Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag

 

Leitsatz (amtlich)

  • Einem Beschäftigten des öffentlichen Dienstes kann nach Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Absatz 5 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Absatz 5) aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn er für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis als unzumutbar erscheint. Absatz 5 regelt eigenständig und abschließend, unbeschadet von § 626 BGB, die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung im öffentlichen Dienst.
  • Absatz 5 schafft keinen absoluten Kündigungsgrund. Die Unzumutbarkeit muß sich aus einer Einzelfallprüfung ergeben. Vorrangiger Maßstab sind in der Vergangenheit liegende Vorgänge. Die Einzelfallprüfung gemäß Ziffer 2 des Absatzes 5 wird bei einem früheren hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit durch seine Stellung sowie die Dauer seiner Tätigkeit bestimmt.

    Ob das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar “erscheint”, ist anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Dabei ist auf die vordergründige “Erscheinung” der Verwaltung mit diesem Mitarbeiter abzustellen.

  • Die auf Absatz 5 gestützte außerordentliche Kündigung ist Ausübung eines Sonderkündigungsrechts. § 626 Abs. 2 BGB ist weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden.
  • § 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG findet auf außerordentliche Kündigungen gemäß Absatz 5 Anwendung.
  • Etwaige Beteiligungsrechte des Personalrats bleiben durch Absatz 5 unberührt. Ist die Stufenvertretung gemäß § 82 Abs. 1 BPersVG anzuhören, hat die Beteiligung des örtlichen Personalrats nach § 82 Abs. 2 BPersVG keinen Einfluß auf die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung.
 

Normenkette

Einigungsvertrag Art. 20 Abs. 1, Art. 38 Abs. 3; Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5; KSchG §§ 4, 7, 13 Abs. 1 S. 2; BGB § 626; GG Art. 33 Abs. 2; BPersVG § 79 Abs. 4, § 82

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 27.08.1991; Aktenzeichen 11 Sa 30/91)

ArbG Berlin (Urteil vom 19.03.1991; Aktenzeichen 68 Ca 12639/90)

 

Tenor

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung und den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses.

Der am 12. Juli 1932 geborene Kläger war von März 1952 bis Februar 1990 hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Seit 1972 nahm er die Funktion eines Abteilungsleiters innerhalb der Hauptabteilung II wahr. Sein letzter militärischer Dienstgrad war Oberst. Er war Leitungsmitglied einer Grundorganisation der SED im Ministerium für Staatssicherheit.

Seit dem 1. März 1990 war der Kläger als Mitarbeiter der Betriebswache bei den Staatlichen Museen zu Berlin beschäftigt, die am 3. Oktober 1990 in die vorläufige Trägerschaft der Beklagten übergingen.

Aufgrund der Angaben des Klägers in seiner Erklärung vom 12. Oktober 1990 wurde er am 6. November 1990 zu seinen Tätigkeiten im Ministerium für Staatssicherheit und seiner Funktion in der SED persönlich angehört. Die Beklagte, vertreten durch ihren Präsidenten, der sich die entsprechenden personalrechtlichen Befugnisse durch Anordnung vom 3. Oktober 1990 vorbehalten hatte, kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 16. November 1990 außerordentlich zum 30. November 1990. Zuvor hatte sie den bei ihr gebildeten Hauptpersonalrat mit Schreiben vom 8. November 1990 über die Kündigungsabsicht unterrichtet. Der Hauptpersonalrat stimmte der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 9. November 1990 zu.

Mit der am 7. Dezember 1990 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger geltend gemacht, die außerordentliche Kündigung sei unwirksam, weil ein rechtfertigender Grund fehle. Es sei zu berücksichtigen, daß er bei der Beklagten eine untergeordnete Tätigkeit ausübe. Die Kündigung sei auch deshalb unwirksam, weil die Beklagte nicht den örtlichen Personalrat, sondern den Hauptpersonalrat angehört habe.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß sein Arbeitsverhältnis bei der Beklagten nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 16. November 1990 zum 30. November 1990 aufgelöst wurde.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung folge aus Art. 20 Abs. 1 Einigungsvertrag i. V. m. Anlage I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2, denn ihr sei ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wegen dessen langjähriger hauptamtlicher Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit und seiner dort eingenommenen herausragenden Position unzumutbar.

Das Arbeitsgericht hat die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung festgestellt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Kündigung vom 16. November 1990 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30. November 1990 aufgelöst.

A. Die Beklagte konnte das Arbeitsverhältnis durch außerordentliche Kündigung beenden.

I. Die außerordentliche Kündigung ist nicht bereits nach § 13 Abs. 1 Satz 2, §§ 4, 7 KSchG wirksam, denn mit der am 7. Dezember 1990 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger die Drei-Wochen-Frist des Kündigungsschutzgesetzes gewahrt.

§ 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG findet auf die ausgesprochene Kündigung Anwendung. Nach Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Absatz 5) kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich kündigen. Aus der Vorschrift ergibt sich nicht, daß diese außerordentliche Kündigung hinsichtlich ihrer Überprüfbarkeit durch die Gerichte für Arbeitssachen nicht den allgemeinen Regelungen unterliegen soll. § 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG erfaßt nach seinem Wortlaut jede Unwirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung wegen Fehlens des Kündigungsgrundes. § 13 KSchG macht die Notwendigkeit einer fristgemäßen Klageerhebung nicht davon abhängig, auf welche Rechtsgrundlage die außerordentliche Kündigung gestützt ist. Mit der Fristenregelung des § 13 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 4 Satz 1 KSchG soll eine schnelle und endgültige Klärung der Wirksamkeit nicht nur der dem allgemeinen Kündigungsschutz unterliegenden ordentlichen, sondern auch der außerordentlichen Arbeitgeberkündigung herbeigeführt werden, sofern die formellen Voraussetzungen für die Anwendung des allgemeinen Kündigungsschutzes (Wartezeit, Mindestgröße des Betriebes, § 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG) erfüllt sind.

II. Die Voraussetzungen des Kündigungsgrundes gemäß Absatz 5 liegen vor.

1. Nach Absatz 5 Ziff. 2 ist im Bereich des öffentlichen Dienstes ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das Ministerium für Staatssicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.

a) Absatz 5 regelt eigenständig und abschließend, unbeschadet von § 626 BGB, die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung im öffentlichen Dienst.

Der Wortlaut beider Vorschriften weicht voneinander ab. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Dienstverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Küngigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

Demgegenüber gewährt Absatz 5 einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung dann, wenn der Arbeitnehmer für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Anders als bei § 626 Abs. 1 BGB wird in Absatz 5 ausdrücklich von einer “außerordentlichen Kündigung” gesprochen und damit in Abgrenzung zu Absatz 4 (“ordentliche Kündigung”) der Regelungsgegenstand charakterisiert.

Der wichtige Grund i. S. des Absatzes 5 ist bereits erfüllt, wenn die Voraussetzungen des Konditionalsatzes gegeben sind. Dementsprechend genügt die Erfüllung der in Absatz 5 mit dem Wort “wenn” eingeleiteten Voraussetzungen zur Annahme des wichtigen Grundes. Einer Ergänzung des Absatzes 5 durch eine teilweise oder vollständige Anwendung des § 626 BGB bedarf es nicht.

Diese Notwendigkeit folgt auch nicht aus dem Wort “insbesondere”. Hierdurch wird lediglich klargestellt, daß Absatz 5 eine auf § 626 BGB oder andere Normen gestützte außerordentliche Kündigung nicht ausschließt. Auch den Angehörigen des öffentlichen Dienstes der früheren DDR kann z. B. wegen einer Pflichtverletzung gemäß § 626 BGB außerordentlich gekündigt werden.

Die Eigenständigkeit der Kündigungsregelung des Absatzes 5 wird durch den Einigungsvertrag selbst bestätigt, wenn es in Art. 38 Abs. 3 heißt: “Das Recht zur ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung dieser Arbeitsverhältnisse in den in Anlage I dieses Vertrags aufgeführten Tatbeständen bleibt unberührt”. Somit sieht der Einigungsvertrag in Absatz 5 einen Kündigungstatbestand, der das Recht zur außerordentlichen Kündigung gibt.

Durch die Worte “für eine außerordentliche Kündigung” sind die dem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes bei Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 5 eröffneten Handlungsmöglichkeiten abschließend und ausreichend konkret bezeichnet.

b) Aus dieser Eigenständigkeit der Kündigungsregelung des Absatzes 5 folgt zum einen, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Absatz 5, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Zum anderen findet § 626 Abs. 2 BGB keine Anwendung. Diese Regelung bezieht sich nach ihrer systematischen Stellung und ihrem Wortlaut nicht auf eine außerordentliche Kündigung gemäß Absatz 5. Anders als § 626 BGB stellt Absatz 5 nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsplatz “bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Die Unzumutbarkeit i.S. des Absatzes 5 besteht damit nicht nur zeitlich auf zwei Wochen befristet. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwiderhandelt oder ob er einen Verwirkungstatbestand gesetzt hat.

Im übrigen hat der Gesetzgeber in anderen Fällen außerordentlicher Kündigungen entweder gesondert bestimmt, daß eine Frist einzuhalten sei (vgl. z.B. § 15 Abs. 4 BBiG), oder er hat hiervon abgesehen (vgl. z.B. § 89a HGB, § 64 SeemG).

c) Die Kündigungsvoraussetzungen im einzelnen:

Gemäß Ziff. 2 des Absatzes 5 ist Kündigungsvoraussetzung eine Tätigkeit des Arbeitnehmers für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit. Die Verwendung der Präposition “für” anstelle der näherliegenden “beim” bedeutet, daß nur eine bewußte, finale Mitarbeit die Kündigung rechtfertigen kann. Bei einer hauptberuflichen Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit besteht zu einer solchen Erörterung keine Veranlassung.

Absatz 5 leitet die Unzumutbarkeit aus der früheren Tätigkeit her. Ihretwegen (“deshalb”) muß ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheinen. Einzelfallprüfungen sind daher unerläßlich. Da das Arbeitsverhältnis eine bestimmte Tätigkeit inhaltlich festlegt, ist bei jeder Kündigung zu prüfen, ob die frühere Tätigkeit ein Festhalten am Arbeitsverhältnis noch zu rechtfertigen vermag.

Eine Kündigung ist nach herrschender Ansicht zukunftsbezogen. Eine Störung im Arbeitsverhältnis ist nur dann kündigungsrelevant, wenn eine weitere Beschäftigung nicht in Betracht kommt (vgl. Erman/Hanau, BGB, 8. Aufl., § 626 Rz 29; MünchKomm-Schwerdtner, 2. Aufl., § 626 BGB Rz 29; U. Preis, Prinzipien des Kündigungsschutzrechts, S. 328; derselbe DB 1988, 1387, 1388; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 611). In der Regel verwirklicht sich der Tatbestand einer außerordentlichen Kündigung dadurch, daß nach Begründung eines Arbeitsverhältnisses eine Störung auftritt, die zu einer fristlosen Auflösung des Arbeitsverhältnisses berechtigt. Diesen Regelfall erfaßt Absatz 5 nicht. Der Tatbestand dieser Norm ist bei einem früheren hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministerium für Staatssicherheit nur dann erfüllt, wenn der kündigungsrelevante Sachverhalt, der sich auf das bestehende Arbeitsverhältnis störend auswirkt, vor Begründung des Arbeitsverhältnisses realisiert wurde. Es wird angeknüpft an eine “frühere”, vor dem jetzigen Arbeitsverhältnis liegende Tätigkeit. Dies wird noch dadurch unterstrichen, daß das Gesetz nicht von der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum ordentlichen Kündigungstermin, sondern vom “Festhalten am Arbeitsverhältnis” spricht. Die Unzumutbarkeit steht also nicht im Zusammenhang mit Störungen, die sich aus der Tätigkeit im jetzigen Arbeitsverhältnis ergeben haben, sondern mit solchen, die aus einer früheren Tätigkeit nachwirken.

Die Unzumutbarkeit darf dementsprechend nicht aus anderen Gründen als den in Ziff. 1 und Ziff. 2 des Absatzes 5 bezeichneten Tätigkeiten oder Verhaltensweisen hergeleitet werden. Da diese Tätigkeiten notwendigerweise vor dem 3. Oktober 1990 ausgeübt worden sein müssen, knüpft das Kündigungsrecht des Absatzes 5 allein an in der Vergangenheit liegende Vorgänge an. Dies wird durch weitere Abweichungen des Absatzes 5 von § 626 Abs. 1 BGB bestätigt. Während in § 626 Abs. 1 BGB vorausschauend die (befristete) “Fortsetzung” des Arbeitsverhältnisses den Beurteilungsmaßstab bildet, stellt Absatz 5 retrospektiv auf das “Festhalten” am Arbeitsverhältnis ab.

Darüber hinaus ist nach Ziff. 2 des Absatzes 5 entscheidend, ob der Arbeitnehmer für die Staatssicherheit “tätig war”. Die Vergangenheitsform erfordert Folgerungen aus einem abgeschlossenen Vorgang. Absatz 5 weist deshalb eine Nähe zu Anfechtungstatbeständen auf, die bei Beachtung der Jahresfrist (§ 124 BGB) ohne “umfassende Interessenabwägung” zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen können.

Die zutreffenden Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts zu Kündigungen, bei denen der Arbeitgeber die Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der DKP und die Kandidatur für diese Partei als Grund zur Kündigung aufgegriffen hatte (vgl. BAG Urteile vom 6. Juni 1984 – 7 AZR 456/82 – und vom 28. September 1989 – 2 AZR 317/86 – BAGE 63, 72 = AP Nr. 11 und 24 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung), können hier keine Berücksichtigung finden. Sie beziehen sich weder auf einen dem Absatz 5 ähnlichen Kündigungssachverhalt noch auf gleiche rechtliche Voraussetzungen. Es geht vorliegend nicht um die Mitgliedschaft in einer Partei, sondern um die Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit. Außerdem bestimmt Absatz 5, anders als § 626 Abs. 1 BGB, konkret den Kündigungsgrund.

Allerdings ist Absatz 5 nicht als “Muß”-Bestimmung ausgestaltet worden, so daß nicht jedem, der für das Ministerium für Staatssicherheit tätig war, zu kündigen ist. Vielmehr erfordert der Rechtsbegriff “unzumutbar” eine Einzelfallprüfung. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Dieser Grad der Belastung wird bei einem hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit durch seine Stellung sowie die Dauer seiner Tätigkeit bestimmt. Berücksichtigungsfähig sind weiterhin Zeitpunkt und Grund der Aufnahme und der Beendigung dieser Tätigkeit für die Staatssicherheit. Ebensowenig wie besondere Einzelakte oder Auswüchse der Tätigkeit des Beschäftigten von Absatz 5 als Kündigungsgrund vorausgesetzt werden, besteht Grund zu der Annahme, etwaige Begünstigungen einzelner Verfolgter der Staatssicherheit fielen besonders ins Gewicht.

Die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung ist anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Über die Frage, ob der einzelne Mitarbeiter weiterhin einer demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich verfaßten Verwaltung angehören darf, bestimmt der Arbeitgeber unter Beachtung der Anforderungen, die in einem Rechtsstaat an den öffentlichen Dienst gestellt werden. Es finden nur solche Tatsachen Berücksichtigung, die zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs vorlagen. Insofern kommt dem Merkmal “erscheint” besondere Bedeutung zu, denn damit hebt das Gesetz nicht auf eine intern ermittelbare Lage, sondern auf die vordergründige Erscheinung der Verwaltung mit diesem Mitarbeiter ab.

Das Kündigungsrecht gemäß Absatz 5 ist nur Arbeitgebern des öffentlichen Dienstes eröffnet. Sie sollen nicht darin behindert werden, dauerhaftes Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu schaffen. Folglich wird in der Regel mit der Bedeutung der früheren Tätigkeit und der Stellung des Beschäftigten beim Ministerium für Staatssicherheit die Notwendigkeit einer außerordentlichen Kündigung korrespondieren. Je höher die Stellung oder je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar. Diese äußere Betrachtungsweise, die durch den Rechtsbegriff “erscheint” gefordert ist, hindert die Berücksichtigung von Entlastungstatsachen, sofern sich diese nicht in gleicher Weise wie die frühere belastende Tätigkeit manifestiert haben. Nur unter dieser Voraussetzung sind sie geeignet, das Erscheinungsbild der Vorbelastung zu erschüttern und der Feststellung der Unzumutbarkeit entgegenzuwirken.

d) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Wirksamkeit des Absatzes 5 in der vorstehenden Auslegung bestehen nicht. Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG bestimmt sich der Zugang zum öffentlichen Dienst neben der Befähigung und fachlichen Leistung nach der Eignung des Bürgers. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot mag die Gesamtregelung des Kapitels XIX genügen, wenn darin die Übernahme der in nicht abzuwickelnden Einrichtungen beschäftigten Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der DDR ohne individuelle Beurteilung ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung vorgesehen ist, während möglicherweise besser geeignete und befähigte, aber in der DDR benachteiligte Bürger weiterhin außerhalb des öffentlichen Dienstes verbleiben müssen, weil dieser völlig überbesetzte Bereich personell verkleinert werden muß. Von gleichen Zugangsvoraussetzungen der Gruppen der in der Vergangenheit linientreu politisch aktiven Bürger der DDR einerseits und der (zumindest) passiven Bürger andererseits kann somit nicht die Rede sein (vgl. Jesse, ZTR 1992, 91, 94). Die Kündigungstatbestände der Absätze 4 und 5 sind insofern nur Ausdruck eines verfassungsrechtlich gebotenen Korrektivs. Daß eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit die Eignung des Mitarbeiters i. S. von Art. 33 Abs. 2 GG beeinflußt, dürfte dabei nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen sein. Dementsprechend folgt die gewonnene Auslegung des Absatzes 5 dem verfassungsrechtlichen Gebot eines nach dem Leistungsprinzip gebildeten öffentlichen Dienstes und wirkt einer Perpetuierung politisch-ideologisch begründeter Strukturen entgegen.

2. Beim Kläger liegen die Voraussetzungen des Absatzes 5 vor.

a) Die Staatlichen Museen Berlin sind unmittelbar durch den Einigungsvertrag in die vorläufige Trägerschaft der Beklagten überführt worden (Art. 35 Abs. 5). Damit und gemäß Art. 13 Abs. 3 Einigungsvertrag gehören diese Einrichtungen der Kultur dem öffentlichen Dienst i. S. des Einigungsvertrages an. Der Beklagten steht folglich das Sonderkündigungsrecht des Absatzes 5 zu.

b) Der Kläger war zirka 38 Jahre hauptamtlich in den Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR tätig. In den letzten 18 Jahren seiner Mitarbeit nahm er im Range eines Obersten die Aufgaben eines Abteilungsleiters im Bereich der Spionageabwehr wahr. Diese langjährige Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit noch über das Jahresende 1989 hinaus und die herausragende Stellung des Klägers als Stabsoffizier machten der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar. Entsprechend der oben aufgezeigten Proportionalität zwischen früherer Stellung und Aufgaben des Beschäftigten einerseits und der Unzumutbarkeit des Festhaltens am Arbeitsverhältnis andererseits ist der Kläger für die Beklagte untragbar. Dabei kommt dem Umstand, daß der Kläger nach eigenem Bekunden ausschließlich im Bereich Spionageabwehr tätig war, keine entlastende Bedeutung zu. Zum einen stellt Absatz 5 allein auf eine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit ab, ohne nach dem Tätigkeitsbereich zu differenzieren. Zum anderen ist nicht festgestellt, daß die Spionageabwehr des Ministeriums für Staatssicherheit außerhalb des Repressionsapparates der Staatssicherheit der DDR gestanden hätte. Allgemein zugänglichen Quellen kann eine entsprechende Feststellung nicht entnommen werden.

B. Die Unwirksamkeit der Kündigung folgt nicht aus § 79 Abs. 4 des anzuwendenden BPersVG. Die Beklagte hat den bei ihr gebildeten Hauptpersonalrat vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung schriftlich unter Mitteilung der Kündigungsgründe angehört. Hierzu war sie gemäß § 82 Abs. 1 BPersVG verpflichtet, weil nach der Anordnung vom 3. Oktober 1990 der Präsident der Beklagten sich persönlich die Entscheidung über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen vorbehalten hatte. Damit lag allein bei ihm die Entscheidung über die außerordentliche Kündigung, so daß in diesen Angelegenheiten die Stufenvertretung zu beteiligen war. Ob die Stufenvertretung ihrerseits dem örtlichen Personalrat ordnungsgemäß nach § 82 Abs. 2 Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, ist für die Wirksamkeit der Kündigung ohne Belang, denn der Hauptpersonalrat hat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung abschließend Stellung genommen.

C. Der Kläger hat als unterlegene Partei gemäß § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

 

Unterschriften

Michels-Holl, Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Dr. Pühler, Hennecke

 

Fundstellen

Haufe-Index 846787

BAGE, 323

BB 1992, 2361

NZA 1993, 117

RdA 1992, 402

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