Entscheidungsstichwort (Thema)
Trinkwasserversorgung;. Wassergewinnungsanlage. Planfeststellung. Vorkehrungen. Selbstverwaltungsbefugnis, gemeindliche
Leitsatz (amtlich)
„Recht eines anderen” im Sinne des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ist jede Rechtsposition eines Betroffenen, welche diesem bei Vorhersehbarkeit der nachteiligen Wirkungen des Vorhabens einen Anspruch auf Vorkehrungen nach § 2074 Abs. 2 Satz 2 VwVfG vermittelt hätte.
Die Gemeinden können als Träger öffentlicher Interessen zugleich Träger eigener Rechte sein.
Die gemeindliche Selbstverwaltungsbefugnis vermittelt ein Abwehrrecht gegenüber erheblichen Beeinträchtigungen gemeindlicher Einrichtungen.
Einer Gemeinde kann ein Anspruch auf Vorkehrungen zustehen, wenn sie zum Schutz einer gemeindlichen Trinkwasserversorgungsanlage erforderlich sind.
Normenkette
GG Art. 28 Abs. 2 S. 1; VwVfG § 74 Abs. 2 S. 2, § 75 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
VGH Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.03.1997; Aktenzeichen 8 S 3188/96) |
VG Stuttgart (Entscheidung vom 18.09.1996; Aktenzeichen 8 K 1345/94) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 20. März 1997, das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. September 1996 und der Bescheid des Beklagten vom 23. August 1993 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 28. Februar 1994 aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Straßenbaulastträger für die Landesstraße L 1204 durch einen ergänzenden Planfeststellungsbeschluß aufzuerlegen, an die Klägerin eine angemessene Entschädigung in Geld dafür zu zahlen, daß eine Minderung der zur Trinkwasserversorgung genutzten sog. Hagenwiesenquelle eingetreten ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
I.
Die klagende Gemeinde ist Eigentümerin eines Grundstücks, auf dem sich eine der gemeindlichen Trinkwasserversorgung dienende gefaßte Quelle, die sog. Hagenwiesenquelle, befindet. Das Grundstück grenzt an die Landesstraße L 1204, die aufgrund des Planfeststellungsbeschlusses vom 30. April 1985 in den Jahren 1985/86 ausgebaut wurde. Dabei wurden zum Schutz der wasserführenden Schichten Drahtschotterkörbe (Gabionen) statt einer ursprünglich vorgesehenen Stützmauer verwendet. Nach Abschluß der Ausbauarbeiten wurde festgestellt, daß die Schüttung der Hagenwiesenquelle um ca. 90 % zurückgegangen war. Die Beteiligten und das Berufungsgericht gehen davon aus, daß der Straßenausbau den Rückgang der Quellschüttung verursacht hat.
Mit zwei Schreiben wandte sich die Klägerin in den Jahren 1986 und 1987 an das Regierungspräsidium Stuttgart und forderte Schadensersatz wegen des Rückgangs der Quellschüttung. Später stützte sie den Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 54 300 DM auf § 75 Abs. 2 Satz 2 und 4 LVwVfG. Sie machte geltend, ihr sei beim Erlaß des Planfeststellungsbeschlusses ein nicht vorhersehbarer Nachteil entstanden; da die Beeinträchtigungen technisch nicht mehr ausgleichbar seien, stehe ihr ein Anspruch auf Entschädigung in Geld zu.
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Entschädigung mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 75 Abs. 2 Satz 4 LVwVfG seien nicht gegeben. § 75 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG schütze nur vor Rechtsbeeinträchtigungen und nicht auch vor Beeinträchtigungen des öffentlichen Wohls. Eine von Art. 14 GG geschützte Rechtsposition sei hier nicht verletzt, weil das Grundwasser nicht Bestandteil des Grundeigentums sei.
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin Klage erhoben. Diese blieb im ersten und im zweiten Rechtszug erfolglos. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Zwar habe die Klägerin ihren Entschädigungsantrag in Übereinstimmung mit § 75 Abs. 3 LVwVfG korrekt und fristgerecht gestellt. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch lägen aber nicht vor. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 75 Abs. 2 Satz 4 LVwVfG sei ein Entschädigungsanspruch nur gegeben, wenn nicht voraussehbare Wirkungen auf das Recht eines anderen aufträten; eine Beeinträchtigung eines zwar abwägungserheblichen, aber rechtlich nicht geschützten Interesses genüge nicht. Es möge zutreffen, daß die Klägerin vor Erlaß des Planfeststellungsbeschlusses Vorkehrungen oder die Errichtung und Unterhaltung von Einrichtungen zum Schutz der Quellfassung hätte verlangen können, weil die Planfeststellungsbehörde nach § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG auch Vorkehrungen u.ä. aufzuerlegen habe, die zum Wohl der Allgemeinheit erforderlich seien, und weil dieser Verpflichtung ein Anspruch des Trägers des betroffenen öffentlichen Interesses korrespondieren könne. Ein Anspruch auf nachträgliche Schutzanlagen räume § 75 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG aber nur ein, wenn nicht voraussehbare Wirkungen auf das Recht eines anderen aufträten; ein Anspruch auf Planergänzung zum allgemeinen Wohl werde hierdurch nicht begründet. Rechte der Klägerin würden nicht beeinträchtigt. Aus ihrem einfachrechtlich geschützten Eigentum an dem Grundstück lasse sich kein Recht herleiten, die Quelle im bisherigen Umfang nutzen zu können; das Wasserhaushaltsgesetz ordne das Wasser der Allgemeinheit zu. Aus dem Landeswasserrecht ergebe sich ebenfalls kein Anspruch. Schließlich werde auch das durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützte gemeindliche Selbstverwaltungsrecht nicht verletzt, wenn staatliche Planungen Einrichtungen der öffentlichen Trinkwasserversorgung beeinträchtigten.
Mit der Revision begehrt die Klägerin weiterhin, den Beklagten zu verpflichten, dem Straßenbaulastträger für die Landesstraße L 1204 aufzuerlegen, an die Klägerin eine angemessene Entschädigung in Geld zu zahlen. Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren. Er teilt die Rechtsauffassung der Vorinstanz. Die Beeinträchtigung eines zwar abwägungserheblichen, aber rechtlich nicht geschützten Interesses könne im Anwendungsbereich des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG grundsätzlich keinen Anordnungsanspruch begründen. Den zum Wohl der Allgemeinheit möglicherweise gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG erforderlichen Schutzvorkehrungen korrespondiere kein darauf gerichtetes subjektives Recht der Klägerin.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt revisibles Recht. Der Klägerin steht ein Anspruch zu, eine angemessene Entschädigung in Geld dafür zu erhalten, daß infolge der durch den Planfeststellungsbeschluß vom 30. April 1985 zugelassenen Ausbauarbeiten die Schüttung der zur Trinkwasserversorgung genutzten Hagenwiesenquelle um ca. 90 % zurückgegangen ist. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Rechtsstreit entscheidungsreif. Demgemäß ist der Beklagte zu verpflichten, dem Straßenbaulastträger für die Landesstraße L 1204 aufzuerlegen, den früheren Planfeststellungsbeschluß zugunsten der Klägerin zu ergänzen.
Das Berufungsgericht nimmt an, daß als maßgebende Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Entschädigungsanspruch allein § 2075 Abs. 2 Satz 4 in Verbindung mit Satz 2 LVwVfG in Betracht kommt. Das trifft zu. Nach § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG sind dem Vorhabenträger Vorkehrungen oder die Errichtung und Unterhaltung von Anlagen aufzuerlegen, die zum Wohl der Allgemeinheit oder zur Vermeidung nachteiliger Wirkungen auf Rechte anderer erforderlich sind. Bei unvorhersehbaren Wirkungen des festgestellten Vorhabens auf das Recht eines anderen gilt dies gemäß § 75 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG trotz Unanfechtbarkeit des Plans ebenfalls. Sind Vorkehrungen oder Anlagen untunlich oder mit dem Vorhaben unvereinbar, richtet sich der Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld (vgl. § 75 Abs. 2 Satz 4 LVwVfG). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Die Klägerin verteidigt im Streitfall eine materielle Rechtsposition. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin könne als Gemeinde nur Belange des Allgemeinwohls geltend machen und dies sei lediglich im Verfahren der Planaufstellung nach § 2074 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG, wegen des anderen Wortlauts nicht jedoch im „Korrekturverfahren” des § 75 Abs. 2 LVwVfG möglich, verletzt revisibles Recht. Auf die vom Berufungsgericht hierzu betonte textliche Unterscheidung von § 2074 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG einerseits und § 75 Abs. 2 LVwVfG andererseits kommt es nicht an. Ob die geringfügigen textlichen Unterschiede für die Auslegung des § 75 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG überhaupt bedeutsam sein können, erscheint ohnedies zweifelhaft (vgl. auch Kühling, Fachplanungsrecht, 1988, Rn. 479, mißverständlich ders. dagegen in DVBl 1989, 221 ≪226≫; ferner Steinberg, Fachplanung, 2. Aufl. 1993, S. 283). Für den Streitfall genügt die Feststellung, daß die klagende Gemeinde eine solche Rechtsposition besitzt, die als „Recht eines anderen” im Sinne der genannten Vorschriften anzusehen ist. Eine derartiges Recht im Sinne des § 75 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG ist jedenfalls jede Rechtsposition eines Betroffenen, welche diesem bei Vorhersehbarkeit der nachteiligen Wirkungen des Vorhabens einen Anspruch auf Vorkehrungen nach § 2074 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG vermittelt hätte. Das entspricht der auch zu § 17 Abs. 6 Satz 2 FStrG (a.F.) entwickelten Auslegung (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. Juli 1988 – BVerwG 4 C 49.86 – BVerwGE 80, 7 ≪10≫).
Die Gemeinden sind nicht nur Träger öffentlicher Interessen. Sie können vielmehr in dieser Eigenschaft auch Träger eigener Rechte sein. Sie können das Wohl der Allgemeinheit verteidigen, soweit dieses durch ihre Selbstverwaltungsbefugnisse qualifiziert ist. Das folgt aus der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Selbstverwaltungsbefugnis. Diese vermittelt der Gemeinde – im Verhältnis zum Staat – materielle Rechtspositionen. Hiervon ist im Streitfall auszugehen. Nach den insoweit übereinstimmenden landesrechtlichen Regelungen gehört die öffentliche Trinkwasserversorgung zum eigenen Wirkungskreis der Gemeinden, der unter dem Schutz der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Die öffentliche Wasserversorgung ist für einwandfreies, gesundes Trinkwasser verantwortlich und kann im Einzugsbereich ihrer Brunnen rechtswidrige Beeinträchtigungen des Grundwassers abwehren (Bundesverwaltungsgericht, Beschluß vom 27. Januar 1988 – BVerwG 4 B 12.88 – ZfW 1988, 408 ≪409≫, unter Bezugnahme auf das Urteil vom 15. Juli 1987 2D BVerwG 4 C 56.83 – BVerwGE 78, 40 ≪43≫; vgl. auch schon Urteil vom 17. November 1972 – BVerwG 4 C 21.69 – BVerwGE 41, 178 ≪187 f.≫ und Urteil vom 15. April 1977 – BVerwG 4 C 3.74 – BVerwGE 52, 226 ≪233 f.≫). Demgegenüber ist es unerheblich, daß die Wasserversorgung, wie der Beklagte geltend macht, nicht Bestandteil des Kernbereichs der Selbstverwaltung ist und es sich hier bei der Hagenwiesenquelle sogar nur um eine Anlage zur Notwasserversorgung handelt. Darauf kommt es nicht an. Denn die gemeindliche Selbstverwaltungsbefugnis vermittelt ein Abwehrrecht auch gegenüber erheblichen Beeinträchtigungen gemeindlicher Einrichtungen. Eine Differenzierung der Wehrfähigkeit gemeindlicher Einrichtungen nach ihrer Größe und Bedeutung ist nicht möglich. Ebensowenig kommt es darauf an, ob durch das Straßenbauvorhaben in die bauliche Anlage der Einrichtung selbst eingegriffen wird oder ob sie nur in ihrer Funktionsfähigkeit zerstört oder erheblich beeinträchtigt wird. Auch durch Einwirken auf das Grundwasser in unmittelbarer Nähe der gefaßten Quelle wird die gemeindliche Wasserversorgungsanlage beeinträchtigt.
Es mag sein, daß im Einzelfall, etwa wegen Geringfügigkeit der nachteiligen Wirkungen, Vorkehrungen zum Schutz einer gemeindlichen Einrichtung nicht erforderlich im Sinne des § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG sind. Dann entfiele auch ein Anspruch auf Planergänzung gemäß § 75 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 LVwVfG, wenn die nachteiligen Wirkungen erst nachträglich erkannt werden. Wann Vorkehrungen erforderlich im Sinne von § 74 Abs. 2 Satz 2 LVwVfG sind, hängt von den jeweiligen besonderen Umständen ab und läßt sich nicht allgemeinverbindlich beschreiben. Im vorliegenden Fall stellt der Beklagte zwar jetzt die Notwendigkeit nachträglicher Vorkehrungen oder einer Entschädigung in Geld an ihrer Stelle in Abrede. Darauf kommt es aber nicht an. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die Erforderlichkeit von Vorkehrungen vor Erlaß des Planfeststellungsbeschlusses und vor Durchführung der Straßenbauarbeiten hätte beurteilt werden müssen, wenn die negativen Auswirkungen des Straßenbaus auf die Funktionsfähigkeit der Hagenwiesenquelle vorausgesehen worden wären. Für diesen Zeitpunkt fehlt es an einem substantiierten Bestreiten des Beklagten zur Erforderlichkeit der Maßnahme. Im Gegenteil ging auch der Beklagte von der Schutzbedürftigkeit der Wassergewinnungsanlage aus. Das ergibt sich aus dem Einbau von Drahtschotterkörben (Gabionen) zum Schutz der wasserführenden Schichten. Die Beteiligten haben lediglich nicht vorhergesehen, daß die gewählte Schutzmaßnahme ein ungeeignetes Mittel war. Dies war, wie der Beklagte nicht bestreitet, auch objektiv nicht vorhersehbar.
Unter den Beteiligten ist schließlich zu Recht nicht streitig, daß nachträgliche Vorkehrungen, durch die die Schüttung der Hagenwiesenquelle wiederhergestellt werden könnte, schon aus Kostengründen untunlich wären. Nach § 75 Abs. 2 Satz 4 LVwVfG steht der Klägerin deshalb eine angemessene Entschädigung in Geld zu.
Die Klägerin verlangt seit der Berufungsinstanz keinen bezifferten Entschädigungsbetrag. Vielmehr erstrebt sie eine ergänzende Planfeststellung dahin, daß ihr der Vorhabenträger eine angemessene Entschädigung in Geld zu zahlen habe. Ein derartiger Klageantrag ist faktisch auf den Erlaß eines „Grundurteils” in der Form eines Verpflichtungsurteils gerichtet; gegen seine Zulässigkeit sind hier keine Bedenken erkennbar. Da weitere Hinderungsgründe nicht geltend gemacht oder erkennbar sind, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden. Unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen ist dem Klageantrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Lemmel, Heeren, Halama
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 12.08.1999 durch Kurowski Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
BauR 2000, 857 |
NVwZ 2000, 675 |
DÖV 2000, 422 |
GewArch 2000, 193 |
NuR 2000, 320 |
ZfBR 2000, 204 |
BRS 2000, 354 |
BayVBl. 2000, 408 |
DVBl. 2000, 791 |
UPR 2000, 182 |
FSt 2000, 844 |
FuBW 2000, 875 |
LL 2000, 654 |