Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmungsrecht des Arbeitgebers durch Tarifvertrag
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach dem Normzweck des § 87 BetrVG soll der Betriebsrat in den in § 87 BetrVG genannten Angelegenheiten gleichberechtigt mitbestimmen.
2. Eine Tarifnorm schließt das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Eingangssatz BetrVG nur aus, wenn sie die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst abschließend und zwingend regelt und das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers beseitigt.
Dagegen ist eine Tarifbestimmung (hier: MTV für gewerbliche Arbeitnehmer der Schaubühne im Lehniner Platz), die das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers wiederherstellt, keine Tarifnorm im Sinne von § 87 Abs 1 Eingangssatz BetrVG, so daß das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 BetrVG in diesem Falle bestehen bleibt.
Normenkette
TVG § 1; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 02.11.1987; Aktenzeichen 12 TaBV 5/87) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 13.03.1987; Aktenzeichen 34 BV 8/86) |
Gründe
A. Betriebsrat und Arbeitgeber streiten darüber, ob der antragstellende Betriebsrat bei der Anordnung von Überstunden für Arbeiter mit Anspruch auf die sog. Theaterbetriebszulage lediglich über die zeitliche Lage von sechs Überstunden pro Woche oder umfassend im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, d.h. auch über die sachliche Berechtigung der angeordneten Überstunden mitzubestimmen hat. Wegen dieser Meinungsverschiedenheit ist es bei der Aufstellung der Dienstpläne in den Jahren 1985 und 1986 zu Einigungsstellenverhandlungen gekommen, nachdem der Betriebsrat die sachliche Berechtigung der vom Arbeitgeber angeordneten und in den Dienstplan aufgenommenen Überstunden bestritten hatte. Beide Einigungsstellenverfahren endeten mit einer Einigung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber, so daß die streitige Rechtsfrage nicht entschieden wurde.
Ursache für den Streit über den Umfang des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist der zwischen dem Arbeitgeber und der ÖTV mit Wirkung ab 1. Januar 1984 abgeschlossene Manteltarifvertrag. Die Vorschriften des MTV, soweit sie für den vorliegenden Rechtsstreit von Bedeutung sind, lauten:
§ 6 Arbeitszeit
1) Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt für vollbe-
schäftigte Arbeiter, ausschließlich der Pausen
durchschnittlich 40 Stunden wöchentlich...
.....
§ 9 Überstunden
1) Überstunden sind auf dringende Fälle zu beschränken
und möglichst gleichmäßig auf die Arbeiter zu ver-
teilen.
Überstunden, deren Notwendigkeit voraussehbar ist,
sind am Vortage anzusagen.
2) Die Arbeiter, die einen Anspruch auf 22 % Theater-
betriebszulage haben, können zu einer Mehrarbeit
bzw. Überstunden von bis zu sechs Stunden wöchent-
lich herangezogen werden. Der Betriebsrat bestimmt
über die zeitliche Lage dieser Überstunden mit.
§ 10 Theaterbetriebszulage
1) Arbeiter, die nicht nur gelegentlich an Sonn- und
Feiertagen tätig sein müssen und üblicherweise
eine unregelmäßige Arbeitszeit haben, erhalten
auch zur Abgeltung der damit verbundenen Erschwer-
nisse eine Theaterbetriebszulage in Höhe von 22 %
des Monatsgrundlohnes.
Mit diesem Zuschlag sind außerdem abgegolten:
a) Verpflichtung zur Teilnahme an Gastspielen,
b) Zeitzuschläge für Sonn-, Vorfesttags- und
Feiertagsarbeiten,
c) Zeitzuschläge für sechs Überstunden je Woche,
d) Zeitzuschläge für Nachtarbeit von 23.00 Uhr
bis 0.00 Uhr.
Nachdem am 4. Juni 1986 ein Gespräch zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat über das Verfahren bei der Genehmigung von Dienstplänen durch den Betriebsrat stattgefunden hatte, stellte der Betriebsrat mit einem Schreiben vom 28. August 1986 noch einmal klar, daß er an seiner Auffassung festhalte, ihm stehe auch für die Anordnung von bis zu sechs Überstunden pro Woche ein volles Mitbestimmungsrecht zu. Mit einem an den Betriebsrat gerichteten Schreiben vom 24. September 1986 bekräftigte der Arbeitgeber seine Auffassung, der Betriebsrat könne auf der Basis des einschlägigen Tarifvertrages von bis zu sechs Überstunden pro Woche lediglich über die zeitliche Lage derselben mitbestimmen.
Daraufhin hat der Betriebsrat mit einem am 22. Oktober 1986 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antrag das vorliegende Beschlußverfahren zur Klärung der zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfrage eingeleitet. Aktuelle Meinungsverschiedenheiten über die sachliche Berechtigung von Überstunden gab es zu diesem Zeitpunkt nicht, so daß aus diesem Grunde auch nicht die Einigungsstelle angerufen war.
Der Betriebsrat hat vorgetragen, § 9 Ziff. 2 MTV wäre unwirksam, wenn man ihn dahin auslegen wollte, der Betriebsrat habe nur bei der zeitlichen Lage der Anordnung von Kurzarbeit mitzubestimmen. Tatsächlich hätten die Tarifvertragsparteien in § 9 Ziff. 2 MTV jedoch nur klarstellen wollen, daß der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG bei der Anordnung von Kurzarbeit mitzubestimmen habe.
Der Betriebsrat hat beantragt
festzustellen, daß er bei der Anordnung von
Überstunden gemäß § 9 Ziff. 2 des Mantelta-
rifvertrages vom 21. März 1985 zwischen der
Schaubühne am Lehniner Platz und der Gewerk-
schaft ÖTV nicht nur über die zeitliche Lage,
sonder umfassend im Sinne von § 87 Abs. 1
Nr. 3 BetrVG mitzubestimmen habe.
Der Arbeitgeber hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, im Hinblick auf die einschlägige Vorschrift des Manteltarifvertrages stehe dem Betriebsrat bei der Anordnung von bis zu sechs Überstunden pro Woche für Arbeiter mit Anspruch auf die sog. Theaterbetriebszulage ein Mitbestimmungsrecht lediglich für die zeitliche Lage der Überstunden zu.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Betriebsrats mit der Begründung zurückgewiesen, für die Durchführung des Beschlußverfahrens bestehe mangels einer aktuellen Meinungsverschiedenheit kein Rechtsschutzbedürfnis. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats mit der Begründung zurückgewiesen, der Antrag des Betriebsrats sei zwar zulässig, aber unbegründet, weil das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats durch § 9 Ziff. 2 MTV eingeschränkt sei und diese Tarifnorm (gerade noch) rechtswirksam sei. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat den ursprünglich gestellten Antrag weiter, während der Arbeitgeber beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist begründet. Der Beschluß des Landesarbeitsgerichts war aufzuheben, der Beschluß des Arbeitsgerichts abzuändern und dem Antrag des Betriebsrats stattzugeben.
I. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, der Antrag des Betriebsrats sei zulässig.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist es zulässig, auch losgelöst von einem konkreten, inzwischen erledigten Einzelfall die Feststellung eines umstrittenen Beteiligungsrechts zu beantragen, wenn die Klärung des Beteiligungsrechts für künftige vergleichbare Fälle erforderlich ist (BAGE 39, 259 = AP Nr. 5 zu § 83 ArbGG 1979; Beschluß vom 10. April 1984 - 1 ABR 73/82 - AP Nr. 3 zu § 81 ArbGG 1979; BAGE 51, 151, 156 = AP Nr. 33 zu § 99 BetrVG 1972, zu B I 2 b der Gründe und BAG Beschluß vom 12. Juli 1988 - 1 ABR 85/86 - zu B I 2 b der Gründe, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).
2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Beteiligten haben in der Vergangenheit mindestens in zwei Fällen bei der Aufstellung von jährlichen Dienstplänen über den Umfang des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei der Anordnung von Überstunden gestritten. Aus dem Schriftwechsel der Beteiligten ergibt sich, daß der Streit über den Umfang des Mitbestimmungsrechts nach wie vor besteht. Dieser kann auch jederzeit wieder zu einem aktuellen Konflikt führen. Schließlich sind für Bühnenhandwerker, die Anspruch auf die tarifliche Theaterbetriebszulage haben, ständig Dienstpläne zu erstellen. Dabei kann es jederzeit zu einem Ausbruch des Streits über den Umfang des Mitbestimmungsrechts kommen, weil es nicht unwahrscheinlich ist, daß in dem einen oder anderen Falle der Betriebsrat die Anordnung der Überstunden für sachlich nicht gerechtfertigt hält.
Dem Landesarbeitsgericht ist darin zu folgen, daß dem Betriebsrat gerade im vorliegenden Falle nicht angesonnen werden kann, mit der Einleitung eines entsprechenden Beschlußverfahrens so lange zu warten, bis aus Anlaß des Streits über den Umfang des Mitbestimmungsrechts anläßlich der Aufstellung eines konkreten Dienstplanes der Kompetenzkonflikt wieder aktuell wird. Auch in einem solchen Falle könnte nämlich das Beschlußverfahren den Konflikt im Zweifel nicht lösen, weil davon ausgegangen werden muß, daß vor Ablauf der Zeit, für die der Dienstplan aufgestellt wird, eine rechtskräftige Entscheidung nicht ergehen kann. Gerade wegen der Notwendigkeit, ständig Dienstpläne, die Überstunden enthalten können, aufzustellen, und der jeweils kurzfristigen Erledigung der Meinungsverschiedenheiten durch Zeitablauf, ist das Rechtsschutzinteresse für den vom Betriebsrat gestellten Feststellungsantrag anzuerkennen.
II. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der Antrag des Betriebsrats auch begründet.
1. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht den Inhalt des § 9 Ziff. 2 MTV bestimmt. Die grammatikalische und systematische Auslegung von § 9 Ziff. 1 und 2 i. Verb. mit § 6 Ziff. 1 und § 10 MTV ergibt, daß § 9 Ziff. 2 MTV eine abschließende tarifliche Regelung darüber enthält, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber für Arbeiter mit Anspruch auf Theaterbetriebszulage Überstunden anordnen kann und in welchem Ausmaß der Betriebsrat hierbei zu beteiligen ist.
Während sich aus § 6 Ziff. 1 MTV ergibt, daß die regelmäßige Arbeitszeit für vollzeitbeschäftigte Arbeiter ausschließlich der Pausen durchschnittlich 40 Stunden in der Woche beträgt, legt § 9 Ziff. 1 MTV für die Anordnung aller Überstunden fest, daß Überstunden auf dringende Fälle zu beschränken und möglichst gleichmäßig auf die Arbeiter zu verteilen sind, außerdem, daß sie am Vortage anzusagen sind, wenn die Notwendigkeit voraussehbar ist.
Nur für die Arbeiter, die einen Anspruch auf eine Theaterbetriebszulage in Höhe von 22 % des Monatsgrundlohnes haben, enthält § 9 Ziff. 2 MTV eine Sonderregelung: Danach wird die wöchentliche Arbeitszeit für diese Arbeiter nicht etwa um x Stunden erhöht, vielmehr wird dem Arbeitgeber ein einseitiges Bestimmungsrecht eingeräumt, soweit er für diese Arbeiter Überstunden von bis zu sechs Stunden in der Woche anordnen will. Der Betriebsrat hat nach § 9 Ziff. 2 MTV für diese Arbeiter mit Theaterbetriebszulage, wenn Überstunden bis zu sechs Stunden in der Woche angeordnet werden sollen, nur ein Mitbestimmungsrecht über die zeitliche Lage dieser Überstunden.
Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Auffassung des Betriebsrats zurückgewiesen, diese Tarifnorm enthalte lediglich einen deklaratorischen Hinweis, daß das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unberührt bleiben solle, mit dieser Norm des § 9 Ziff. 2 MTV eine Einschränkung des Mitbestimmungsrechts jedoch nicht beabsichtigt gewesen sei. Für die Ermittlung des Willens der Tarifvertragsparteien kann nur berücksichtigt werden, was Ausdruck in dem Tarifvertrag gefunden hat. Im vorliegenden Falle haben die Tarifvertragsparteien nach dem Wortlaut des § 9 Ziff. 2 MTV das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anordnung von Überstunden eingeschränkt. Eine Relativierung dieser Norm dahin, mit ihr habe nur klargestellt werden sollen, daß das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unberührt bleibe, kann dem Tarifvertrag nicht entnommen werden. Ein deklaratorischer Charakter einer Vorschrift kann wenigstens dann nicht angenommen werden, wenn nur auf einen Teilaspekt eines Mitbestimmungsrechts verwiesen wird. Das gilt zumindest dann, wenn der Tarifvertrag lange Zeit nach Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 geschlossen wurde, wie dies im vorliegenden Fall (21. März 1985) geschehen ist. Ein lediglich deklaratorischer Gehalt der tariflichen Regelung in § 9 Ziff. 2 Satz 2 MTV ließe sich allenfalls unter historischen Gesichtspunkten begründen, wenn zum Zeitpunkt des Abschlusses des Manteltarifvertrages noch § 56 BetrVG 1952 in Kraft gewesen wäre, wonach der Betriebsrat nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Mitbestimmungsrecht nur bei der Lage der Arbeitszeit gehabt hatte (vgl. Senatsbeschluß vom 24. November 1987 - 1 ABR 12/86 - AP Nr. 6 zu § 87 BetrVG 1972 Akkord, für eine Tarifbestimmung, die den Wortlaut eines Tarifvertrages wiederholt hatte, der 1966 abgeschlossen worden war und nach dem die nachfolgenden Bestimmungen dieses Paragraphen keine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 erster Halbsatz BetrVG enthalten).
Fehlt vorliegend ein entsprechender historischer Bezug, ist nach dem Wortlaut und dem Gesamtzusammenhang der Tarifbestimmungen davon auszugehen, daß § 9 Ziff. 2 Satz 2 MTV konstitutive Wirkung hat und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verkürzen sollte.
2. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anordnung von bis zu sechs Überstunden in der Woche für Arbeiter mit einer Theaterbetriebszulage wäre ausgeschlossen, wenn es sich bei § 9 Ziff. 2 MTV um eine Tarifnorm handeln würde, für die der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG gelten würde. Das ist aber nicht der Fall.
a) Der Inhalt von § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG läßt sich zutreffend nur aus dem Normzweck des § 87 BetrVG erschließen. Die notwendige Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten dient dem Schutz der Arbeitnehmer und hierbei insbesondere der gleichberechtigten Teilhabe an den sie betreffenden Entscheidungen (vgl. Wiese, GK-BetrVG, 3. Bearbeitung, § 87 Rz 33 ff. m.w.N.; derselbe, Zum Gesetzes- und Tarifvorbehalt nach § 87 Abs. 1 BetrVG, BAG-Festschrift, S. 661, 662; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 87 Rz 58; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 87 Rz 133; Hanau, BB 1972, 499, 500; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., § 87 Rz 10 a ff.).
b) Wiese (aaO, S. 663) ist auch darin zu folgen, daß unter tariflichen Regelungen im Sinne des Eingangssatzes nicht nur tarifliche Schutznormen zugunsten der Arbeitnehmer zu verstehen sind. Eine derartige Betrachtungsweise würde dem Schutzzweck des § 87 BetrVG nicht gerecht werden. Da § 87 dem Betriebsrat eine gleichberechtigte Teilhabe an den die Belegschaft betreffenden sozialen Angelegenheiten geben will, ist entscheidend, ob durch eine Tarifnorm das ohne § 87 BetrVG bestehende einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers beseitigt wird oder nicht. Es kommt also nicht auf den materiellen Gehalt der Tarifnorm an. So kann beispielsweise die wöchentliche Arbeitszeit für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern für bestimmte Zeiten verlängert werden. In diesem Falle entfällt das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, sofern da der Tarifvertrag die Angelegenheit materiell regelt, so daß die Tarifunterworfenen nur noch den Tarifvertrag anzuwenden haben. Entscheidend ist, ob Gesetz oder Tarifvertrag eine Angelegenheit in der Weise regeln, daß dem Arbeitgeber kein einseitiges Bestimmungsrecht mehr bleibt. Ist dies der Fall, besteht auch kein Bedürfnis mehr für eine Mitbestimmung des Betriebsrats (vgl. Senatsbeschluß vom 26. Mai 1988 - 1 ABR 9/87 - zur Veröffentlichung vorgesehen; Wiese, aaO, S. 664, m.w.N.).
c) Ist der Gesetzgeber also davon ausgegangen, daß die Angelegenheiten des § 87 BetrVG entweder durch Gesetz oder Tarifvertrag oder auf betrieblicher Ebene paritätisch geregelt werden und sollen damit die individualrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitgebers durch gesetzliche oder kollektivrechtliche Regelungen ersetzt werden, ist die unabweisbare Konsequenz hieraus, daß die notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats nur dann ausgeschlossen ist, wenn eine Angelegenheit im Sinne des § 87 BetrVG durch Gesetz oder Tarifvertrag inhaltlich geregelt worden ist. Der Senat hat dementsprechend bereits durch Beschluß vom 13. März 1973 (BAGE 25, 93 = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Werkmietwohnungen) entschieden, eine durch das Gesetz eingeräumte bloße rechtliche Gestaltungsmöglichkeit sei keine gesetzliche Regelung eines der Mitbestimmungstatbestände des § 87 Abs. 1 Nr. 1 - 12 BetrVG 1972. Der soziale Schutzzweck der Mitbestimmungsrechte könne nur durch eine die sachliche Substanz selbst regelnde gesetzliche oder tarifliche Norm verdrängt werden. Und im Beschluß vom 17. Dezember 1985 (BAGE 50, 313 = AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang) hat der Senat ausgeführt, der durch den Eingangssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG begründete Vorrang einer tariflichen vor einer mitbestimmten betrieblichen Regelung greife nur dann ein, wenn die tarifliche Regelung die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst abschließend und zwingend regele und damit schon selbst dem Schutzzweck des sonst gegebenen Mitbestimmungsrechts Genüge tut (vgl. ebenso Wiese, aaO, S. 669). Dem entspricht es, wenn Hess/Schlochauer/Glaubitz (aaO, § 87 Rz 58) die Auffassung vertreten, das Mitbestimmungsrecht könne nach seinem Zweck nur dann hinter eine tarifliche Regelung zurücktreten, wenn die Angelegenheit durch den gemeinsamen Willen der Tarifvertragsparteien der Sache nach geordnet sei. Der Satzeingang von Abs. 1 ermächtige die Tarifvertragsparteien nicht dazu, in einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit das Alleinbestimmungsrecht des Arbeitgebers wiederherzustellen (so auch Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, aaO, § 87 Rz 10 a; Dietz/Richardi, aaO, § 87 Rz 131; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 4 Rz 282; Hanau, BB 1972, 499, 500; Preis, DB 1973, 474, 477; LAG Berlin EzA § 87 BetrVG 1972 Nr. 6; ArbG Berlin, BB 1973, 289, 291; ArbG Herford, DB 1975, 1323).
Der entgegengesetzten Auffassung von Löwisch (Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 87 Rz 52; derselbe, AuR 1978, 97, 105), der einen Vorrang des Tarifvertrags annimmt, wenn ein "sachlich-vernünftiger Grund" für ein einseitiges Bestimmungsrecht gegeben ist, kann nicht gefolgt werden. Was in Tarifverträgen zulässigerweise geregelt werden kann, ist nach dem Schutzzweck des § 87 BetrVG nach objektiven Kriterien zu beantworten. Danach darf die Parität der Betriebspartner durch Tarifvertrag nicht einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer wieder beseitigt werden, selbst wenn dafür "sachlich-vernünftige" Gründe sprechen sollten. Wiese (aaO, S. 676) ist darin zuzustimmen, daß mit der Begründung von Löwisch sich die gesetzlichen Regelungen fast beliebig zugunsten der einen oder anderen Seite auf Kosten der Rechtssicherheit ausfüllen ließen.
Das von Löwisch (aaO) und Stege/Weinspach (BetrVG, 5. Aufl., § 87 Rz 31 - ohne Begründung) vertretene Ergebnis läßt sich auch nicht mit dem Vorrang der Tarifautonomie begründen. Der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG erklärt sich nicht in erster Linie aus der Tarifautonomie, sondern aus dem Schutzzweck des § 87 BetrVG, der erst dann gewährleistet ist, wenn die Tarifvertragsparteien das Bestimmungsrecht des Arbeitgebers bereits im Tarifvertrag ausschließen oder das einseitige Bestimmungsrecht durch Gesetz ausgeschlossen ist.
Dementsprechend bleibt festzuhalten, daß die Tarifvertragsparteien sich nicht auf den Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG berufen können, wenn sie mit einer Tarifnorm sich lediglich darauf beschränken, die notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats auszuschließen. Die notwendige Mitbestimmung nach § 87 BetrVG wird also nicht verdrängt, wenn dem Arbeitgeber durch die Tarifnorm lediglich ein einseitiges Bestimmungsrecht zugewiesen wird (BAGE 25, 93 = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Werkmietwohnungen; BAGE 26, 60 = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit; Wiese, aaO, S. 675; Dietz/Richardi, aaO, § 87 Rz 131; Konzen, BB 1977, 1307, 1309; von Stebut, RdA 1974, 332, 338 ff.; Wiedemann/Stumpf, aaO, § 4 Rz 282; Wiese, GK-BetrVG, 3. Bearbeitung, § 87 Rz 40).
d) Vorliegend haben die Tarifvertragsparteien in § 9 Ziff. 2 MTV nicht abschließend die Anordnung von Überstunden für die Arbeiter, die einen Anspruch auf Theaterbetriebszulage von 22 % des Monatsgrundlohns haben, geregelt. Vielmehr haben sie dem Arbeitgeber für Überstunden bis zu sechs Stunden in der Woche ein einseitiges Bestimmungsrecht eingeräumt und das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG insoweit auf die zeitliche Lage der Überstunden reduziert. Die Tarifvertragsparteien haben gerade nicht eine Regelung beschlossen, die Arbeitszeit für einen bestimmten Kreis von Arbeitnehmern für eine bestimmte Zeit um x Stunden zu erhöhen, so daß diese Norm vom Arbeitgeber nur umzusetzen wäre. Die Tarifvertragsparteien haben gerade das getan, was sie nicht tun dürfen, wenn sie sich auf den Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG berufen wollen: Sie haben das einseitige Bestimmungsrecht - wenn auch nur teilweise - des Arbeitgebers wiederhergestellt. Gerade das ist es, was § 87 BetrVG den Tarifvertragsparteien untersagt. Insoweit ist daher diese Tarifbestimmung unwirksam mit der Rechtsfolge, daß der Betriebsrat sein volles Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ausüben kann. Deshalb war antragsgemäß festzustellen, daß der Betriebsrat bei der Anordnung von Überstunden gem. § 9 Ziff. 2 des Manteltarifvertrages vom 21. März 1985 nicht nur über deren zeitliche Lage, sondern umfassend im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG mitzubestimmen hat.
Das Landesarbeitsgericht hat die Problematik der Tarifbestimmung gesehen, aber die Auffassung vertreten, § 9 Ziff. 2 MTV sei "gerade noch" als wirksam anzusehen, weil mit der in § 10 MTV geregelten Theaterbetriebszulage ein entsprechendes Entgelt vereinbart worden sei. Diese Theaterbetriebszulage sei ein angemessener pauschaler Ausgleich dafür, daß der Arbeitgeber praktisch einseitig bestimmen könne, was als "dringender Fall" für die Leistung von bis zu sechs Überstunden pro Woche anzusehen sei. Dabei übersieht das Beschwerdegericht, daß der Normzweck des § 87 BetrVG die gleichberechtigte Teilhabe des Betriebsrats in den sozialen Angelegenheiten ist, die für die Belegschaft bedeutsam sind und eine davon abweichende Tarifnorm nur zulässig ist, wenn das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers nicht wiederhergestellt wird. Es kommt - wie bereits oben ausgeführt - nicht darauf an, ob die konkrete materielle Regelung für den einzelnen Arbeitnehmer günstig oder ungünstig ist, weil der Schutzzweck des § 87 BetrVG allein darin besteht, das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers durch eine obligatorische Mitbestimmung zu ersetzen, es sei denn, daß diesem Schutzzweck bereits eine Tarifnorm oder ein Gesetz genügt, und das ist nur dann der Fall, wenn Gesetz oder Tarifvertrag bereits das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers entfallen lassen und nicht - auch nicht teilweise - wiederherstellen.
Die weitere Argumentation des Landesarbeitsgerichts für die Annahme einer gerade noch wirksamen Tarifnorm liegt neben der Sache, weil insoweit das Beschwerdegericht auf den Schutz der Tarifautonomie abstellt. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG schützt die Tarifautonomie aber nur insoweit, als durch den Tarifvertrag gleichzeitig der Normzweck des § 87 BetrVG erfüllt wird, das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers abzulösen.
Dementsprechend war der Beschluß des Landesarbeitsgerichts aufzuheben, der des Arbeitsgerichts abzuändern und nach dem Antrag des Betriebsrats zu entscheiden.
Dr. Kissel Matthes Dr. Weller
K. H. Janzen Mager
Fundstellen
Haufe-Index 436694 |
BAGE 61, 296-305 (LT1-2) |
BAGE, 296 |
BB 1989, 2039-2041 (LT1-2) |
DB 1989, 1676-1677 (LT1-2) |
AiB 1989, 290-291 (LT1-2) |
BetrVG, (1) (LT1-2) |
NZA 1989, 887-889 (LT1-2) |
RdA 1989, 311 |
SAE 1990, 18-21 (LT1-2) |
AP § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang (LT1-2), Nr 18 |
AR-Blattei, Betriebsverfassung XIVA Entsch 41 (LT1-2) |
AR-Blattei, ES 530.14.1 Nr 41 (LT1-2) |
EzA § 87 BetrVG 1972, Nr 13 (LT1-2) |
VersR 1989, 938-940 (LT1-2) |