kosten zu berücksichtigen (Schätzung von 12 bis 15 Millionen DM). Schließlich stelle es auch kein gleich wirksames Mittel dar, Geschwindigkeitsbeschränkungen nach einzelnen Fahrstreifen differenziert auszugestalten. Die erfahrungsgemäß gefährlichen Geschwindigkeitsdifferenzen würden dadurch gerade nicht beseitigt. Ähnlich verhalte es sich mit dem Gedanken, ein Überholverbot für Lastkraftwagen auszusprechen, weil auch hier die gefährlichen Geschwindigkeitsdifferenzen nicht abgebaut würden.
Die vom Berufungsgericht zugelassene, auf Aufhebung der Verfügungen zielende Revision ist wie folgt begründet:
In erster Linie sei zu beanstanden, dass das OVG den streitigen Autobahnabschnitt mit einem gleich langen durchschnittlichen Bundesautobahnabschnitt verglichen habe, anstatt vergleichbare bzw. umliegende Autobahnstrecken zur vergleichenden Bewertung heranzuziehen. Es könne nicht angenommen werden, dass die allgemeine Gefahr im Sinne des § 45 Abs. 9 StVO mit dem statistischen Durchschnitt der Unfallhäufigkeit auf allen Bundesautobahnen gleichzusetzen sei. Autobahnabschnitte in Ballungszentren machten lediglich einen geringen Anteil des Autobahnnetzes aus, und deshalb dürfe man vergleichend auch nur solche heranziehen.
Es sei auch methodisch falsch, allgemein auf die Unfallhäufigkeit und nicht auf die Häufigkeit der Unfälle abzustellen, die auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen seien. Namentlich dürfe man bei einer auf eine Geschwindigkeitsbeschränkung zielenden Auswertung von Unfällen diejenigen nicht in Betracht ziehen, die auf Alkoholeinfluss, ungenügenden Sicherheitsabstand, unzulässiges Rechtsüberholen, sonstige Überholfehler, falsche Fahrstreifenwechsel, Nichtbeachten der Vorfahrt, Fehler beim Einfahren in den fließenden Verkehr sowie unzureichend gesicherte Ladung zurückzuführen seien, von solchen Unfällen ganz zu schweigen, für die keine Ursache in den Unfallstatistiken angegeben sei. Für einen bestimmten Abschnitt, auf den 83 statistisch erfasste und vom OVG verwertete Unfälle entfielen, bedeute dies beispielsweise, dass lediglich 26 auf die Ursache überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen seien; Vergleichbares gelte für nahezu alle anderen untersuchten Abschnitte, was zu der Erkenntnis geführt hätte, dass lediglich ein geschwindigkeitsverursachter Anteil an Unfällen zwischen 20 und 26 % in die Berechnungen hätte eingestellt werden dürfen.
Selbst wenn man jedoch von diesen beiden Fehlern absehe, sei es nicht zu rechtfertigen, dass die Unfälle nicht auf die Tages- und die Nachtzeit aufgeschlüsselt worden seien (von 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr einerseits und von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr andererseits).
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Zu Recht habe das OVG besondere Umstände im Sinne des § 45 Abs. 9 StVO und damit eine besondere Gefahrenlage angenommen. Was den Einwand der Revision in Bezug auf die Vergleichsstrecken angehe, so seien schon vergleichbare Teilstrecken mit vergleichbaren Verkehrsbelastungen nicht erkennbar; selbst Autobahnabschnitte im Bereich anderer deutscher Großstädte ähnelten der hier in Rede stehenden nur bedingt. Auch die Forderung, nur geschwindigkeitsverursachte Unfälle in die Betrachtungen einzustellen, sei verfehlt; richtig sei es vielmehr, auf die besonderen örtlichen Faktoren abzustellen, die ein erheblich erhöhtes Unfallrisiko hervorriefen. Auch eine Differenzierung nach Tages- und Nachtzeit sei weder sinnvoll noch geboten; zwar sei das Unfallrisiko bei geringerer Verkehrsdichte insgesamt geringer, aber im vorliegenden Fall sei die überdurchschnittliche Verkehrsdichte nur einer von mehreren Risikofaktoren, die sich auch zur Nachtzeit auswirkten, wie beispielsweise die Vielzahl schwieriger Einordnungsvorgänge und die damit verbundenen Fahrstreifenwechsel. Es komme hinzu, dass der unfallträchtige Schwerlastverkehr sowie der aus Skandinavien herrührende Ferienverkehr auch und gerade nachts stattfinde, und nächtens vermehrt Übermüdungen und Fahrten unter Alkoholeinfluss anzutreffen seien.
Der Oberbundesanwalt verteidigt das angefochtene Urteil zwar hinsichtlich der auf die Tageszeit bezogenen Grundannahmen, meldet jedoch Bedenken an, soweit die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen „rund um die Uhr” gelten. Gerade die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO sehe ausdrücklich die Möglichkeit zeitlicher Begrenzungen von Geschwindigkeitsbeschränkungen vor, und insbesondere im Hinblick auf einige Geschwindigkeitsbeschränkungen auf 80 km/h vermöchten die hierfür angeführten Gründe bezogen auf die Nachtzeit nicht zu überzeugen, zumal eine rein tageszeitbezogene Differenzierung die Verkehrsteilnehmer nicht unvertretbar verwirren könne.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verletzt kein Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO. Die das Streitverfahren prägenden offenkundigen sowie vom OVG verfahrensfehlerfrei ermittelten und damit das Revisionsgericht im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Tatsachen rechtfertigen die Beurteilung der angefochtenen Maßnahmen als rechts- und ermessensfehlerfrei. Dies gilt auch, soweit der Kläger hilfsweise zumindest eine inhaltliche oder zeitliche Reduzierung der angefochtenen Maßnahmen begehrt.
1. Zu Recht hat das OVG die Vorschriften in § 45 der Straßenverkehrs-Ordnung – StVO – vom 16. November 1970 (BGBl I S. 1565, ber. BGBl 1971 I S. 38) in der zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung am 7. Dezember 1999 gültigen Fassung der Verordnung vom 25. Juni 1998 (BGBl I S. 1654) als Grundlage für die angeordneten Maßnahmen angesehen.
a) Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO, dessen Ermächtigungsgrundlage § 6 Abs. 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG – vom 19. Dezember 1952 (BGBl I S. 837), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. April 1998 (BGBl I S. 810), ist (vgl. Urteil vom 16. März 1994 – BVerwG 11 C 48.92 – Buchholz 442.151 § 46 StVO Nr. 10 S. 7 m.w.N.), können die zuständigen Straßenverkehrsbehörden „die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken”.
Diese Vorschrift stellt seit jeher die Rechtsgrundlage für Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen dar (vgl. für eine längere Gefällstrecke: Urteil vom 13. Dezember 1974 – BVerwG VII C 19.71 – Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 3 m.w.N.; für einen über 100 km langen Streckenabschnitt: Beschluss vom 12. September 1995 – BVerwG 11 B 23.95 – Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 34; für einen Abschnitt mit erhöhter Verkehrsdichte und deutlich erhöhter Unfallhäufigkeit: Urteil vom 21. Januar 1999 – BVerwG 3 C 9.98 – Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 38).
Daran hat die Anfügung des § 45 Abs. 9 StVO durch die Verordnung vom 7. August 1997 (BGBl I S. 2028) nichts geändert. Aus Wortlaut und Systematik der Vorschriften ergibt sich, dass § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO, der spezielle Bestimmungen für Beschränkungen des fließenden Verkehrs trifft, die allgemeine Ermächtigungsgrundlage des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO zwar modifiziert und konkretisiert, aber nicht ersetzt. Das bedeutet namentlich, dass auch Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO – bei Vorliegen der dort aufgeführten tatbestandlichen Voraussetzungen – prinzipiell im Ermessen der zuständigen Behörden stehen.
Ein Ermessen steht der Behörde insbesondere zu, soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll. Dabei ist allerdings der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen; dieser Grundsatz ist verletzt, wenn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs durch weniger weitgehende Anordnungen gewährleistet werden kann (vgl. Urteile vom 13. Dezember 1974 a.a.O. S. 10 f. m.w.N. sowie vom 27. Januar 1993 – BVerwG 11 C 35.92 – BVerwGE 92, 32 ≪35, 40≫).
b) § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO setzt für Beschränkungen des fließenden Verkehrs auf Autobahnen eine Gefahrenlage voraus, die – erstens – auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und – zweitens – das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den voranstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter (hier insbesondere: Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern sowie öffentliches und privates Sacheigentum) erheblich übersteigt. Beide Voraussetzungen liegen im Streitverfahren vor:
aa) Was zunächst die besonderen örtlichen Verhältnisse anlangt, die eine „besondere” Gefahrenlage hervorrufen können, hat das Bundesverwaltungsgericht der Sache nach bereits entschieden, dass sie beispielsweise gegeben sein können, wenn eine Bundesautobahn den „Charakter einer innerstädtischen Schnellstraße” angenommen hat, auf der unterschiedliche Verkehrsströme zusammengeführt und getrennt werden und deshalb eine erhöhte Unfallgefahr gegeben sein kann (vgl. Urteil vom 13. Dezember 1979 – BVerwG 7 C 46.78 – BVerwGE 59, 221 ≪230 f.≫). Eine solche Situation liegt hier fraglos vor, wobei noch zahlreiche erschwerende Umstände hinzukommen. Nach dem unbestrittenen Vorbringen der Beklagten und den vom OVG getroffenen tatsächlichen Feststellungen steht hier eine verhältnismäßig kurze Strecke von weniger als 20 km zur Beurteilung, die von zwei Autobahnkreuzen (Hamburg-Süd sowie Hamburg-Ost), einem Autobahndreieck (Hamburg-Südost) sowie einer Vielzahl von sonstigen Ab- und Auffahrten im Zusammenhang mit Anschlussstellen geprägt wird, so dass die „Abstände der Knotenpunkte” durchschnittlich nur 2,1 km betragen, während es im Bundesdurchschnitt 5,4 km sind. Es kommt zum einen hinzu, dass die fragliche Strecke auch über Brücken (Norder- und Süderelbbrücke) sowie durch einen Tunnel (Moorfleettunnel) führt. Zum anderen kommt hinzu, dass die in Rede stehenden Strecken zwar überwiegend, aber nicht durchgängig dreistreifig ausgebaut sind, so dass vermehrt Anlass besteht, sicherheitsrelevante Fahrstreifenwechsel durchzuführen. Schließlich fällt maßgeblich ins Gewicht, dass der sog. DTV-Wert, der die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke beschreibt, gegenüber den Werten für das gesamte Autobahnnetz in etwa doppelt so hoch ist, was darauf zurückzuführen ist, dass der Verkehr auf der fraglichen Strecke zu nicht exakt ermittelbaren Anteilen sowohl auf regionalem wie auch überregionalem Verkehr beruht, wobei zusätzlich der Anteil des sog. Schwerlastverkehrs überproportional hoch ist.
Es ist offensichtlich und bedarf keiner vertieften Begründung, dass die aus den vorstehenden Besonderheiten ableitbare Dichte sowohl des Verkehrs wie auch der Zu- und Abfahrten, diese verbunden mit einer entsprechenden Vielzahl von Hinweisschildern, zu einer auf besonderen örtlichen Verhältnissen beruhenden besonderen Gefahrenlage führt; über die – bei den gegebenen örtlichen Verhältnissen auf der Hand liegende – Gefahr von unvorhersehbaren Staubildungen hinaus ist der Hinweis der Beklagten überzeugend, dass gerade die Häufigkeit notwendiger Spurwechsel es angezeigt erscheinen lässt, die höchstmöglichen Geschwindigkeiten so zu bestimmen, dass die beteiligten Verkehrsteilnehmer die von den anderen Verkehrsteilnehmern gefahrenen Geschwindigkeiten gut abschätzen können und insbesondere in der Lage sind, diese bei Spurwechseln mit der eigenen gefahrenen Geschwindigkeit abgleichen zu können.
bb) Vergleichbares gilt für das Erfordernis, wonach das allgemeine Risiko einer Rechtsgutbeeinträchtigung durch die vorzufindende Gefahrenlage erheblich überstiegen werden muss.
Aus den vorstehend dargestellten örtlichen Besonderheiten ist die offensichtliche Befürchtung abzuleiten, dass, sähe die zuständige Straßenverkehrsbehörde von jeglicher gefahrenvermindernder Tätigkeit ab, alsbald mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermehrt Schadensfälle eintreten würden, womit das Vorliegen einer konkreten Gefahr (vgl. grundlegend Urteil vom 13. Dezember 1979 a.a.O. S. 225) belegt ist.
Obgleich die Bejahung einer konkreten Gefahrenlage vor allem eine sorgfältige Prüfung der Verkehrssituation voraussetzt (vgl. Urteil vom 13. Dezember 1974 a.a.O. S. 7 m.w.N.), bedarf es in einem solchen Fall nicht der Ermittlung eines Unfallhäufigkeits-Prozentsatzes, wie es das OVG angenommen und mit äußerst detaillierten Berechnungen umgesetzt hat. Ebenso wenig bedarf es vertiefter Ermittlungen zur Frage, wie hoch konkret der Anteil an feststellbaren bzw. zu erwartenden Unfällen ist, der ausschließlich oder überwiegend auf die Ursache „überhöhte Geschwindigkeit” zurückzuführen ist. Einem solchen vom Kläger aufgestellten Erfordernis steht bereits das schlichte Erfahrungswissen entgegen, dass Unfälle, zumal Unfälle auf Autobahnen, selten „monokausal” sind, sondern ganz überwiegend auf einer Mehrzahl von zusammenwirkenden Ursachen beruhen, die in ihren Verursachungs-Anteilen nicht oder nur schwer festzulegen sind; zum anderen hat das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang zu Recht auf den angesichts der deutlich erhöhten Unfallgefahr besonders bedeutsamen Umstand hingewiesen, dass regelmäßig durch verminderte Geschwindigkeiten zumindest der Schweregrad geschehener oder zu erwartender Unfälle positiv beeinflusst werden kann. Noch weniger ist es schließlich angesichts der dargestellten Besonderheiten – entgegen der Annahme der Revision – von Bedeutung, ob auf vergleichbaren Autobahnabschnitten ähnliche oder andere Unfallzahlen auszumachen sind; abgesehen davon, dass in der Bundesrepublik Deutschland ohnehin allenfalls wenige vergleichbare Strecken zu finden sein dürften, ist nicht ersichtlich und auch vom Kläger nicht dargetan, dass es dort keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gäbe. Die Forderungen der Revision laufen daher im Grunde auf das Verlangen hinaus, auf den streitigen Abschnitten „Feldversuche” der Art durchzuführen, dass Geschwindigkeitsfreigaben über längere Zeiträume ausprobiert werden, um die daraus resultierende Unfallentwicklung zu analysieren. Angesichts der handgreiflichen Gefahrenlage darf der Beklagten die Verantwortung hierfür nicht aufgebürdet werden.
cc) Im Streitfall hat sich die Richtigkeit der von der Beklagten angestellten Überlegungen im Übrigen bereits im Jahre 1995 erwiesen und in den folgenden Jahren bestätigt.
Ausgehend von der nach den getroffenen tatsächlichen Feststellungen zutreffenden Annahme, dass die Zahl der vor 1994 beobachteten Unfälle auf den streitigen Abschnitten deutlich höher war als auf dem Durchschnitt der bundesdeutschen Autobahnen (im Jahre 1994 sind annähernd 600 Unfälle registriert worden, wohingegen – bezogen auf Durchschnittsautobahnkilometer – äußerstenfalls mit zwischen 200 und 300 Unfällen zu rechnen gewesen wäre), hat die Beklagte im Ergebnis zutreffend prognostiziert, dass durch geschwindigkeitsbegrenzende Maßnahmen die Unfallzahlen statistisch signifikant zu senken seien; dementsprechend kam es im Jahre 1995 „nur” noch zu annähernd 500 Unfällen. Diese – mithin berechtigte – sachorientierte Erwartung reicht aus, um die angeordneten Maßnahmen als erforderlich sowie – im engeren und weiteren Sinne – verhältnismäßig zu beurteilen.
c) Vergeblich macht der Kläger geltend, gleiche Ergebnisse (Erfolge) hätten auch erzielt werden können, wenn die Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht durchgängig (in beiden Fahrtrichtungen ununterbrochen) und/oder jeweils milder (anstatt 100 km/h 120 km/h bzw. anstatt 80 km/h 100 km/h) ausgefallen wären.
Was zunächst den ersten Einwand des Klägers anlangt, so macht sich der erkennende Senat insoweit die zutreffende Einschätzung des OVG zu Eigen, dass eine zu kurze Freigabe der Geschwindigkeit mit einer Erhöhung der Gefahren vor allem für ortsunkundige Verkehrsteilnehmer verbunden sein kann.
Dem zweiten Einwand wäre dann weiter nachzugehen gewesen, wenn der Kläger zumindest ansatzweise den Nachweis einer ersichtlich sachfremden und damit unvertretbaren Maßnahme geführt hätte, was nicht der Fall ist. Nur unter dieser Voraussetzung nämlich könnte berechtigterweise davon die Rede sein, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einzelfall verletzt sei, weil sich die Straßenverkehrsbehörde trotz gleicher Tauglichkeit nicht mit dem – mit Blick auf den Kläger und andere Verkehrsteilnehmer – milderen Mittel einer weniger reduzierten Geschwindigkeitsanordnung begnügt habe. Dagegen bleibt es in Konstellationen der hier vorliegenden Art der Ermessensausübung der Straßenverkehrsbehörden vorbehalten, aufgrund ihres Sachverstandes und ihres Erfahrungswissens festzulegen, welche von mehreren in Betracht zu ziehenden Geschwindigkeitsreduzierungen den bestmöglichen Erfolg verspricht. Im Streitverfahren ist der Beklagten – wie ausgeführt – bei dieser konkreten Festlegung kein diesbezüglicher Fehler unterlaufen.
2. Der Kläger kann auch nicht verlangen, dass zumindest einzelne Tageszeiten (Abende und Nächte), bestimmte Tage oder Tagesgruppen (Samstage, Sonn- und Feiertage) oder jedenfalls zu bestimmten Jahreszeiten (außerhalb der Ferienzeiten etc.) einzelne Tageszeiten oder einzelne Tage bzw. Tagesgruppen von den getroffenen Maßnahmen auszunehmen seien. Auch insoweit macht sich der erkennende Senat die Erwägungen des angefochtenen Urteils zu Eigen, die ihrerseits auf den Erwägungen des Urteils vom 21. Januar 1999 – BVerwG 3 C 9.98 – (Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 38 S. 3) beruhen.
Hiernach ist zwar davon auszugehen, dass der Verkehr zu den vorstehend erwähnten Zeiten, namentlich in den Abend- und Nachtstunden, auf der in Rede stehenden Autobahn regelmäßig deutlich abnimmt. Daraus wird man auch ableiten können, dass zu den genannten Zeiten die Unfallhäufigkeit geringer ist, wie der erkennende Senat das angefochtene Urteil der Sache nach versteht, wenngleich hierzu konkrete Ermittlungen nicht angestellt worden sind.
Dies allein nötigt aber nicht zu der Bewertung, es müsse erprobt werden, ob es zu verantworten ist, die Geschwindigkeitsbeschränkungen entsprechend den Vorstellungen von Revision und Oberbundesanwalt zeitlich einzugrenzen und damit abzumildern. Zunächst hält der erkennende Senat an seiner allgemeinen Einschätzung fest, Verkehrszeichen und Verkehrsbeschränkungen seien desto wirksamer, je weniger sie bei Verkehrsteilnehmern die Frage aufwerfen können, ob eine Beschränkung gerade gilt oder nicht. Darüber hinaus ist die Bewertung durch Beklagte und OVG zumindest vertretbar, dass die den Streitfall prägenden örtlichen Besonderheiten, neben Brücken und einem Tunnel namentlich die vielen Zu- und Abfahrten sowie der häufige Wechsel der zur Verfügung stehenden Fahrspuren, sich auch zu verkehrsärmeren Zeiten als erhebliche Unfallquellen erweisen können. Schließlich hält der erkennende Senat auch die Hinweise für nachvollziehbar, dass sich die in Rede stehende Autobahn hinsichtlich der Beleuchtungs- und damit Sichtverhältnisse auch mit Blick auf die nächtlichen verkehrsärmeren Zeiten maßgeblich von einfacher strukturierten Autobahnabschnitten unterscheidet. Ebenso wenig ist überdies gegen die Richtigkeit des Hinweises auf die Bedeutsamkeit des auch zu an sich verkehrsarmen Zeiten starken Schwerlastverkehrs zu erinnern; nachts erweist es sich als noch schwieriger denn tagsüber, bei wegen Schwerlastverkehrs häufiger notwendigen Fahrstreifenwechseln die Geschwindigkeit solcher Verkehrsteilnehmer abzuschätzen, die – in ihrer Höchstgeschwindigkeit nicht begrenzt – sich von hinten kommend auf dem Fahrstreifen nähern, auf den ein Verkehrsteilnehmer zu wechseln beabsichtigt. Schließlich hält der erkennende Senat – unbeschadet des Umstands, dass derzeit offenbar radargesteuerte Verkehrsleitsysteme geschaffen werden (sollen) – den Hinweis des OVG für zutreffend, wonach allein die hohen Kosten radargesteuerter Verkehrsleitsysteme (hier ca. 12 – 15 Mill. DM) einem Anspruch des Klägers entgegenstehen, dass diese als mildere und gleichgeeignete Mittel die Stelle starrer Begrenzungen einzunehmen hätten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Prof. Dr. Driehaus, van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel, Dr. Brunn
Fundstellen
DAR 2001, 424 |
JA 2001, 932 |
NZV 2001, 528 |
NPA 2001, 0 |
VA 2001, 193 |