Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifpluralität. Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Tarifeinheit. Vorrang des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages vor einem spezielleren Tarifvertrag
Leitsatz (amtlich)
Ein inländischer Arbeitgeber, der vom betrieblichen Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Verfahrenstarifvertrages erfasst wird, ist im Zusammenhang mit der Gewährung von Urlaubsansprüchen zur Abführung von Beiträgen an eine Urlaubskasse als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien gesetzlich verpflichtet. Diese gesetzliche Bindung wird nicht durch einen für den Betrieb an sich tarifrechtlich geltenden sachnäheren Tarifvertrag verdrängt.
Normenkette
AEntG § 1 Abs. 3; ArbGG § 45 Abs. 3 S. 3
Tenor
Der Zehnte Senat schließt sich der Auffassung des Neunten Senats an, dass nach § 1 Abs. 3 AEntG ein inländischer Arbeitgeber, der vom betrieblichen Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Verfahrenstarifvertrages im Sinne § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG erfasst wird, im Zusammenhang mit der Gewährung von Urlaubsansprüchen zur Abführung von Beiträgen an eine Urlaubskasse als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien gesetzlich verpflichtet ist und diese gesetzliche Bindung durch einen für den Betrieb an sich tarifrechtlich geltenden sachnäheren Tarifvertrag nicht verdrängt wird.
Tatbestand
I. Der Neunte Senat hat beim Zehnten Senat gemäß § 45 Abs. 3 Satz 3 ArbGG angefragt, ob der Zehnte Senat an seiner Rechtsprechung zum Vorrang eines spezielleren Tarifvertrages gegenüber dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) in Fällen der Tarifpluralität festhält.
1. Der Zehnte Senat hat in Fortsetzung der Rechtsprechung des Vierten Senats in mehreren Entscheidungen, zuletzt im Urteil vom 4. Dezember 2002 (– 10 AZR 113/02 – AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 28), die Auffassung vertreten, dass der für allgemeinverbindlich erklärte VTV, der die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes (ZVK) als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien ermächtigt, von einem Arbeitgeber, dessen Betrieb unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV fällt, Auskünfte einzuholen und Beiträge einzuziehen, von einem speziellen Tarifvertrag verdrängt wird, auch wenn nur der Arbeitgeber gemäß § 3 Abs. 1 TVG an diesen Tarifvertrag gebunden ist (vgl. Urteil vom 26. Januar 1994 – 10 AZR 611/92 – BAGE 75, 298 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 22; Urteil vom 20. März 1991 – 4 AZR 455/90 – BAGE 67, 330 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 20).
Zur Begründung hat der Senat den Grundsatz der Tarifeinheit herangezogen, der aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gebiete, dass jedenfalls in den Fällen, in denen es um allgemeinverbindliche Tarifverträge gehe, die das Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien zu gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien regeln, im Betrieb nur ein Tarifvertrag Anwendung finden könne. Eine Tarifanwendung, die sich nach der Tarifgeltung im einzelnen Arbeitsverhältnis richte, führe zu tatsächlichen Unzuträglichkeiten, da die ZVK ihre Beitragsforderung nur unter Beachtung der Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer zutreffend berechnen könnte. Die Aufrechterhaltung der Funktionalität der gemeinsamen Einrichtung fordere deshalb aus Praktikabilitätsgründen die Anwendung nur eines Tarifvertrages, dessen Geltung nach dem Grundsatz der Spezialität zu ermitteln sei.
Diese Rechtsprechung des Senats ist in der Literatur fast einhellig auf Kritik gestoßen (vgl. die Nachweise bei Däubler/Zwanziger, TVG § 4 Rn. 943; Dörner, Kassler Handbuch zum Arbeitsrecht, Ziff. 8.1 Rn. 163; MünchArb Löwisch/Rieble Bd. III § 276 Rn. 17 f.).
Im Urteil vom 4. Dezember 2002 hat der Senat an dieser Rechtsprechung auch im Hinblick auf § 1 Abs. 3 AEntG, der eine gesetzliche Rechtspflicht zur Beitragsabführung für den inländischen und den ausländischen Arbeitgeber begründet, festgehalten. Dabei hat der Senat dieser gesetzlichen Vorschrift nur klarstellende Bedeutung beigemessen, wodurch eine Bußgeldbewährung ermöglicht, nicht aber Fragen der Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität im Verhältnis allgemeinverbindlicher Tarifverträge zu spezielleren Tarifverträgen geregelt werden sollten.
2. In einem Rechtsstreit, in dem die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) Urlaubskassenbeiträge von einem Arbeitgeber des Bauhauptgewerbes als Bürgen nach § 1a AEntG für ein polnisches Unternehmen geltend macht, möchte der Neunte Senat von der dargelegten Rechtsprechung des Zehnten Senats abweichen.
Der Neunte Senat hat bereits in mehreren Rechtsstreitigkeiten § 1 Abs. 3 AEntG dahingehend ausgelegt, dass diese Norm sowohl Bauarbeitgebern mit Sitz im Inland als auch Bauarbeitgebern mit Sitz im Ausland die Möglichkeit verschließe, durch Verbandsbeitritt oder Abschluss eines Haustarifvertrages die Anwendung der allgemeinverbindlichen Bautarifverträge abzuwenden. Diese Rechtsprechung möchte der Neunte Senat weiterhin – auch unabhängig von den vom Arbeitgeber mit dem Verbandsbeitritt oder dem Abschluss eines Haustarifvertrages verfolgten Zwecken – aufrecht erhalten. Er hat deshalb mit Beschluss vom 9. September 2003 an den Zehnten Senat folgende Anfrage gerichtet:
Der Neunte Senat möchte die Auffassung vertreten, dass nach § 1 Abs. 3 AEntG ein inländischer Arbeitgeber, der vom betrieblichen Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Urlaubskassenverfahrenstarifvertrages erfasst wird, gesetzlich zur Abführung der Urlaubskassenbeiträge verpflichtet ist. Diese gesetzliche Bindung wird durch einen für den Betrieb an sich tarifrechtlich geltenden sachnäheren Tarifvertrag nicht verdrängt.
Damit weicht der Neunte Senat von der Rechtsprechung des Zehnten Senats in seinem Urteil vom 4. Dezember 2002 – 10 AZR 113/02 – ab.
Der Neunte Senat fragt nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG an, ob der Zehnte Senat an seiner Rechtsauffassung festhält.
Entscheidungsgründe
II. Der Zehnte Senat gibt seine Rechtsprechung im Umfang der Anfrage des Neunten Senats auf.
1. Die Voraussetzungen für einen Beschluss des Zehnten Senats nach § 45 Abs. 3 Satz 3 ArbGG liegen vor. Die Rechtsauffassung, die der Neunte Senat vertreten möchte, weicht von der in der Entscheidung des Zehnten Senats im Urteil vom 4. Dezember 2002 vertretenen Rechtsauffassung ab.
Die Entscheidung des Zehnten Senats betraf eine Beitragsforderung der ZVK gegen einen Arbeitgeber, dessen Betrieb unter den betrieblichen Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich erklärten VTV fiel. Die ZVK gewährt gemäß § 3 VTV zusätzliche Leistungen zu den gesetzlichen Renten. Sie zieht mit den eigenen Beiträgen ua. diejenigen der ULAK ein. Die ULAK, die Klägerin im Rechtsstreit des Neunten Senats, erbringt Leistungen im Urlaubs-, Lohnausgleichs- und Berufsbildungsverfahren und hat nach § 3 Abs. 1 VTV Anspruch auf die zur Finanzierung dieser Leistungen festgesetzten Beiträge. Damit betraf die Entscheidung des Zehnten Senats im Urteil vom 4. Dezember 2002 auch Beitragsforderungen, die entsprechend dem in § 18 VTV in Verbindung mit dem „Tarifvertrag über die Aufteilung des an die tariflichen Sozialkassen des Baugewerbes abzuführenden Gesamtbetrages” festgelegten Verhältnis der ULAK zustanden. Insoweit ist die vom Zehnten Senat vertretene Rechtsauffassung auch für den der ULAK zustehenden Beitragsanteil (15,80 vH) tragend.
Der Zehnte Senat hat im Urteil vom 4. Dezember 2002 den Vorrang eines spezielleren Tarifvertrages (Metallbauer-Handwerk) vor dem VTV angenommen. Die Anwendung eines spezielleren Tarifvertrages wird im Verfahren vor dem Neunten Senat nicht geltend gemacht. Darüber, ob die Vorlagefrage für den Neunten Senat trotzdem entscheidungserheblich ist, hat der Zehnte Senat bei seiner Antwort auf die Vorlagefrage nicht zu befinden.
Der Neunte Senat hat seine Rechtsauffassung aus § 1 Abs. 3 AEntG begründet. Sie bezieht sich damit auf die Geltung von Rechtsnormen allgemeinverbindlich erklärter Tarifverträge des Bauhauptgewerbes oder des Baunebengewerbes im Sinne der §§ 1 und 2 der Baubetriebe-Verordnung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG. Wenn auch der betriebliche Geltungsbereich des VTV nicht mit den Begriffen „Bauhauptgewerbe” oder „Baunebengewerbe im Sinne der Baubetriebe-Verordnung” umschrieben wird, handelt es sich bei dem VTV inhaltlich um einen Tarifvertrag im Sinne § 1 Abs. 1 Satz 1 AEntG, so dass die Auffassung des Zehnten Senats zu dessen Verdrängung durch einen spezielleren Tarifvertrag von der Auffassung des Neunten Senats abweicht.
3. Der Neunte Senat legt § 1 Abs. 3 AEntG dahingehend aus, dass die gesetzliche Vorschrift (auch) für den inländischen Arbeitgeber die zwingende Anwendung von Rechtsnormen eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages vorschreibt, der einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien „im Zusammenhang mit der Gewährung von Urlaubsansprüchen” die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen überträgt.
Da in dem Rechtsstreit des Neunten Senats von der ULAK „Urlaubskassenbeiträge” im Sinne § 18 Abs. 1 Satz 2 VTV geltend gemacht werden, geht der Zehnte Senat davon aus, dass sich der entsprechend aus § 1 Abs. 3 AEntG begründete Vorrang des allgemeinverbindlichen VTV auch nur auf diesen Beitragsanteil bezieht. In diesem Falle betrifft die Entscheidung nicht Beiträge für das Lohnausgleichs- und Berufsbildungsverfahren, die der ULAK zustehen, und Beiträge zur Zusatzversorgung, die der ZVK zustehen.
4. Soweit Betriebe unter den Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages im Sinne § 1 Abs. 1 AEntG fallen und von einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien Beitragsansprüche im Zusammenhang mit der Gewährung von Urlaubsansprüchen im Sinne § 1 Abs. 3 AEntG geltend gemacht werden, gibt der Zehnte Senat seine Rechtsprechung, wonach ein solcher allgemeinverbindlicher Tarifvertrag durch einen spezielleren Tarifvertrag, an den nur der Arbeitgeber gebunden ist, verdrängt werden kann, auf.
a) Der Senat hat im Urteil vom 4. Dezember 2002 dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 AEntG nicht hinreichend Rechnung getragen, indem er in Anlehnung an Koberski/Asshoff/Holt, Arbeitnehmer-Entsendegesetz, 2. Aufl. § 1 Rn. 318 die Auffassung vertreten hat, § 1 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 AEntG hätten nur klarstellende Funktion und enthielten keine Regelungen für Tarifkonkurrenzen oder Tarifpluralitäten. Mit Recht verweist der Neunte Senat demgegenüber auf die gesetzlich ausdrücklich vorgeschriebene „zwingende” Anwendung der für allgemeinverbindlich erklärten tariflichen Bestimmungen. Unter Berücksichtigung der vom Neunten Senat herangezogenen Gesetzeszwecke und der Entstehung des Gesetzes vermag der Zehnte Senat seine Auslegung zu § 1 Abs. 3 AEntG nicht aufrecht zu erhalten. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass der vom Senat herangezogene Grundsatz der Tarifeinheit, worauf in der Literatur durchgehend verwiesen wird, im Tarifvertragsgesetz keinerlei Niederschlag gefunden hat. Unter diesen Umständen kann allein aus Praktikabilitätsgründen die vom Gesetzgeber zwingend angeordnete Geltung des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nicht verneint werden.
Im Übrigen wird den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, auf die der Zehnte Senat in seiner Rechtsprechung verwiesen hat, durch die vom Neunten Senat vertretene Auffassung jedenfalls hinsichtlich der Urlaubskassenbeiträge Rechnung getragen. Die oftmals schwierig zu beurteilende und demgemäß auch unterschiedlicher gerichtlicher Bewertung zugängliche Frage, ob ein Tarifvertrag spezieller als der VTV ist und deshalb diesem vorgeht, stellt sich insoweit nicht mehr.
b) Mit Recht vertritt der Neunte Senat die Auffassung, der Vorrang des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages vor einem spezielleren Tarifvertrag solle unabhängig davon gelten, ob der Arbeitgeber sich durch Verbandsbeitritt oder Abschluss eines Haustarifvertrages im allgemeinverbindlichen Tarifvertrag habe entziehen wollen. Eine solche Einbeziehung subjektiver Komponenten sieht das Arbeitnehmerentsendegesetz nicht vor.
Mit der vom Neunten Senat vertretenen Auffassung wird auch die vom Europäischen Gerichtshof im Urteil vom 24. Januar 2002 (– RS-C-164/99 – EUGHE I 2002, 787) aufgeworfene Problematik der Ungleichbehandlung inländischer und ausländischer Arbeitgeber bei der Unterschreitung allgemeinverbindlicher Tarifverträge durch Abschluss von Firmentarifverträgen vermieden.
c) Der Zehnte Senat hat seine Rechtsauffassung insbesondere im Urteil vom 4. Dezember 2002 mit der Aufrechterhaltung der Funktionalität einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien begründet. Diese erfordere, dass die ZVK beim Beitragseinzug für den gesamten Betrieb einheitlich verfahren könne, wenn die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers festgestellt worden ist. Insoweit wird die Einheitlichkeit des Beitragseinzugs durch die vom Neunten Senat vertretene Auffassung nicht gefährdet, jedenfalls soweit die Urlaubskassenbeiträge betroffen sind, sondern eher gestärkt.
Wie in Bezug auf die Beitragsanteile für Lohnausgleich, Berufsbildung und Zusatzversorgung zu verfahren ist, bleibt offen.
d) Daran anknüpfend stellt sich die Frage, inwieweit der unter die Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG fallenden Mitgliedschaft eines Arbeitgebers in einem Verband Rechnung getragen werden kann, der mit einer Gewerkschaft einen für die Branche spezifischen Tarifvertrag abgeschlossen hat. Diese Konstellation ist insbesondere im Handwerksbereich nicht selten (vgl. die Sache – 10 AZR 22/04 – zur Anwendung des MTV Schreiner Saar, abgeschlossen vom Wirtschaftsverband Holz und Kunststoff Saar e.V. und der IG Metall).
Der Tarifautonomie solcher Verbände kann sowohl dadurch Rechnung getragen werden, dass die Tarifparteien des Baugewerbes selbst bestimmte Gewerke aus dem Geltungsbereich ihrer Tarifverträge ausnehmen (z.B. § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV) und zum anderen dadurch, dass die Verbände im Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung darauf hinwirken, von dieser nicht erfasst zu werden. Insoweit steht ihnen auch der Rechtsweg offen.
Unterschriften
Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, v. Baumgarten, Petri
Fundstellen
Haufe-Index 1480090 |
IBR 2004, 462 |