Leitsatz (amtlich)
1. Der Rechtsbegriff der räumlich weiten Entfernung (§ 3 BetrVG) ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der objektiven Entfernung zu prüfen. Entscheidend ist, ob trotz der gegebenen Entfernung eine ordnungsmäßige Betreuung der Arbeitnehmer bei den Nebenbetrieben oder Betriebsteilen durch den bei dem Hauptbetrieb gebildeten Betriebsrat möglich ist (vgl. auch BAG AP Nr. 4 zu § 3 BetrVG).
2. Bei der Anwendung des Tarifvertrages über die Betriebsverfassung in den Betrieben des Baugewerbes vom 30. März 1953 in der Fassung vom 29. September 1967 (TV-BetrV-Bau) ist von dem Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes auszugehen.
3. Eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft ist berechtigt, nicht nur vor der Wahl des Betriebsrates im Beschlußverfahren feststellen zu lassen, ob ein Nebenbetrieb oder Betriebsteil (§ 3 BetrVG) selbständig ist oder zum Hauptbetrieb gehört.
Normenkette
BetrVG §§ 1, 3, 17 Abs. 2, §§ 44-45, 49 Abs. 1; TV-BetrV-Bau §§ 2, 4; ZPO § 256
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Beschluss vom 31.01.1968; Aktenzeichen 3 BV Ta 7/67) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1) gegen den Beschluß des Lendesarbeitsgerichts Düsseldorf (Köln) vom 31. Januar 1968 – 3 BV Ta 7/67 – wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
I. Die Beteiligte zu 2) betreibt ein Bauunternehmen, das seinen Hauptsitz in Essen und mehrere Außenstollen (Niederlassungen) an anderen Orten, darunter auch in Köln, hat. Die Niederlassung Köln ist nicht in das Handelsregister oder in die Handwerksrolle eingetragen. Sie untersteht einem Niederlassungsleiter. Von dieser Niederlassung wurden Z. Zt. der Antragstellung drei Baustellen in Leverkusen und eine weitere Baustelle in Köln geleitet. Die Beteiligte zu 2) beschäftigt etwa 1.800 bis 2.000 Arbeitnehmer, davon im Bereich der Niederlassung Köln etwa 100. Der Betriebsrat bei der Beteiligten zu 2) ist auch von den Arbeitnehmern der Niederlassung Köln mitgewählt worden. Drei Mitglieder des Betriebsrats sind von der Arbeit freigestellt.
Die Beteiligten sind tarifgebunden an den Tarifvertrag über die Betriebsverfassung in den Betrieben des Baugewerbes vom 30. März 1953 in der Fassung vom 29. September 1967 (TV-BetrV-Bau). Dieser Tarifvertrag hat die Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gefunden.
§ 2 TV-BetrV-Bau enthält folgende Regelung:
Betriebe im Sinne dieses Tarifvertrages sind – unbeschadet der Bestimmung des Betriebsbegriffs in § 1 Abschn. II – alle gewerblichen, auf die fortgesetzte Erstellung von Bauten aller Art oder auf fortgesetzte sonstige bauliche Leistungen gerichteten Einheiten sachlicher Betriebsmittel, in denen Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Betriebe sind demnach auch die in das Handelsregister oder die Handwerksrolle eingetragenen Niederlassungen. Als Betriebe gelten ferner Arbeitsgemeinschaften hinsichtlich ihrer eigenen Arbeitnehmer.
Die Beteiligte zu 1) ist der Ansicht, die Niederlassung Köln sei ein selbständiger Betrieb im Sinne des § 3 BetrVG und des TV-BetrV-Bau; für diese Niederlassung könne daher ein besonderer Betriebsrat gewählt werden.
Sie hat beantragt,
festzustellen, daß die Niederlassung der Beteiligten zu 2) in Köln ein selbständiger Betrieb ist, der die Berechtigung hat, eine eigene Betriebsvertretung zu wählen.
Die Beteiligte zu 2) hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie hat vorgetragen, die Niederlassung Köln sei kein selbständiger Betrieb im Sinne des BetrVG und des TV-BetrV-Bau.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Die von der Beteiligten zu 1) eingelegte Beschwerde hat das Landesarbeitsgericht unter Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.
Mit der Rechtsbeschwerde beantragt die Beteiligte zu 1), den Beschluß des Landesarbeitsgerichts und den Beschluß des Arbeitsgerichts Köln aufzuheben und nach dem Antrag in erster Instanz zu entscheiden.
Die Beteiligte zu 2) bittet um Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
Entscheidungsgründe
II. 1. Die Beteiligte zu 1) ist berechtigt, im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren den von ihr verfolgten Antrag jederzeit zu stellen. Dies ergibt sich, wenn nicht bereits aus § 17 Abs. 2 BetrVG, so doch jedenfalls aus der allgemeinen Stellung der Gewerkschaften im Betriebsverfassungsrecht. Die Betriebsräte sind zwar gegenüber den Gewerkschaften selbständig. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften haben aber nach § 49 Abs. 1 BetrVG die Befugnis, bei dem Zusammenarbeiten von Arbeitgeber und Betriebsrat mitzuwirken. Es kann ihnen daher nicht gleichgültig sein, ob ein Betriebsrat errichtet werden kann oder nicht. Ferner sind die nach ihrem Sinn und Zweck für die Betriebsverfassung ebenfalls grundlegenden Vorschriften des § 31 BetrVG und der §§ 45, 44 BetrVG bedeutsam. Unter einer bestimmten Voraussetzung ist ein Beauftragter einer im Betriebsrat vertretenen Gewerkschaft zu dessen Sitzungen mit beratender Stimme hinzuzuziehen und an der Betriebsversammlung, die vom Betriebsrat Anträge unterbreiten und zu seinen Beschlüssen Stellung nehmen kann, dürfen Beauftragte der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften beratend teilnehmen.
Nach alledem ist auch das Rechtsschutzinteresse der Beteiligten zu 1) an der sachlichen Bescheidung ihres Antrages zu bejahen.
2. Nach § 1 BetrVG werden „in den Betrieben” Betriebsräte nach Maßgabe des Betriebsverfassungsgesetzes gebildet. Das Betriebsverfassungsgesetz selbst enthält sich einer eigenen Bestimmung des Betriebsbegriffs, begrenzt diesen aber in § 3 BetrVG dahin, daß „Nebenbetriebe” und „Betriebsteile” nur denn als selbständige Betriebe gelten, wenn sie entweder räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder durch Aufgabenstellung und Organisation eigenständig sind.
Dem Begehren der Beteiligten zu 1) könnte also nach dem Betriebsverfassungsgesetz nur stattgegeben werden, wenn die Niederlassung Köln entweder ein selbständiger Betrieb, also nicht nur ein Nebenbetrieb oder Betriebsteil des Betriebes in Essen, wäre oder aber, wenn die Niederlassung Köln einen Nebenbetrieb oder einen Betriebsteil des Betriebes Essen darstellte, der jedoch räumlich weit von dort entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist.
Der Betriebsbegriff steht seit langem in Rechtsprechung und Schrifttum einheitlich dahin fest, daß unter Betrieb zu verstehen ist die organisatorische Einheit, innerhalb deren ein Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung des Eigenbedarfs erschöpfen (vgl. Fitting-Kraegeloh-Auffarth, BetrVG, 7. Aufl., § 3 Anm. 2 mit zahlreichen Hinweisen; ähnlich Galperin-Siebert, BetrVG, 4. Aufl., § 1 Anm. 4; Dietz, BetrVG, 4. Aufl., § 1 Anm. 36).
Das Landesarbeitsgericht ist aufgrund der ihm offenstehenden tatsächlichen, mit Rügen in der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen zu dem Ergebnis gekommen, daß die Niederlassung Köln kein selbständiger Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG sei. Die Niederlassung Köln hat danach weniger als 100 Arbeitnehmer, davon im Büro der Niederlassung selbst nur 10. Die Niederlassung Köln kann nur gewerbliche Arbeitnehmer, aber keine Angestellten einstellen und entlassen. Die Lohnbuchhaltung sowie schwierige Fragen auf dem Gebiet der Statik, der Konstruktion und der Entwicklung worden von der Hauptniederlassung Essen bearbeitet. Die Niederlassung Köln verfügt auch über keinen eigenen Maschinenpark. Sie ist ferner in der Hereinnahme von Aufträgen beschränkt. Wenn das Landesarbeitsgericht aufgrund dieses Sachverhaltes zu der Annahme gekommen ist, die Niederlassung Köln sei kein selbständiger Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG, so ist das aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Das Landesarbeitsgericht ist weiterhin davon ausgegangen, die Niederlassung Köln sei auch kein Nebenbetrieb oder Betriebsteil, der nach § 3 BetrVG als selbständiger Betrieb anzusehen sei. Das Landesarbeitsgericht hat den Sachverhalt dahin gewürdigt, daß im Hinblick auf die Organisation der Beteiligten zu 2) die Niederlassung Köln als Nebenbetrieb oder Betriebsteil der Hauptniederlassung Essen von dieser nicht räumlich so weit entfernt sei, um die Einrichtung einer besonderen Betriebsvertretung erforderlich zu machen. Die Niederlassung Köln sei auch nicht durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig.
Dem Landesarbeitsgericht ist darin beizutreten, daß Nebenbetriebe im Sinne des § 3 nur solche Betriebe sind, die als organisatorisch selbständige Betriebseinheiten unter eigener Leitung einen eigenen Betriebszweck verfolgen, jedoch in ihrer Aufgabenstellung auf eine Hilfeleistung für einen Hauptbetrieb ausgerichtet sind (BAG 6, 140 [142]). Aus den bereits oben wiedergegebenen tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist zu entnehmen, daß die Niederlassung Köln nicht organisatorisch selbständig, sondern in die Organisation der Hauptniederlassung Essen eingegliedert ist.
Sie ist auch nicht, wie sich ebenfalls aus den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ergibt, räumlich weit von Essen entfernt. Das Landesarbeitsgericht geht davon aus, daß der Betriebsrat, der bei der Hauptniederlassung in Essen besteht, die Aufgaben auch einer Vertretung und Betreuung der Arbeitnehmer aus der Kölner Niederlassung und der dieser unterstellten Baustellen ausreichend wahrnehmen kann. Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung AP Nr. 4 zu § 3 BetrVG ausgeführt, der Begriff der räumlich weiten Entfernung sei nicht nur unter dem Gesichtspunkt der objektiven Entfernung zu prüfen, die Verkehrs Verbindungen spielten vielmehr eine entscheidende Rolle. Ebenso wie das Landesarbeitsgericht hat sonach der Senat entscheidend auf die Möglichkeit der ordnungsmäßigen Betreuung der Arbeitnehmer in den Nebenbetrieben und Betriebsteilen abgestellt. Eine solche ordnungsmäßige Betreuung hat das Landesarbeitsgericht ohne Rechtsverstoß als möglich angesehen. U. a. sind die freigestellten Mitglieder des Betriebsrats in Essen nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts voll beweglich, und zwar auch für einen Besuch der Baustellen. Das Landesarbeitsgericht hat den unbestimmten Rechtsbegriff der „räumlich weiten Entfernung” also nicht verkannt.
Sonach ergibt sich, daß bei Anwendung der Vorschriften der §§ 1, 3 BetrVG das Begehren der Beteiligten zu 1) unbegründet ist.
3. Die Beteiligte zu 1) beruft sich weiterhin darauf, daß gleichwohl für die Niederlassung Köln ein eigener Betriebsrat aufgrund der Vorschriften des TV-BetrV-Bau zu wählen sei. Ob die Tarifpartner im Rahmen der ihnen nach § 20 Abs. 3 BetrVG zustehenden Befugnisse den Betriebsbegriff des BetrVG ändern können, also auch solche Nebenbetriebe und Betriebsteile zu selbständigen, mit eigenen Betriebsräten zu besetzenden Betrieben machen können, die dies nach § 3 BetrVG nicht wären, erscheint zweifelhaft. Dagegen spricht die Fassung des § 20 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, nach der für „Betriebe”, in denen wegen ihrer Eigenart der Errichtung von Betriebsräten besondere Schwierigkeiten entgegenstehen, durch Tarifvertrag die Errichtung einer anderen Vertretung der Arbeitnehmer des Betriebes bestimmt werden kann. Diese Formulierung deutet darauf hin, daß der Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes als solcher auch durch Tarifvertrag nicht geändert werden kann, es vielmehr nur zulässig ist, eine andere Art der Vertretung der in solchen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer einzuführen. Die Entscheidung dieser Frage kann aber letztlich dahinstehen. Aus § 2 BetrV-Bau ist nämlich nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit zu erkennen, daß die Tarifpartner des TV-BetrV-Bau überhaupt eine Änderung des Betriebsbegriffs des Betriebsverfassungsgesetzes vornehmen wollten. Somit ist auch bei der Anwendung des TV-BetrV-Bau von dem Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes selbst auszugehen. Die Bedeutung des TV-BetrV-Bau erschöpft sich in diesem Zusammenhang darin, die in seinem § 4 vorgesehenen besonderen Betriebsvertretungen zu regeln.
Verbleibt es aber auch für die Anwendung des TV-BetrV-Bau bei dem Betriebsbegriff des Betriebsverfassungsgesetzes selbst, so ist die Rechtsbeschwerde ebenfalls insoweit aus den bereits erwähnten Gründen unbegründet.
Unterschriften
gez. Dr. Müller, Wendel, Dr. Schröder, Dr. Gerland, Vetter
Fundstellen