Entscheidungsstichwort (Thema)
Länger zurückliegendes vertragswidriges Verhalten und ordentliche Kündigung. Ordentliche Kündigung wegen vor längerer Zeit begangener Manipulationen eines Spielbank-Croupiers
Orientierungssatz
- Ein nach § 626 Abs. 2 BGB “verfristeter” wichtiger Grund kann grundsätzlich noch zum Anlaß für eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung genommen werden.
- Es gibt keine “Regelausschlußfrist”, innerhalb derer der Arbeitgeber sein ordentliches Kündigungsrecht ausüben muß. Es gelten nur die allgemeinen Grundsätze der Verwirkung.
- Ein Arbeitgeber kann einen Kündigungsgrund nicht über längere Zeit “auf Vorrat” halten, um ihn bei passend erscheinender Gelegenheit geltend zu machen und ein beanstandungsfrei fortgesetztes Arbeitsverhältnis zu einem beliebigen Zeitpunkt kündigen zu können. Ein kündigungsrelevanter Vorfall kann durch Zeitablauf so an Bedeutung verlieren, daß eine ordentliche Kündigung nicht mehr gerechtfertigt wäre. Der insoweit gebotene Schutz des Arbeitnehmers wird dabei prinzipiell aber nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern regelmäßig durch die Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Verwirkung realisiert.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 2; KSchG § 1 Abs. 1-2; GG Art. 12 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 11. Juli 2001 – 17 Sa 293/01 – aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung, einen Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers und über einen Auflösungsantrag der Beklagten.
Der 1951 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit dem 1. Januar 1977 in der von der Beklagten betriebenen Spielbank als Croupier bzw. Sous-Chef tätig.
Am 16. Dezember 1998 teilte der Mitarbeiter S.… dem Saalchef der Beklagten mit, er habe beobachtet, wie der als Croupier eingesetzte Kläger einem Gast verdeckt Jetons zugeschoben habe. Der Saalchef unterrichtete hiervon die Geschäftsführung der Beklagten, die sich dazu entschloß, den Kläger beobachten zu lassen. Die Überwachung führte zu keinem Ergebnis. Eine Anhörung des Mitarbeiters S.… durch die Beklagte erfolgte nicht. Am 17. Mai 1999 erstattete die Beklagte wegen der Vorgänge Strafanzeige gegen unbekannt. Das Ermittlungsverfahren wurde am 23. August 1999 eingestellt, nachdem der Mitarbeiter S.… in einem Telefonat dem ermittelnden Beamten mitgeteilt hatte, er wolle sich nicht einmischen und daher nicht aussagen. Die Beklagte verfolgte die Angelegenheit nicht weiter und setzte das Arbeitsverhältnis unverändert fort. Der Kläger wurde weder von der Beklagten befragt noch von irgendeiner Seite von den angeblichen Beobachtungen des S.… und dem eingeleiteten Ermittlungsverfahren unterrichtet.
Am 29. Mai 2000 vertrat der Kläger zwischen 21.15 Uhr und 21.30 Uhr einen Tisch-Chef. Während dieser Zeit soll ein anderer Croupier einem Gast Jetons zugesteckt haben. Die Beklagte verdächtigt den Kläger, an diesem Vorgang beteiligt gewesen zu sein. Zum fraglichen Zeitpunkt soll er den Tisch-Chefstuhl absichtlich verlassen haben, um die Durchführung der Wechselmanipulation zu ermöglichen. Die Mitarbeiterin D.…, die an diesem Abend am selben Tisch eingesetzt war, gab im Rahmen ihrer Anhörung an, der Kläger habe in der fraglichen Zeit zweimal den Tisch-Chefstuhl verlassen. Einmal habe er ihr eine Arbeitsanweisung erteilt, ein weiteres Mal habe er versucht, einen Streit mit einem Gast zu klären. Nach Anhörung des Klägers hob die Beklagte seine zunächst erfolgte Suspendierung wieder auf. Zwischenzeitlich erklärte sich der Mitarbeiter S.… bereit, zum Geschehen vom 18. Dezember 1998 nunmehr auszusagen.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2000 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers zum 31. Oktober 2000 an.
Mit Schreiben vom 27. Juni 2000 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Mit weiterem Schreiben vom 29. Juni 2000, dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte sie es hilfsweise fristgemäß zum 31. Oktober 2000.
Der Kläger hat die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestritten. Er habe zu keiner Zeit Jetons veruntreut oder sich an entsprechenden Aktionen anderer Mitarbeiter beteiligt. An den Vorfall vom 18. Dezember 1998 könne er sich nicht erinnern. Die Beklagte habe ein solch lang zurückliegendes Geschehen nicht mehr zum Anlaß einer Kündigung nehmen dürfen. Ihm sei jede Möglichkeit einer sachgerechten Verteidigung genommen. Der Kläger hat weiter die Ansicht vertreten, der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden, da die Beklagte die Kündigung vor Ablauf der Äußerungsfrist am 29. Juni 2000 ausgesprochen habe.
Der Kläger hat – soweit für die Revision noch von Interesse – beantragt,
- festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristgemäße Kündigung vom 29. Juni 2000 nicht aufgelöst worden ist;
- die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluß des Rechtsstreits als Croupier zu den bisherigen Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aufzulösen.
Die Beklagte hat behauptet, der Kläger habe am 18. Dezember 1998 einem Gast bei einem Wechselvorgang pflichtwidrig Jetons zugesteckt. Sie habe den Vorgang erst zum Anlaß für eine Kündigung nehmen können, nachdem der Zeuge S.… zur Aussage bereit gewesen sei. Auf Grund des Vorfalls vom 29. Mai 2000 bestehe weiter der dringende Verdacht, der Kläger habe an der Manipulation eines Croupiers mitgewirkt. Der Kläger habe genau während des Vorfalls seinen Tisch-Chefstuhl verlassen und einer Mitarbeiterin eine Arbeitsanweisung erteilt, für die es keine Veranlassung gegeben habe. Nachdem er abgelöst worden sei, habe auch der Gast, dem die Jetons zugesteckt worden seien, den Tisch verlassen.
Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden. Er habe abschließend vor Ablauf der Äußerungsfrist Stellung genommen. Nach einer Betriebsratssitzung habe der Betriebsratsvorsitzende dem Technischen Direktor mitgeteilt, der Betriebsrat werde sich zu der beabsichtigten Kündigung nicht äußern. Der Auflösungsantrag sei begründet, da der Kläger bewußt wahrheitswidrig bestritten habe, an der Manipulation vom 18. Dezember 1998 beteiligt gewesen zu sein.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die auf die ordentliche Kündigung beschränkte Berufung der Beklagten zurückgewiesen und den erstmals in der zweiten Instanz gestellten Auflösungsantrag als unbegründet abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung sowie ihren hilfsweise gestellten Auflösungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht (§ 565 Abs. 1 Satz 1 aF ZPO), da es zur Entscheidung noch weiterer Tatsachenfeststellungen bedarf.
Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:
Auf Grund der Umstände im Zusammenhang mit dem Vorfall vom 29. Mai 2000 sei nicht der dringende Verdacht gerechtfertigt, der Kläger habe sich an einer Wechselmanipulation eines anderen Croupiers beteiligt.
Der angebliche Vorfall vom 18. Dezember 1998 könne die Kündigung des Klägers gleichfalls nicht sozial rechtfertigen. Der Beklagten sei es zwar nach Treu und Glauben nicht verwehrt, sich auf den zum Zeitpunkt der Kündigung ca. 1 ½ Jahre zurückliegenden Vorfall zu berufen. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Klägers würden durch den Zeitablauf nicht treuwidrig erschwert. Die Beklagte handele auch nicht widersprüchlich, wenn sie zur Begründung der Kündigung diesen Vorfall heranziehe. Sie habe dem Kläger zuvor nicht bedeutet, sie werde das Geschehen nicht zum Anlaß einer Kündigung nehmen. Die Kündigung sei aber – selbst wenn der gegen den Kläger erhobene Vorwurf als zutreffend unterstellt werde – unverhältnismäßig. Zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs belaste der Vorwurf das Arbeitsverhältnis nicht in einer Weise, die es der Beklagten unzumutbar mache, das Arbeitsverhältnis unverändert fortzusetzen.
Der Auflösungsantrag der Beklagten sei unbegründet. Selbst wenn der Kläger seiner prozessualen Wahrheitspflicht nicht genügt habe, als er eine Beteiligung an der Wechselmanipulation vom 18. Dezember 1998 ausdrücklich bestritten habe, wiege dieses Verhalten nicht so schwer, um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.
Dem folgt der Senat nicht. Die Revision rügt zu Recht, der Beklagten könne es nicht verwehrt werden, sich auch noch im Juni 2000 auf den Vorfall vom 18. Dezember 1998 als Grund für eine ordentliche Kündigung wegen einer erwiesenen pflichtwidrigen strafbaren Handlung zu berufen. Insofern ist der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
Nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen ist die Kündigung vom 29. Juni 2000 weder auf Grund Zeitablaufs unverhältnismäßig, noch ist sie ungerechtfertigt, weil nicht durch Gründe bedingt, die in dem Verhalten des Klägers liegen (§ 1 Abs. 1, 2 KSchG).
Ein gemäß § 626 Abs. 2 BGB “verfristeter” wichtiger Grund kann grundsätzlich noch zum Anlaß für eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung genommen werden. Die gesetzliche Ausschlußfrist gilt nur im Regelungsbereich des § 626 BGB (KR-Fischermeier 6. Aufl. § 626 BGB Rn. 315; Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 8. Aufl. Rn. 838).
Eine “Regelausschlußfrist”, innerhalb derer der Arbeitgeber das Kündigungsrecht ausüben muß, gibt es für den Ausspruch einer ordentlichen Kündigung gemäß § 1 KSchG nicht (siehe ua. BAG 20. August 1998 – 2 AZR 736/97 – RzK I 5h Nr. 46). Für eine solche Kündigung gelten nur die allgemeinen Grundsätze der Verwirkung (BAG 20. August 1998 – 2 AZR 736/97 – aaO).
Das Kündigungsrecht der Beklagten ist – was das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen hat – nicht verwirkt.
Das Recht des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung verwirkt, wenn er in Kenntnis eines Kündigungsgrundes längere Zeit untätig bleibt, dh. die Kündigung nicht ausspricht, obwohl ihm dies möglich und zumutbar wäre (sog. Zeitmoment), wenn er dadurch beim Arbeitnehmer das berechtigte Vertrauen erweckt, die Kündigung werde unterbleiben und wenn der Arbeitnehmer sich deshalb auf den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses einrichtet (sog. Umstandsmoment). Eine dann gleichwohl erklärte Kündigung aus diesem Grund stellt eine unzulässige Rechtsausübung dar und wäre nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) rechtsunwirksam (BAG 21. Februar 1957 – 2 AZR 410/54 – AP KSchG § 1 Nr. 22; 25. Februar 1988 – 2 AZR 500/87 – RzK I 5c Nr. 26; 20. August 1998 – 2 AZR 736/97 – aaO).
Die genannten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen. Der Zeitablauf und die Untätigkeit reichen jeweils allein zur Begründung des Umstandsmoments nicht aus (Senat 25. Februar 1988; 20. August 1998 aaO).
- Vorliegend fehlt es schon am sog. “Umstandsmoment”. Der Kläger hatte keine Kenntnis von dem Kündigungsvorwurf bzw. von den von der Beklagten gegen ihn geführten Ermittlungen. Durch die bloße weitere Zuweisung von Arbeit konnte deshalb bei ihm kein berechtigtes Vertrauen entstehen, eine Kündigung werde – wegen des Vorfalls vom 18. Dezember 1998 – unterbleiben. Wer überhaupt keine Kenntnis von einem möglichen Kündigungsrecht seines Vertragspartners auf Grund eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Pflichtverletzung hat, kann auf das Ausbleiben der Ausübung eines solchen Gestaltungsrechts allgemein hoffen, nicht aber konkret vertrauen (BAG 25. April 2001 – 5 AZR 497/99 – BAGE 97, 326).
- Dementsprechend kann weiter nicht angenommen werden, die Beklagte habe den Kündigungsgrund “verziehen” (KR-Etzel aaO § 1 KSchG Rn. 249). Auch insoweit müßte sie zu erkennen gegeben haben, daß sie den Kündigungsgrund nicht mehr zum Anlaß für die Kündigung nehmen wollte.
Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die Kündigung vom 29. Juni 2000 wegen des Zeitablaufs auch nicht sozial ungerechtfertigt.
- Die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Sozialwidrigkeit einer Kündigung ist in der Revisionsinstanz nur beschränkt nachprüfbar. Bei der Frage der Sozialwidrigkeit, § 1 Abs. 2 KSchG, handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur darauf geprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen des § 1 KSchG Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob die Entscheidung in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr., vgl. ua. BAG 13. Juni 1996 – 2 AZR 483/95 – BAGE 83, 181, 187). Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält das angegriffene Urteil insofern nicht stand, als es die auf den Vorfall vom 18. Dezember 1998 gestützte Kündigung als unverhältnismäßig angesehen hat.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird bei einer ordentlichen fristgemäßen Kündigung aus dem Tatbestandsmerkmal “bedingt” in § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG abgeleitet. Eine Kündigung ist danach nur erforderlich (ultima ratio), wenn sie nicht durch mildere Maßnahmen zu vermeiden ist (BAG 26. Januar 1995 – 2 AZR 649/94 – BAGE 79, 176, 187).
Eine mildere Maßnahme als die ordentliche Kündigung kommt hier – auch nicht auf Grund des längeren Zeitablaufs – nicht in Betracht. Das Landesarbeitsgericht hat in anderem Zusammenhang der Entscheidung zutreffend ausgeführt, das dem Kläger vorgeworfene Verhalten sei regelmäßig geeignet, wenigstens eine ordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Einem Spielbankbetreiber ist es regelmäßig nicht zumutbar, einen Croupier weiter zu beschäftigen, der einem Gast Jetons unberechtigt überläßt und damit seine arbeitsvertraglichen Vermögensbetreuungspflichten verletzt sowie die Vermögensinteressen des Arbeitgebers schädigt. Ein solches vertragswidriges Verhalten zerstört regelmäßig das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen und kann deshalb sogar eine außerordentliche Kündigung ohne Abmahnung rechtfertigen (KR-Fischermeier 6. Aufl. § 626 BGB Rn. 445; LAG Köln 22. Januar 1996 – 3 Sa 722/95 – AP BGB § 626 Nr. 127).
- Es wäre allerdings widersprüchlich und mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, wenn der Arbeitgeber einen Kündigungsgrund über längere Zeit “auf Vorrat” hielte, um ihn bei passend erscheinender Gelegenheit geltend zu machen und ein beanstandungsfrei fortgesetztes Arbeitsverhältnis zu einem beliebigen Zeitpunkt kündigen zu können (BAG 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334; 20. August 1998 – 2 AZR 736/97 – aaO; 11. September 1997 8 AZR 14/96 – RzK I 8 m ee Nr. 66). Auch wenn die ordentliche Kündigung im Gegensatz zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 Abs. 2 BGB) keiner bestimmten Frist unterliegt, innerhalb derer sie nach Kenntnis von einem kündigungsrelevanten Vorfall auszusprechen ist, kann ein Vorfall dennoch irgendwann durch Zeitablauf so an Bedeutung verlieren, daß eine ordentliche Kündigung nicht mehr gerechtfertigt wäre. Der insoweit gebotene Schutz des Arbeitnehmers wird dabei prinzipiell aber nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern regelmäßig durch die Anwendung der allgemeinen Grundsätze der Verwirkung realisiert .(BAG 20. August 1998 – 2 AZR 736/97 – aaO; siehe auch BAG 28. April 1994 – 8 AZR 157/93 – BAGE 76, 334; 11. September 1997 – 8 AZR 14/96 – RzK I 8a ee Nr. 66; 6. April 1998 – 8 AZR 696/96 – nv.).
Hiervon ausgehend ist kein rechtlicher Anknüpfungspunkt ersichtlich, der es der Beklagten grundsätzlich verwehren würde, ihre am 29. Juni 2000 erklärte ordentliche verhaltensbedingte Kündigung auch auf eine erwiesene strafbare Handlung des Klägers vom 18. Dezember 1998 zu stützen.
- Sollte der Kläger die ihm vorgeworfenen Handlungen am 18. Dezember 1998 begangen und damit seine arbeitsvertraglichen Pflichten erheblich verletzt haben, so liegt ein verhaltensbedingter Grund für eine ordentliche Kündigung an sich vor.
Bei der Tatkündigung ist für den Kündigungsentschluß maßgebend, daß der Arbeitnehmer zur Überzeugung des Arbeitgebers die vertragswidrige Handlung tatsächlich begangen hat und dem Arbeitgeber aus diesem Grund die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist (st. Rspr., vgl. nur BAG 5. April 2001 – 2 AZR 217/00 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 34 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 10, zu II der Gründe; 26. März 1992 – 2 AZR 519/91 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 23 = EzA BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 4, zu B II 1 der Gründe mwN). Voraussetzung ist, daß der Arbeitgeber nach seiner Überzeugung nicht nur von dringenden, erheblichen Verdachtsmomenten ausgehen kann, sondern eine so sichere Kenntnis von dem die Tatbegehung begründenden Umstände hat, daß er seiner Behauptungs- und Beweislast im Prozeß nachkommen kann (BAG 29. Juli 1993 – 2 AZR 90/93 – AP BGB § 626 Ausschlußfrist Nr. 31 = EzA BGB § 626 Ausschlußfrist Nr. 4, zu II 1c bb der Gründe). Ein vernünftiger Arbeitgeber wird deshalb vor Ausspruch einer Tatkündigung seine Chancen für einen nachfolgenden Kündigungsschutzprozeß abwägen. Es macht keinen Sinn, eine Kündigung auszusprechen, bei der er den Kündigungsgrund nicht wird beweisen können. Da der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, von der unter Umständen unsicheren Möglichkeit einer Verdachtskündigung Gebrauch zu machen, kann er auch abwarten, bis er eine auf die Tatbegehung selbst gestützte Kündigung aussprechen kann (BAG 29. Juli 1993 – 2 AZR 90/93 – aaO).
Deshalb kann es der Beklagten kündigungsrechtlich nicht zum Vorwurf gereichen, wenn sie bis zum Juni 2000 mit ihrer Kündigung zugewartet hat. Die Beklagte mußte nicht die erst beste sich bietende, unsichere Möglichkeit zur Kündigung nutzen, um ihr Kündigungsrecht nicht zu verlieren.
Als sie im Dezember 1998 erstmals durch ihren Saalchef von der angeblichen Wechselmanipulation des Klägers auf Grund der Beobachtungen des Mitarbeiters S.… erfuhr, entsprach es rationalem Arbeitgeberverhalten, nicht sofort die Kündigung auszusprechen, sondern zunächst weitere Überprüfungen vorzunehmen und weitere Überwachungsmaßnahmen zu veranlassen, um verwertbare Tatsachen für die Pflichtverstöße des Klägers zu gewinnen sowie ggf. eine Verwicklung von anderen Mitarbeitern oder Gästen aufzudecken. Auch konnte sie ihre Kündigungsentscheidung zurückstellen, um die Ergebnisse eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens abzuwarten (BAG 11. März 1976 – 2 AZR 29/75 – AP BGB § 626 Ausschlußfrist Nr. 9 = EzA BGB § 626 nF Nr. 46, zu 2c der Gründe). Nachdem ihre Strafanzeige mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens endete und die anderen eingeleiteten Maßnahmen ergebnislos blieben, bestand für die Beklagte keine rechtliche Verpflichtung, weitere eigene Ermittlungen aufzunehmen, um den in ihr hervorgerufenen Anfangsverdacht gegen den Kläger zu erhärten. Der Arbeitgeber wäre sonst stets gedrängt, sogleich wegen Verdachts einer strafbaren Handlung zu kündigen und dürfte nicht abwarten, ob insbesondere strafrechtliche Ermittlungen erfolgreich sind und wie die Tat vom Strafgericht beurteilt wird. Er soll aber gerade nicht gezwungen werden, voreilig wegen eines Verdachts zu kündigen, anstatt in Ruhe zu prüfen, ob es zumutbar ist, den Arbeitnehmer auf Dauer weiterzubeschäftigen. Dies liegt auch im wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers selbst.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bestand auch nach Einstellung des staatsanwaltichen Ermittlungsverfahrens wegen der Aussageverweigerung des Zeugen S.… keine Veranlassung für die Beklagte, nun die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu betreiben. Auf Grund der Verfahrenseinstellung entfiel zum damaligen Zeitpunkt vielmehr die Basis für eine Kündigung wegen einer erwiesenen Tat. Das Verfahren hatte gerade nicht zu einer Anklage des Klägers und zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt. Die Aussageverweigerung ihres Mitarbeiters S.… im Ermittlungsverfahren konnte den zuvor bestehenden Anfangsverdacht gegen den Kläger damals für die Beklagte nur reduzieren.
Weiter ist zu berücksichtigen, daß der Arbeitgeber bei Kenntnis neuer, weiterer Umstände den Kündigungssachverhalt neu bewerten und sich erst dann zur Kündigung entschließen kann (BAG 11. September 1997 – 8 AZR 14/96 – aaO; 4. Juni 1998 – 8 AZR 696/96 – nv.).
Eine solche Änderung der Gesamtumstände liegt bei Ausspruch der streitbefangenen Kündigung vor. Der Mitarbeiter S.… war nunmehr zu einer den Kläger belastenden Aussage bereit. Auf Grund des Vorfalls vom 29. Mai 2000 – so schwach der Verdacht gegen den Kläger objektiv auch einzuschätzen sein mag – stellte sich die angebliche Wechselmanipulation vom 18. Dezember 1998 für die Beklagte in einem anderen Licht und nicht mehr als ein singuläres Ereignis dar. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, die Beklagte habe den Vorfall des Jahres 1998 “auf Vorrat” gehalten, um ihn bei “passender Gelegenheit” gegen den Kläger zu nutzen.
- Nichts anderes ergibt sich aus dem Umstand, daß die Beklagte den Kläger in der Zwischenzeit auf seiner alten Position belassen hat und er weiterhin mit hohen Vermögenswerten umgehen durfte. Der auf der Basis des Hinweises des Mitarbeiters S.… bestehende Anfangsverdacht gegen den Kläger konnte auf Grund der weiteren Ermittlungen im Jahre 1998 nicht erhärtet werden und so weit gedeihen, daß die Beklagte von einem hinreichenden Anlaß für eine Tatkündigung wegen einer strafbaren Handlung des Klägers ausgehen konnte. In dieser Situation hätte die Beklagte den Kläger nicht nur einem ihn belastenden Kündigungsverfahren ausgesetzt, sondern wäre unnötigerweise ein hohes Annahmeverzugsrisiko eingegangen, wenn sie das Arbeitsverhältnis gekündigt oder den Kläger von seiner Arbeitspflicht freigestellt hätte.
- Da eine erwiesene Manipulation vom 18. Dezember 1998 noch als Kündigungsgrund geeignet sein kann, war der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung, insbesondere zur Beweisaufnahme über diesen Vorfall und zur Durchführung der notwendigen Interessenabwägung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
- Von seinem Standpunkt aus konsequent hat das Landesarbeitsgericht die in den Instanzen vom Kläger als fehlerhaft gerügte Betriebsratsanhörung zur Kündigung nicht näher geprüft. Dies wird ggf. nachzuholen sein. Dabei ist zu beachten, daß die Kündigung vor Ablauf der Wochenfrist des § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ausgesprochen worden ist. Eine ausdrückliche Zustimmung zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Betriebsrats liegt unstreitig nicht vor. Das Anhörungsverfahren könnte aber deshalb wirksam abgeschlossen sein (KR-Etzel 6. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 103 ff.), weil nach der – vom Kläger bestrittenen – Behauptung der Beklagten eine abschließende Mitteilung des Betriebsratsvorsitzenden vorgelegen hat, daß sich der Betriebsrat nicht äußern werde. Ob und mit welchem Inhalt eine solche Stellungnahme durch den Betriebsratsvorsitzenden abgegeben worden ist, wäre ggf. durch eine Beweisaufnahme zu klären.
- Die Entscheidung über den Weiterbeschäftigungsantrag und den Auflösungsantrag hängt vom Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens ab.
Unterschriften
Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Engel, Fischer
Fundstellen
Haufe-Index 884642 |
NWB 2003, 989 |
ARST 2003, 177 |
NZA 2003, 795 |
SAE 2003, 232 |
ZAP 2003, 337 |
ZTR 2003, 307 |
AP, 0 |
EzA-SD 2003, 5 |
EzA |
ArbRB 2003, 70 |
SPA 2003, 5 |