Entscheidungsstichwort (Thema)
Allgemeinverbindlicherklärung. Voraussetzungen
Orientierungssatz
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen des Einzelhandels; Nachprüfung der Voraussetzungen; Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer; öffentliches Interesse; Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung.
Normenkette
TVG § 5
Verfahrensgang
LAG Saarland (Entscheidung vom 03.02.1988; Aktenzeichen 1 Sa 173/87) |
ArbG Neunkirchen (Entscheidung vom 23.07.1987; Aktenzeichen 2 Ca 912/86) |
Tatbestand
Die Klägerin war in einer Filiale der Beklagten, einem Einzelhandelsunternehmen, vom 15. September 1983 bis 3O. Juni 1986 beschäftigt. Sie begehrt von der Beklagten die Zahlung von Vergütungsdifferenzen für die Zeit vom 1. Januar 1984 bis 3O. Juni 1986, und zwar Vergütung und Lohn für Mehrarbeitsstunden, die tariflichen Urlaubsgeldbeträge für 1984, 1985 und 1986, die tariflichen Sonderzahlungen für die vorgenannten Jahre und Ersatz dafür, daß von ihrem Nettobetrag wirksam angelegte Sparbeiträge von der Beklagten abgeführt worden sind, ohne daß die Beklagte ihren tariflichen Eigenbetrag geleistet hat.
Mit Schreiben vom 27. Juni 1986 hatte die Klägerin ihre Ansprüche der Beklagten gegenüber erfolglos geltend gemacht.
Mit ihrer Klage hat sie vorgetragen, sie habe einen Anspruch darauf, entsprechend den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen für die Arbeitnehmer des saarländischen Einzelhandels vergütet zu werden und sich insoweit auf folgende Tarifverträge gestützt:
1. Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer des
saarländischen Einzelhandels vom 17. Mai 1979,
2. Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer im
Einzelhandel Saarland vom 9. Dezember 1985,
3. Gehaltstarifverträge für den saarländischen
Einzelhandel vom 24. Mai 1983, 18. Juli 1984
und 29. Mai 1985,
4. Tarifverträge über Sonderzahlungen im saarländischen
Einzelhandel vom 12. April 198o und 29. Mai 1985,
5. Tarifverträge über Leistungen nach dem 3. Vermögens-
bildungsgesetz für die Arbeitnehmer des saarländischen
Einzelhandels vom 24. Mai 1983.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Allgemeinverbindlicherklärungen der vorgenannten Tarifverträge seien wirksam.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin
DM 12.O2O,53 brutto und DM 1.188,-- netto nebst
4 % Zinsen aus dem sich aus DM 11.8O7,52 brutto
ergebenden Nettobetrag und DM 1.188,-- netto seit
3O. Juni 1986 und aus dem sich aus DM 213,O1 brutto
ergebenden Nettobetrag seit Zustellung des Schrift-
satzes vom 4. September 1986 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und erwidert, die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge des Einzelhandels hätten nicht vorgelegen. Sowohl der Bundesverband der Selbständigen als auch der Gewerbeverband des Saarlandes hätten zwischenzeitlich Erhebungen durchgeführt und im Rahmen dieser Erhebungen festgestellt, daß allenfalls noch 4O % der Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt seien. Es werde ausdrücklich durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt, daß tatsächlich die von dem Gesetz geforderten 50 % an Arbeitnehmern, die bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt seien, im Saarland nicht mehr gegeben seien. Die vom Ministerium den Allgemeinverbindlicherklärungen zugrunde gelegten Statistiken seien unzutreffend, weil sich die Zahl der tarifgebundenen Arbeitgeber durch Austritte aus dem Einzelhandelsverband erheblich vermindert habe. Insbesondere in den Jahren 198O und 1981 habe sich die Zahl der tarifgebundenen Arbeitgeber durch eine Austrittswelle erheblich vermindert. Dadurch sei letztendlich auch die Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer unter 5O % gesunken. Ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung habe nicht bestanden. In unzulässiger Weise seien Wettbewerbserwägungen herangezogen worden. Die Anforderungen an die Darlegungslasten der Beklagten dürften nicht zu hoch angelegt werden, denn als nichttarifgebundene Außenseiterin sei es ihr nicht möglich, alle Unterlagen zu bekommen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage zum überwiegenden Teil stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von DM 11.O6O,9O brutto sowie DM 156,-- netto nebst 4 % Zinsen aus dem sich aus DM 1O.861,41 brutto ergebenden Nettobetrag sowie aus DM 156,-- netto seit dem 3O. Juni 1986 und nebst 4 % Zinsen aus dem sich aus DM 199,49 brutto ergebenden Nettobetrag seit dem 1O. September 1986 verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat nach Vernehmung der Zeugen Herbert L und Josef S die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision war zurückzuweisen. Zutreffend haben die Vorinstanzen der Klägerin den noch streitbefangenen Betrag von DM 11.060,90 brutto sowie DM 156,-- netto nebst Zinsen zugesprochen. Diese Ansprüche ergeben sich aus den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen für den Saarländischen Einzelhandel. Die Allgemeinverbindlicherklärungen sind auch wirksam.
Insbesondere sind die Ansprüche der Klägerin nicht nach § 16 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer des Saarländischen Einzelhandels vom 17. Mai 1979 verfallen, obwohl danach alle aus dem Tarifvertrag und aus dem Arbeitsverhältnis bestehenden Ansprüche spätestens 6 Monate nach Fälligkeit geltend zu machen sind. Diese Ausschlußfrist gilt nämlich nur, wenn der Arbeitgeber § 2 Ziffer 1 MTV beachtet hat. Danach sind Einstellungen schriftlich zu bestätigen und müssen in der Einstellungsbestätigung die Gehalts- oder Lohngruppe, das Entgelt, dessen Zusammensetzung sowie eine vereinbarte Kündigungsfrist aufgeführt werden. Dieses Erfordernis wurde nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts, die mit prozessualen Rügen nicht angegriffen sind, von der Beklagten nicht erfüllt, so daß diese Verfallklausel nicht eingreift. Im übrigen sind die Verfallvorschriften schon vom Arbeitsgericht zutreffend berücksichtigt worden, so daß seitdem nur noch nicht verfallene Ansprüche zwischen den Parteien im Streit sind.
Zutreffend geht das Landesarbeitsgericht weiter davon aus, daß der Manteltarifvertrag vom 17. Mai 1979 und der Tarifvertrag über Sonderzahlungen vom 12. April 1980 nicht auf die Frage hin zu überprüfen waren, ob die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG über die Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer erfüllt sind. Die Beklagte hat nämlich insoweit keine konkreten Tatsachen vorgetragen, die Zweifel am Vorliegen dieser Voraussetzungen aufkommen lassen könnten. Vielmehr wurde erst für die Jahre 1980 und 1981 eine Austrittswelle bei tarifgebundenen Arbeitgebern behauptet und die Fortschreibung durch statistische Zahlen von 1979 für die späteren Tarifverträge gerügt. Tatsachen, warum die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge von 1979 und 1980 unwirksam sein sollten, wurden nicht vorgetragen.
Hinsichtlich der Tarifverträge vom 11. August 1983 bis 9. April 1986 geht das Landesarbeitsgericht davon aus, daß sie zutreffend für allgemeinverbindlich erklärt worden seien, weil nach den vorliegenden statistischen Erhebungen und den notwendigen Schätzungen zweifelsfrei erwiesen sei, daß 60 % der unter den Geltungsbereich der Tarifverträge fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern in der fraglichen Zeit beschäftigt gewesen seien. Das Landesarbeitsgericht führt aus, sowohl der Zeuge L als auch der Zeuge S hätten bekundet, daß in den Jahren 1981 und 1982 bis zuletzt die Gesamtzahl der im Saarländischen Einzelhandel tätigen Arbeitnehmer fast gleich geblieben sei und eine Fluktuation zu anderen Berufszweigen nicht habe festgestellt werden könen. Nach der Aussage des Zeugen S seien bei der Handels- und Gaststättenzählung im Jahre 1986 etwa 33000 Arbeitnehmer im Einzelhandelsbereich gezählt worden. Da die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nicht die Beschäftigten in Tankstellen, im Kfz-Handel und in Apotheken erfaßten, diese jedoch in dieser Zählung enthalten seien, seien 5000 Arbeitnehmer abzuziehen. Obwohl der Zeuge S glaube, daß die Auszubildenden bei der Zählung berücksichtigt worden seien, rechnete das Landesarbeitsgericht auf der Basis der Auskunft der Industrie- und Handelskammer vom 3. Februar 1988 sicherheitshalber noch 2000 Auszubildende zur Gesamtzahl hinzu. Nach den Angaben der Zeugen schätzte das Landesarbeitsgericht die Zahl der im Geltungsbereich der Tarifverträge tätigen Teilzeitarbeitnehmer, die nicht sozialversicherungspflichtig sind und deshalb statistisch nicht erfaßt wurden, auf etwa 5000. Dabei wurde dem Vortrag der Beklagten Rechnung getragen, daß im Tarifbereich etwa 1/3 Teilzeitbeschäftigte tätig seien, was der Zeuge L als zutreffend bestätigt habe. Ein deutlicher Teil hiervon sei jedoch sozialversicherungspflichtig und deshalb in der Zählung mit enthalten.
Aufgrund dieser Feststellungen nahm das Landesarbeitsgericht eine Gesamtzahl von 35000 Arbeitnehmern im Geltungsbereich der Tarifverträge nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG an. Dieser Gesamtzahl von 35000 stünden zumindest 21000 Arbeitnehmer gegenüber, die bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt seien. Der Zeuge S habe die Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern Beschäftigten nach eigenen Erhebungen mit 18000 für 1983 und 1984, mit 19000 für 1985 und mit 20000 für 1986 angegeben. Für den entscheidungserheblichen Zeitraum von 1983 bis 1986 ging das Gericht dann von einer Mindestzahl von 18000 Arbeitnehmern aus. Hierzu müßten noch 3000 nicht sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer hinzugezählt werden, da nach den einleuchtenden Aussagen des Zeugen S auch tarifgebundene Arbeitgeber solche nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigten und das Verhältnis insoweit sich von tarifgebundenen Arbeitgebern und nicht tarifgebundenen Arbeitgebern nicht verschiebe.
Damit hat das Landesarbeitsgericht zutreffend die Voraussetzungen der erforderlichen Beschäftigtenzahl bei tarifgebundenen Arbeitnehmern festgestellt. Das ist von Amts wegen stets zu prüfen. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Rechtsgrundlage in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz findet (vgl. BVerfGE 55, 7, 20 = AP Nr.17 zu § 5 TVG; 44, 322, 340 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG m.w.N.; siehe auch BAGE 31, 241, 246 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAGE 27, 78, 91 = AP Nr. 14 zu § 5 TVG; BAGE 27, 175, 186 = AP Nr. 29 zu § 2 TVG) und nicht an Art. 80 Abs. 1 GG zu messen ist (vgl. BVerfGE 55, 7, 20 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG und 44, 322, 349 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG; BAGE 31, 241, 246 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAGE 27, 78, 91 = AP Nr. 14 zu § 5 TVG). Bei der Normsetzung durch die Tarifvertragsparteien handelt es sich um Gesetzgebung im materiellen Sinn (vgl. BVerfGE 55, 7, 21 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG und 44, 322, 341 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG). Nach der AVE eines Tarifvertrages gelten infolge staatlicher Mitwirkung dessen Rechtsnormen auch für die nicht organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, soweit sie unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen (vgl. § 5 Abs. 4 TVG). Mit der Schaffung von Tarifnormen, die der AVE zugänglich sind und deren allgemeine Geltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, erfüllen die Tarifvertragsparteien im besonderen Maße die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im wesentlichen auch ohne staatliche Einflußnahme zu gestalten, wobei jedoch die Verbindlichkeit für Außenseiter die staatliche Mitwirkung einer Normsetzung für die Außenseiter voraussetzt (vgl. BVerfGE 55, 7, 23 f. = AP Nr. 17 zu § 5 TVG m.w.N.). Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden, daß § 5 Abs. 1 TVG, auf der die AVE von Tarifnormen beruht, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 7, 27 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG und 44, 322, 338 ff. = AP Nr. 15 zu § 5 TVG; vgl. auch BAGE 31, 241, 247 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG und 27, 175, 186 = AP Nr. 29 zu § 2 TVG) und die Nachprüfung der Entscheidung über die AVE in erster Linie den dafür zuständigen Gerichten für Arbeitssachen obliegt (vgl. BVerfGE 55, 7, 28 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG und 18, 85, 92 = AP Nr. 1 zu § 90 BVerfGG).
Zwar ist auf die Bedenken hinzuweisen, die daraus entstehen können, daß bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen statistisches Material oft nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung steht und deshalb Schätzungen vorgenommen werden müssen. Das kann vor allem in Grenzfällen zu praktischen Schwierigkeiten und Rechtsunsicherheit führen, worauf der Senat bereits hingewiesen hat (Urteil vom 24. Januar 1979 - 4 AZR 377/77 - BAGE 31, 241, 249 f. = AP Nr. 16 zu § 5 TVG). Auch insoweit wurde aber vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 15. Juli 1980 - 1 BvR 24/77 - und - 1 BvR 439/79 - (BVerfGE 55, 7, 27 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG) ausdrücklich klargestellt, daß der Gesetzgeber in § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend deutlich bestimmt hat und die Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Das gilt vor allem für den vorliegenden Fall, in dem das Landesarbeitsgericht unter Zuhilfenahme der vorhandenen Statistiken und nach Zeugeneinvernahme dazu kommt, daß etwa 60 % der Arbeitnehmer im Einzelhandel bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind und deshalb die Allgemeinverbindlicherklärung insoweit nicht zu beanstanden ist. Mit Recht wird deshalb diese grundsätzlich auch in der Revisionsinstanz zu berücksichtigende Voraussetzung für die Allgemeinverbindlicherklärung von der Beklagten in der Revisionsinstanz auch nicht mehr in Frage gestellt.
Zur weiteren Voraussetzung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG, daß die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheinen muß, führt das Landesarbeitsgericht aus, im vorliegenden Fall sei nicht erkennbar, daß wettbewerbsbeschränkende Wirkungen mit der Allgemeinverbindlicherklärung angestrebt oder ins Auge gefaßt worden seien. Ein öffentliches Interesse sei insbesondere dann gegeben, wenn die tarifvertragliche Regelung konkreten Zielvorstellungen des Gesetzgebers entspreche, wenn soziale Mindestbedingungen abgesichert, wenn Lohndrückerei und Schmutzkonkurrenz verhindert werden solle. Dies treffe auf die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge zu. Alle hätten gemeinsam, daß sie im Einzelhandelsbereich angemessene Einkommen aller darin Tätigen schaffen und der gerade in dieser Branche häufigen Unterminierung der Tarifverträge (ein Indiz hierfür sei letztlich auch vorliegender Rechtsstreit) entgegenwirkten. Gegenläufige Interessen der nicht organisierten Arbeitnehmer und des Arbeitsmarktes insgesamt, die den Rahmen der bei einer AVE immer gegebenen Gegenposition der Außenseiter überschritten, seien nicht ersichtlich.
Auch diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts ist beizupflichten. Die Allgemeinverbindlicherklärung muß nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG im öffentlichen Interesse lediglich geboten erscheinen. Bereits dieser Wortlaut deutet darauf hin, daß insoweit ein außerordentlich weiter Beurteilungsspielraum der staatlichen Behörden besteht (vgl. BAGE 31, 241, 245 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG und BAGE 27, 175, 185 = AP Nr. 29 zu § 2 TVG). Die Revision weist zwar mit Recht darauf hin, daß die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zum öffentlichen Interesse nur allgemeine Feststellungen enthalten und in Form von Ausführungen zum Sinn und Zweck einer Allgemeinverbindlicherklärung keine speziellen Feststellungen zur Situation des Einzelhandels im Saarland darlegen. Dies beruht aber darauf, daß die besondere Situation im Einzelhandel wie etwa auch im Bewachungsgewerbe allgemein bekannt ist und deshalb weitgehend auch gerade im Einzelhandelsbereich in allen Bundesländern die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, um Lohndrückerei und Schmutzkonkurrenz zu verhindern. Mit Recht weist auch das Landesarbeitsgericht hierzu auf den vorliegenden Fall hin, der zeigt, daß speziell im Einzelhandel untertarifliche Entlohnungen auftreten können und aus diesem Grunde eine Allgemeinverbindlicherklärung geboten erscheint. Demgegenüber greift der Einwand der Revision, daß der vorliegende Fall nur ein Einzelfall sei, nicht durch. Der vorliegende Fall zeigt vielmehr, daß ohne Allgemeinverbindlicherklärung verbreitet Gelegenheit zu untertariflicher Entlohnung bestünde und somit einer Gefahr vorgebeugt wird, die ohne Allgemeinverbindlicherklärung sich erheblich ausdehnen könnte. Man kann deshalb auch im Gegensatz dazu sagen, daß ohne Allgemeinverbindlicherklärung die Gefahr weitergehender geringer und geringster Bezahlung noch größer wäre und nur wegen der regelmäßigen Allgemeinverbindlicherklärung solche Fälle wie der vorliegende relativ selten auftreten. Angesichts des bestehenden weiten Beurteilungsspielraumes und der generellen Situation in diesem Gewerbe ist deshalb auch insoweit die Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu beanstanden.
Auch soweit die Revision demgegenüber einwendet, daß durch das nach § 8 der DurchführungsVO zulässige Fehlen einer Begründung eine Verletzung der Grundrechte eintrete, da der notwendige Abwägungsvorgang durch das Fehlen einer Begründung nicht nachvollzogen werden könne, kann dem nicht zugestimmt werden. Angesichts des weiten Beurteilungsspielraumes der Behörden auf diesem Gebiete ist eine Begründung, die ohnehin nur wiederum allgemeine Gründe vortragen könnte, nicht erforderlich. Das gilt auch mit Rücksicht darauf, daß es sich bei der Allgemeinverbindlicherklärung um einen Rechtssetzungsakt eigener Art handelt, der als solcher ebenso wie ein Gesetz im Gegensatz etwa zu einer gerichtlichen Entscheidung nicht unbedingt der Begründung bedarf. Nachdem auch - wie dargelegt - das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen mehrfach bestätigt hat, ist auch insoweit eine erneute Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht notwendig. Wenn die Revision dazu darauf verweist, daß die Allgemeinverbindlicherklärung hier mit Wettbewerbserwägungen begründet worden sei, ist das unzutreffend. Zwar kann die Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich nicht mit Konkurrenzerwägungen im Verhältnis der Arbeitgeber untereinander begründet werden (vgl. nur BAGE 31, 241, 252 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG m. w. N.). Das Landesarbeitsgericht hat aber dazu zutreffend angenommen, daß es sich insoweit lediglich um eine Hilfserwägung gehandelt hätte. Es hat weitere Umstände aufgeführt, die bereits das öffentliche Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung der vorliegenden Tarifverträge rechtfertigen. Im übrigen ist es eine notwendige Folge von Allgemeinverbindlicherklärungen, daß damit Wettbewerbsbeschränkungen durch die Erzwingung gleicher Lohnkosten eintreten. Das geschieht aber nicht, um den Wettbewerb insoweit einzuschränken, sondern um die Lohngleichheit zu erreichen und eine untertarifliche Entlohnung der Arbeitnehmer und Lohndrückerei zu verhindern. Die daraus sich ergebende Wettbewerbsbeschränkung ist nur eine mittelbare Folge dieses sozialpolitisch erstrebten und notwendigen Zweckes. Da aber eine allgemeine Überprüfung durch die Gerichte in jedem Falle auch ohne eine eigene Begründung möglich ist, wird auch dadurch der effektive Rechtsschutz nicht entgegen Art. 19 Abs. 4 GG in unzulässiger Weise gemindert (vgl. Wiedemann, RdA 1987, 262, 267; a. A. v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909, 1913). Da das öffentliche Interesse nur geboten erscheinen muß, ergibt sich schon aus diesem Gesetzeswortlaut, daß die Anwendung dieses Begriffes nur in beschränktem Umfang und allgemein gerichtlich überprüfbar ist. Hinzu kommt, daß jeder Allgemeinverbindlicherklärung ein Verfahren vorausgeht, in dem die Betroffenen gehört werden und in dem ein eigener Tarifausschuß der Allgemeinverbindlicherklärung im voraus zustimmen muß. Diese verfahrensmäßige Absicherung der Interessenabwägung ist ein ausreichender Schutz, um dem für die Allgemeinverbindlicherklärung zuständigen Minister einen entsprechenden Beurteilungsspielraum einzuräumen, der eine noch weitergehende gerichtliche Kontrolle nicht mehr notwendig macht. Zutreffend weist Wiedemann insoweit auch noch darauf hin, daß selbst eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen dann beschränkt ist, wenn die Entscheidung aufgrund ihres Zustandekommens bereits eine gewisse Gewähr für Ausgewogenheit bietet.
TEXTDem Anspruch der Klägerin steht auch nicht entgegen, daß die Allgemeinverbindlicherklärung jeweils rückwirkend erfolgte. Mit Recht und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats weist das Landesarbeitsgericht darauf hin, daß die Rückwirkung vor allem dann zulässig ist, wenn der Betroffene mit einer solchen abweichenden Regelung rechnen mußte oder sich aus anderen Gründen auf den Rechtsschein nicht verlassen durfte. Bezüglich der Gehaltstarifverträge 1984 und 1985, die jeweils ab 1. April wirksam geworden, während die Allgemeinverbindlicherklärungen erst am 9. November 1984 bzw. 20. August 1985 erfolgt seien, habe die Beklagte wie auch sonstige Außenseiter nicht berechtigterweise darauf vertrauen können, daß keine Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Ablaufs des vorangehenden Tarifvertrages erfolgen würde, da bereits frühere Gehaltstarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt worden seien und die Beklagte damit habe rechnen müssen, daß bei den nachfolgenden Gehaltstarifverträgen entsprechend verfahren werde. Die Rückwirkung des Gehaltstarifvertrages 1983 sei unerheblich, da Ansprüche erst ab dem 1. Januar 1984 geltend gemacht und zugesprochen worden seien. Aus den gleichen Gründen teils unerheblich, wo erheblich aber zulässig, sei die Rückwirkung der Tarifverträge über Sonderleistungen 1980 und 1985. Der Tarifvertrag über vermögenswirksame Leistungen 1983 sei vom Arbeitsgericht nicht in unzulässiger Weise rückwirkend auf die Beklagte angewendet worden, da lediglich Ansprüche von Januar bis Juni 1986 zuerkannt worden seien. Der Manteltarifvertrag vom 9. Dezember 1985, für allgemeinverbindlich erklärt am 9. April 1986 zum 1. Januar 1986, sei insoweit rückwirkend wirksam. Im Bundesanzeiger Nr. 23 vom 4. Februar 1986 (S. 1274) und dem Amtsblatt des Saarlandes vom 6. Februar 1986 (S. 138) sei die Veröffentlichung des Antrages auf Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages mit dem Hinweis darauf erfolgt, daß die AVE rückwirkend zum 1. Januar 1986 erfolgen könne. Ab diesem Zeitpunkt habe die Beklagte auf jeden Fall mit der AVE des Manteltarifvertrages vom 9. Dezember 1985 rechnen müssen. Aber auch für den Zeitraum vom 1. Januar bis 4. Februar 1986 sei die Rückwirkung zulässig. Der Manteltarifvertrag 1979 sei seit dem 27. September 1984 fristgerecht zum 31. Dezember 1984 gekündigt worden. Im Verhältnis von Klägerin und Beklagter habe die AVE des Manteltarifvertrages 1979 Nachwirkung entfaltet, da die Klägerin am 15. September 1983 die Arbeit bei der Beklagten aufgenommen habe. Die Regelung des Manteltarifvertrages 1979 hätte daher für die Klägerin und Beklagte bis zum 1. Januar 1986 fortgegolten. Daß eine einzelvertragliche Änderung der durch den Manteltarifvertrag begründeten Arbeitsvertragsregelungen erfolgt sei, habe die Beklagte nicht vorgetragen. Von daher stelle sich die AVE des Manteltarifvertrages vom 9. Dezember 1985 lediglich als Fortsetzung der bestandenen und nachwirkenden AVE dar. Ein schutzwürdiges Vertrauen sei bei der Beklagten nicht gegeben, da sich die durch den Manteltarifvertrag 1985 erfolgte Veränderung in der Arbeitszeit bereits zuvor angekündigt habe und die Beklagte damit habe rechnen müssen, daß der neue Manteltarifvertrag ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt werde.
Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 3. November 1982 - 4 AZR 1255/79 - (BAGE 40, 288, 292 f.= AP Nr. 18 zu § 5 TVG) ausgeführt hat, bestimmt das Tarifvertragsgesetz selbst nicht ausdrücklich, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung möglich ist. Da ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag unmittelbar und zwingend wie ein Gesetz wirkt, sind die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 82 GG entwickelten Grundsätze über die rückwirkende Inkraftsetzung von Gesetzes hier entsprechend anzuwenden. Danach gestatten es das Rechtsstaatsprinzip, die Rechtssicherheit und der Grundsatz des Vertrauensschutzes auch dem Gesetzgeber nicht unbeschränkt, Gesetzen rückwirkende Geltung beizulegen. Insbesondere dürfen danach Gesetze nicht rückwirkend geändert werden, wenn dadurch Entscheidungen und Dispositionen des Bürgers beeinflußt werden können (BVerfGE 30, 367, 385 und 13, 39, 45) oder unabsehbare rückwirkende Belastungen eintreten (vgl. BVerfGE 23, 85, 93). Allerdings muß das Interesse des Bürgers im Einzelfalle schutzwürdig sein (vgl. BVerfGE 19, 119, 127; 22, 330, 347; 23, 85, 94; 25, 269, 291; 30, 367, 387; 32, 111, 123). Damit ist die mögliche Rückwirkung von Gesetzen dann rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die betroffenen Kreise damit von vornherein rechnen mußten (vgl. BVerfGE 13, 261, 272; 14, 288, 298; 18, 429, 439; 19, 187, 196 = AP Nr. 3 zu Art. 2O GG; 20, 330, 347; 23, 12, 33 = AP Nr. 1 zu Art. 3 UVNG; 27, 167, 173; 30, 367, 387; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 20 Abschn. VII Rz 65 ff.).
Insoweit weist das Landesarbeitsgericht mit Recht darauf hin, daß es nicht darauf ankommt, ob die Rückwirkung des Gehaltstarifvertrages 1983 und des Tarifvertrages über Sonderzuwendungen von 1980 sowie über vermögenswirksame Leistungen von 1983 mit Rückwirkung für allgemeinverbindlich erklärt worden sind, weil Tarifgehalt und Sonderzuwendungen von der Klägerin erst für die Zeit ab 1. Januar 1984 geltend gemacht werden und vermögenswirksame Leistungen vom Arbeitsgericht erst für die Zeit ab Januar 1986 zuerkannt wurden. Im übrigen ist den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts voll zuzustimmen. Es hat vor allem mit Recht darauf hingewiesen, daß die Tarifverträge nicht erstmals für allgemeinverbindlich erklärt wurden und schon deshalb ein schutzwürdiges Vertrauen zu verneinen ist. Bereits der Manteltarifvertrag für den Einzelhandel im Saarland vom 8. Februar 1974 wurde mit Wirkung vom 1. Mai 1974 für allgemeinverbindlich erklärt (Bundesanzeiger Nr. 122 vom 6. Juli 1974, S. 3). Der Tarifvertrag über Leistungen nach dem 3. Vermögensbildungsgesetz für die Arbeitnehmer des Saarländischen Einzelhandels vom 12. Dezember 1977 war mit Wirkung vom 1. Januar 1978 für allgemeinverbindlich erklärt worden (Bundesanzeiger Nr. 56 vom 21. März 1978, S. 9). Unter diesen Umständen konnte das Landesarbeitsgericht mit Recht davon ausgehen, daß ein schutzwürdiges Interesse der Beklagten gegen die Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung nicht vorlag.
Demgemäß war die Revision mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Dr. Neumann Dr. Feller Dr. Freitag
Koerner Dr. Apfel
Fundstellen
Haufe-Index 439102 |
ZTR 1989, 108-109 (ST1-2) |