Entscheidungsstichwort (Thema)
Tariflicher Urlaubsanspruch - Nachwirkung des Tarifvertrags
Leitsatz (redaktionell)
Einzelne Bestimmungen eines Tarifvertrags sind kündbar, wenn dies von den Tarifvertragsparteien vereinbart ist.
Soll die Nachwirkung eines Tarifvertrags ausgeschlossen werden, bedarf es dazu einer Vereinbarung der Tarifvertragsparteien.
Wirkt ein Tarifvertrag nach, so hat ein tarifgebundener Arbeitnehmer Anspruch auch auf Leistungen, die erst während der Nachwirkung entstehen.
Orientierungssatz
Auslegung der §§ 7 und 8 des Manteltarifvertrages für für die Arbeitnehmer der metallverarbeitenden Handwerke im Lande Nordrhein-Westfalen, zuletzt in der Fassung vom 30.6.1986.
Verfahrensgang
LAG Hamm (Entscheidung vom 17.05.1989; Aktenzeichen 3 Sa 1707/88) |
ArbG Münster (Entscheidung vom 06.09.1988; Aktenzeichen 2 Ca 990/88) |
Tatbestand
Der am 24. Februar 1959 geborene Kläger ist seit dem 1. Mai 1979 als Landmaschinenmechaniker bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der "Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der metallverarbeitenden Handwerke im Lande Nordrhein-Westfalen " zuletzt in der Fassung vom 30. Juni 1986, gültig ab 1. Januar 1987 (MTV), anzuwenden. In § 7 MTV ist u.a. bestimmt:
"§ 7
Allgemeine Urlaubsbestimmungen
...
7. Der Urlaubsanspruch erlischt 3 Monate nach Ab-
lauf des Kalenderjahres, es sei denn, daß er
erfolglos geltend gemacht wurde oder daß der
Urlaub aus betrieblichen Gründen oder wegen
Krankheit nicht genommen werden konnte.
..."
§ 8 MTV lautet:
"§ 8
Urlaubsdauer
1. Der Urlaub beträgt für alle Betriebe der Ver-
bandsbereiche nachfolgender Verbände
a) Fachverband Sanitär-Heizung-Klima NW
b) Fachverband Metall NW
c) Fachverband der Mechanikerhandwerke NW
30 Arbeitstage.
2. Für die Betriebe des Fachverbandes Landmaschi-
nentechnik NW gilt die Schlichtungsvereinba-
rung vom 21. Juni 1982.
..."
Die Schlichtungsvereinbarung vom 21. Juni 1982 (SV 1982) enthält u.a. folgende Bestimmungen:
"...
5. Die Vereinbarung über eine Änderung der Ur-
laubsregelung aus dem Manteltarifvertrag wird
mit Wirkung vom 1. Januar 1982 für eine Lauf-
zeit bis 31.12.1986 wie folgt geregelt:
Urlaubsdauer
nach
Lebensjahren 1982 1983 1984 1985 1986
------------------------------------------
...
25 J. - 30 J. 26 27 28 29 30
...
...
8. Bezüglich des Stufenplans der Urlaubsregelung
behalten sich die Tarifvertragsparteien eine
jährliche Kündigung, monatlich zum 31.12.
eines jeden Jahres für die Urlaubsstaffel des
jeweils folgenden Jahres vor.
9. Im Falle der Kündigung verhandeln die Tarif-
vertragsparteien.
..."
Der Fachverband Landmaschinentechnik, dem die Beklagte als Mitglied angehört, hat als Partei der Schlichtungsvereinbarung den Stufenplan am 19. November 1984 für die Urlaubsstaffel des Jahres 1985 und am 22. November 1985 für die Urlaubsstaffel des Jahres 1986 gekündigt.
Der Kläger hat seit dem Jahre 1984 jeweils 28 Urlaubstage erhalten. Am 19. Februar 1988 hat der Kläger von der Beklagten ohne Erfolg als Urlaubsanspruch des Jahres 1987 zwei weitere Urlaubstage begehrt.
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für das Kalenderjahr 1987 noch zwei Urlaubstage zu gewähren, hilfsweise zwei Urlaubstage in Höhe von 239,68 DM abzugelten. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagziel weiter. Die Beklagte bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat mit dem Hauptantrag Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Verurteilung der Beklagten. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf weitere zwei Urlaubstage, die ihm die Beklagte bisher nicht gewährt hat.
1. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, daß für den Urlaubsanspruch § 8 Abs. 2 MTV maßgeblich ist, weil die Beklagte dem Fachverband Landmaschinentechnik angehört. Damit ist der hier streitige Urlaubsanspruch der Urlaubsstaffel in Nr. 5 SV 1982 zu entnehmen.
2. Zuzustimmen ist dem Landesarbeitsgericht auch darin, daß die Regelung über die Urlaubsstaffel für den Urlaubsanspruch des Klägers im Jahre 1987 keine normative Wirkung i.S. von § 4 Abs. 1 TVG hatte. Abgesehen davon, daß sie in ihrer Laufzeit ohnehin am 31. Dezember 1986 nach der Regelung in Nr. 5 SV 1982 (Eingangssatz) beendet war, ist sie bereits vorher zunächst für das Jahr 1985 und sodann für das Jahr 1986 gekündigt worden. Damit war die normative Wirkung dieser Tarifregelungen bereits mit dem Ende des Jahres 1984 beendet.
Die Befugnis, den Stufenplan der Urlaubsregelung jeweils für das folgende Jahr zu kündigen, haben sich beide Tarifvertragsparteien in Nr. 8 SV 1982 ausdrücklich vorbehalten. Gegen die Wirksamkeit der vom Fachverband Landmaschinentechnik für die Jahre 1985 und 1986 erklärten Kündigungen sind Bedenken nicht ersichtlich. Kündigungen nur von einzelnen tarifvertraglichen Bestimmungen sind jedenfalls dann möglich, wenn dies im Tarifvertrag ausdrücklich vereinbart ist (allgemeine Meinung, vgl. Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 2. Aufl., § 4 Rz 44 mit Nachweisen).
Mit dem Wirksamwerden der Kündigungen für die Urlaubsstaffel im Jahre 1985 und im Jahre 1986 ist die zwingende Wirkung der nach § 8 Abs. 2 MTV in Bezug genommenen Regelung in Nr. 5 SV 1982 beendet und damit nach § 4 Abs. 5 TVG u.a. die einzelvertragliche Änderung des Urlaubsanspruchs möglich. Tatsachen für eine solche Änderung des Urlaubsanspruchs sind vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt. Angriffe hiergegen werden von den Parteien nicht geführt.
3. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG von Nr. 5 SV 1982 i.V.m. § 8 Abs. 2 MTV nicht ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluß ist zwar grundsätzlich möglich, wenn die Tarifvertragsparteien dies vereinbaren (vgl. etwa BAGE 53, 1 = AP Nr. 12 zu § 4 TVG Nachwirkung m.w.N.). Von dieser Möglichkeit haben sie aber keinen Gebrauch gemacht.
Zu Unrecht meint die Beklagte, daß mit der Vereinbarung über die Kündbarkeit der Regelung in Nr. 8 SV 1982 über die Urlaubsstaffeln notwendig der Ausschluß der Nachwirkung verbunden sei. Dafür kann den tarifvertraglichen Regelungen nichts entnommen werden. In Nr. 9 SV 1982 ist nur für den Fall einer Kündigung vorgesehen, daß die Tarifvertragsparteien verhandeln. Über die Folgen der Kündigung im übrigen ist keine Regelung getroffen. Schließlich vermag auch der Hinweis der Beklagten auf die Beweggründe des Fachverbands Landmaschinentechnik, die dieser bei Abschluß der SV 1982 gehabt habe, keine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Auch wenn es zutrifft, daß der Fachverband Landmaschinentechnik dem SV 1982 nur zugestimmt hat, um bei ungünstiger wirtschaftlicher Entwicklung durch eine Kündigung das Entstehen höherer Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer im jeweils folgenden Kalenderjahr zu vermeiden, ist dies nicht Inhalt der Vereinbarungen geworden. Von den Parteien einer tariflichen Regelung jeweils verfolgte Zwecke können aber nur dann berücksichtigt werden, wenn sie im Tarifvertrag selbst Ausdruck gefunden haben (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. BAGE 46, 308 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung). Ganz abgesehen davon, daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß die andere Tarifvertragspartei etwa den gleichen Zweck wie der Fachverband Landmaschinentechnik mit der Regelung in Nr. 8 SV 1982 verfolgt hätte, ist den hier maßgeblichen Regelungen kein entsprechender Anhaltspunkt zu entnehmen.
4. Ist damit davon auszugehen, daß § 8 Abs. 2 MTV mit der Verweisung auf die Schlichtungsvereinbarung auch im Jahre 1987 im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG noch nachgewirkt hat, kann der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, daß dem Kläger nur 28 Urlaubstage im Urlaubsjahr 1987 zugestanden haben, nicht zugestimmt werden.
a) Das Landesarbeitsgericht meint, das Nachwirkungsprinzip besage nur, daß der bisher erreichte Standard weitergelte, bis eine andere kollektiv- oder einzelvertragliche Abrede an die Stelle der gekündigten Tarifvorschrift trete. Der vom Kläger im Zeitpunkt der Kündigung erreichte Standard sei die Stufe 1984 der Urlaubsregelung. Bezüglich der Stufen 1985 und 1986 habe der Kläger nur eine allein vom Willen des Fachverbands Landmaschinentechnik abhängige Chance gehabt, daß dieser die Kündigungsmöglichkeit auslassen werde, aber keinen irgendwie gearteten Anspruch darauf.
b) Diese Auffassung des Landesarbeitsgerichts wird zu Recht von der Revision angegriffen. Sie stimmt mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht überein (vgl. z.B. BAGE 27, 22 = AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung sowie BAG Urteil vom 28. Januar 1987 - 5 AZR 323/86 - AP Nr. 16 zu § 4 TVG Nachwirkung). Danach bleiben kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 5 TVG) die Wirkungen der Regelungen für die Arbeitsverhältnisse erhalten, für die sie auch bisher schon maßgeblich waren. Gelten damit die gekündigten Rechtsnormen für diese Arbeitsverhältnisse zwar nicht mehr kraft der Wirkung des Tarifvertrags, sondern kraft Gesetzes weiter, ist nicht zu erkennen, woraus sich die vom Landesarbeitsgericht angenommene Beschränkung der Nachwirkung auf einen von ihm angenommenen "Standard" ergibt. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist im übrigen widersprüchlich: Obwohl das Landesarbeitsgericht von der Nachwirkung der Tarifregelungen nach Nr. 5 SV 1982 ausgeht, verneint es dennoch, daß die gekündigten Regelungen für die Jahre 1985 (Steigerung des Urlaubsanspruchs in der Altersgruppe des Klägers auf 29 Urlaubstage) und 1986 (Steigerung auf 30 Urlaubstage) Wirkungen im Arbeitsverhältnis des Klägers habe, hält also die Nachwirkung insoweit für nicht gegeben. Damit übersieht es, daß der von ihm angenommene "Standard" von 28 Urlaubstagen nicht auf der Nachwirkung einer Tarifnorm beruht, sondern unmittelbare und zwingende Wirkung von Nr. 5 SV 1982 ist, weil der Urlaubsanspruch, wie ihn das Landesarbeitsgericht annimmt, bereits im Jahr 1984 vor den Kündigungen der Urlaubsstaffeln kraft Tarifrecht entstanden war und die tariflichen Regelungen insoweit auch gegenwärtig fortbestehen.
Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts zum Umfang der Nachwirkung wird entgegen seinem Hinweis nicht von den Ausführungen von Wiedemann/Stumpf (TVG, 5. Aufl., § 4 Rz 185) gedeckt. Soweit dort von "der Aufrechterhaltung des bisherigen Standards" gesprochen wird, bezieht sich dies auf die Beendigung des gesamten Tarifvertrags, der auch nach Auffassung dieser Autoren nach § 4 Abs. 5 TVG entsprechend seinem bisherigen Inhalt weiterwirkt, bis eine andere Abrede ihn ersetzt.
Zu Unrecht meint das Landesarbeitsgericht schließlich, der Kläger habe für die Stufen 1985 und 1986 keinen Anspruch gehabt, sondern nur eine vom Willen des Fachverbands Landmaschinentechnik abhängige Chance. Mit diesen Darlegungen verkennt das Landesarbeitsgericht ebenfalls die Wirkungen nach § 4 Abs. 5 TVG. Trifft es zu, daß die gekündigten Regelungen des Tarifvertrags nachwirken, treten für die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse der Nachwirkung unterliegen, auch nach Wirksamwerden der Kündigung kraft Gesetzes die gleichen Folgen ein, als wenn die Regelungen des Tarifvertrags ungekündigt fortbestünden.
Dem Landesarbeitsgericht kann auch nicht darin zugestimmt werden, daß die in Nr. 5 SV 1982 vorgesehenen erhöhten Urlaubsansprüche für den Kläger nur jeweils vom Willen eines Tarifpartners abhängige Chancen gewesen seien. Die in Nr. 5 SV 1982 enthaltenen Steigerungen des Urlaubs waren im Zeitpunkt der Kündigungen jeweils aufschiebend bedingte Ansprüche, für deren Entstehen nur das Erreichen des für die nächste Stufe vorgesehenen Alters erforderlich war. Dieser Zusammenhang ist durch die Kündigung der Regelungen für die Jahre 1985 und 1986 in ihren Wirkungen für das Arbeitsverhältnis des Klägers durch § 4 Abs. 5 TVG nicht geändert worden.
Damit hatte der Kläger, der in den Jahren 1985 und 1986 nach dem Lebensalter der tariflichen Gruppe von 25 bis 30 Jahren angehört hat, in diesen Jahren Anspruch auf den jeweils erhöhten Urlaub. Dem Kläger standen daher bereits im Jahre 1986 30 Urlaubstage zu. Eine weitere Steigerung ist in den Urlaubsstaffeln für das Jahr 1987 nicht vorgesehen, so daß auch im Jahre 1987 für den Kläger ein Anspruch auf 30 Urlaubstage entstanden ist. Hiervon hat er bisher 28 Urlaubstage erhalten. Daher ist die Beklagte verpflichtet, ihm noch weitere zwei Urlaubstage zu gewähren.
5. Der Urlaubsanspruch ist vom Kläger am 19. Februar 1988, also rechtzeitig vor Erlöschen des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 7 MTV, geltend gemacht worden. Nach § 7 Abs. 7 MTV tritt der Urlaub, der erfolglos geltend gemacht ist, dem Urlaubsanspruch des folgenden Jahres hinzu. Da die Beklagte diesen Anspruch bisher auch während des Rechtsstreits und der darin jeweils für die folgenden Jahre liegenden Geltendmachung nicht erfüllt hat, steht dem Kläger der Anspruch auf beide Urlaubstage unverändert zu.
Michels-Holl Dr. Leinemann Dr. Peifer
H. Rheinberger Dr. Pühler
Fundstellen
Haufe-Index 441626 |
BAGE 65, 359-365 (LT1) |
BAGE, 359 |
BB 1991, 762 |
BB 1991, 762-763 (LT1) |
DB 1991, 871-872 (LT1) |
EBE/BAG 1991, 39-40 (LT1) |
AiB 1991, 158-159 (LT1) |
NZA 1991, 353-354 (LT1) |
RdA 1991, 124 |
ZTR 1991, 206-207 (LT1) |
AP § 4 TVG Nachwirkung (LT1), Nr 19 |
AR-Blattei, ES 1550.6 Nr 30 (LT1) |
EzA § 4 TVG Nachwirkung, Nr 9 (LT1) |
MDR 1991, 653-654 (LT1) |