Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsgewerkschaftsleitung. Demokratische Wahl
Leitsatz (amtlich)
- Eine Wahl von Arbeitnehmervertretungen nach demokratischen Grundsätzen i. S. von § 30 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 (GBl.-DDR I Nr. 34 S. 362) und der Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Juli 1990 (GBl.-DDR I Nr. 44 S. 715) setzt auch voraus, daß alle Arbeitnehmer des Betriebs das aktive Wahlrecht hatten.
- Das Revisionsgericht ist befugt, im Rahmen des Revisionsverfahrens über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu entscheiden, wenn die Wiedereinsetzung nach Aktenlage ohne weiteres zu gewähren ist.
Normenkette
Gesetz zur sinngemäßen Anwendung des Bundespersonalvertretungsgesetzes vom 22. Juli 1990 (GBl. -DDR I Nr. 52 S. 1025) § 79; Gesetz über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 (sog. Mantelgesetz) (GBl. – DDR I Nr. 34 S. 362) § 30; Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Juli 1990 (GBl. -DDR I Nr. 44 S. 715) § 1; ZPO §§ 519, 233
Verfahrensgang
BezirksG Rostock (Urteil vom 29.04.1992; Aktenzeichen 2 Sa 345/91) |
KreisG Rostock-Stadt (Urteil vom 15.08.1991; Aktenzeichen 6 Ca 540/91) |
Tenor
- Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bezirksgerichts Rostock vom 29. April 1992 – 2 Sa 345/91 – wird zurückgewiesen.
- Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin war in der Landwirtschaftsschule des beklagten Landkreises als Sekretärin beschäftigt.
Mit Schreiben vom 24. September 1990 kündigte der Beklagte das seit dem 20. September 1971 bestehende Arbeitsverhältnis wegen der Schließung der Bildungseinrichtung zum 31. Dezember 1990. Das vom Direktor der Kreislandwirtschaftsschule unterschriebene Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 28. September 1990 zu. Zu diesem Zeitpunkt bestand bei dem Beklagten noch kein nach den Vorschriften des Gesetzes zur sinngemäßen Anwendung des Bundespersonalvertretungsgesetzes vom 22. Juli 1990 (GBl. – DDR I Nr. 52 S. 1025) gewählter Personalrat.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei unwirksam, da die Arbeitnehmervertretung nicht angehört worden sei. Die Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Juli 1990 (GBl. -DDR I Nr. 44 S. 715) hätte bei der Kündigung berücksichtigt werden müssen.
Für die Zeit bis zur Wahl eines neuen Personalrats sei eine Betriebsgewerkschaftsleitung, die nach demokratischen Grundsätzen gewählt sei, für die Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen zuständig gewesen. Eine solche demokratisch legitimierte Betriebsgewerkschaftsleitung habe zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruches bei dem Beklagten bestanden. Die Arbeitnehmer seien in freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt worden. Sämtliche Gewerkschaftsmitglieder hätten an der Wahl der Betriebsgewerkschaftsleitung teilgenommen. Jedes einzelne Mitglied habe einen Wahlzettel erhalten, auf dem es durch Ankreuzen drei Mitglieder der Betriebsgewerkschaftsleitung habe benennen können. Das Ausfüllen der Wahlzettel sei so geschehen, daß kein anderer von der getroffenen Auswahl habe Kenntnis nehmen können. Nach der Wahl sei das Ergebnis öffentlich ausgezählt worden.
Die Klägerin hat beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 24. September 1990 zum 31. Dezember 1990 beendet worden sei, sondern ungekündigt fortbestehe,
- den Beklagten zu verurteilen, sie zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat geltend gemacht, die Verordnung vom 11. Juli 1990 finde keine Anwendung. Der Gesetzgeber habe bewußt für den Geltungsbereich des Personalvertretungsgesetzes eine Übergangsregelung für die Zeit bis zur ersten Wahl von Personalräten unterlassen. Wenn die Verordnung vom 11. Juli 1990 anzuwenden gewesen wäre, führe dies zu keinem anderen rechtlichen Ergebnis. Eine Wahl nach demokratischen Grundsätzen habe nicht stattgefunden. 10 % der Belegschaftsmitglieder seien an der Wahl nicht beteiligt gewesen, da sie nicht Mitglieder der Gewerkschaft gewesen seien.
Das Kreisgericht hat die Klage abgewiesen. Das Bezirksgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das Bezirksgericht hat die Kündigung zu Recht für wirksam erachtet.
I. Die Revision ist nicht bereits deshalb erfolglos, weil die Berufung der Klägerin wegen verspäteter Begründung unzulässig gewesen ist. In den Akten des Berufungsgerichts befindet sich lediglich der Entwurf eines Beschlusses zur Verlängerung der Berufungsbegründung. Dieser ist von keinem Richter des Bezirksgerichts unterzeichnet. Dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin ist jedoch eine Ausfertigung eines Beschlusses zugestellt worden, aus dem er entnehmen mußte, die Begründungsfrist sei antragsgemäß verlängert worden. In der Ausfertigung heißt es nämlich am Ende: “gez. R… Vorsitzender”. Bei dieser Sachlage war die Klägerin ohne Verschulden verhindert. die Berufung rechtzeitig zu begründen. Sie durfte darauf vertrauen, die Begründungsfrist sei ordnungsgemäß verlängert worden (vgl. dazu BAG Urteil vom 22. Februar 1978 – 4 AZR 553/76 – AP Nr. 3 zu § 21 MTB II). Dem nach Kenntnis dieser Umstände in der Revisionsinstanz rechtzeitig gestellten Antrag der Klägerin, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Begründung der Berufung zu gewähren, war stattzugeben. Das Revisionsgericht ist befugt, im Rahmen des Revisionsverfahrens über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu entscheiden, wenn die Wiedereinsetzung nach Aktenlage ohne weiteres zu gewähren ist (BGH Urteil vom 4. November 1981 – IVb ZR 625/80 – NJW 1982, 1873). Die Berechtigung des Wiedereinsetzungsantrages ergibt sich unmittelbar aus den Akten.
II. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.
Die Unwirksamkeit der Kündigung ergibt sich nicht aus § 79 Abs. 4 des Gesetzes zur sinngemäßen Anwendung des BPersVG vom 22. Juli 1990 (GBl. -DDR I Nr. 52 S. 1025). Nach dieser Vorschrift ist eine Kündigung unwirksam, wenn der Personalrat nicht beteiligt worden ist. Hieraus kann die Klägerin jedoch keine ihr günstige Rechtslage herleiten, weil bis zum Zugang der Kündigung kein Personalrat aufgrund der Vorschriften dieses Gesetzes gewählt worden war. Eine ausdrückliche Übergangsregelung bis zur 1. Wahl eines Personalrats bestand nicht.
Es kann dahingestellt bleiben, ob in dem Fehlen einer Übergangsregelung eine planwidrige Regelungslucke zu sehen ist, so daß § 30 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 (GBl. – DDR I Nr. 34 S. 362) und die Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Juli 1990 (GBl. -DDR I Nr. 44 S. 715) entsprechend anzuwenden sein könnten. Die Klägerin hat, worauf das Landesarbeitsgericht zutreffend abgestellt hat, keine hinreichenden Tatsachen vorgetragen, aus denen geschlossen werden könnte, es habe im Sinne dieser Vorschriften eine Wahl nach demokratischen Grundsätzen stattgefunden.
1. Sowohl aus § 30 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. Juni 1990 als auch aus § 1 der Verordnung zu Übergangsregelungen bis zur erstmaligen Wahl der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Juli 1990 folgt, daß allein das Bestehen einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung diese noch nicht legitimiert, die einer Arbeitnehmervertretung nach dem Gesetz obliegenden Aufgaben wahrzunehmen. Die genannten Übergangsvorschriften bestimmen nicht, daß bis zur Erstwahl nach den Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes die bisher gewählten gewerkschaftlichen Interessenvertretungen die Aufgaben eines Betriebsrats wahrnehmen. Als weitere Voraussetzung ist vielmehr normiert, daß eine solche Interessenvertretung nach demokratischen Grundsätzen in geheimer Abstimmung von der Mehrheit der Belegschaft gewählt worden sein muß. Es muß demnach eine Wahl nach demokratischen Grundsätzen stattgefunden haben. Bei dieser Wahl muß in geheimer Abstimmung die Mehrheit der Belegschaft die Vertreter gewählt haben. Ob und wenn ja, welche Fehler bei Wahlverstößen bei der jedenfalls nach demokratischen Grundsätzen erfolgten Wahl in der Übergangszeit hinzunehmen wären, bedarf hier keiner Entscheidung. Es fehlt nämlich bereits an einem Vortrag der Klägerin, der die Annahme rechtfertigen könnte, es sei eine Wahl nach demokratischen Grundsätzen durchgeführt worden.
Durch die Übergangsregelung sollte erreicht werden, daß vor der Durchführung sogenannter erstmaliger Wahlen aufgrund des Betriebsverfassungsgesetzes solche Arbeitnehmervertretungen tätig sein konnten, deren Wahl auf demokratische Weise durchgeführt worden war. Eine solche Wahl nach demokratischen Grundsätzen liegt nur vor, wenn sie geheim, unmittelbar, frei, allgemein und gleich gewesen ist. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ist dann nicht gewahrt, wenn in einem Betrieb, in dem gewerkschaftlich gebundene und andere Arbeitnehmer beschäftigt werden, Arbeitnehmervertreter nur von den Angehörigen des ehemaligen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt werden konnten (so zutreffend Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 13 Anh. Rz 6, 8).
2. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, daß eine allgemeine Wahl stattgefunden habe. Sie hat den Tag der Wahl nicht genannt und nicht behauptet, daß zu diesem Zeitpunkt alle Betriebsangehörigen das Recht gehabt hätten, sich an der Wahl zu beteiligen. Vielmehr hat sie die Darlegung des Beklagten, daß 10 % der Beschäftigten keine Gewerkschaftsmitglieder gewesen seien, nicht bestritten. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Vortrag der Klägerin zum Vorliegen einer geheimen Wahl ausreicht.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
Unterschriften
Michels-Holl, Dr. Ascheid, Dr. Müller-Glöge, Femppel, R. Schmidt
Fundstellen
Haufe-Index 846780 |
BAGE, 360 |
NZA 1993, 861 |