Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlängerte Kündigungsfristen für ältere Arbeiter
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn die Grundfristen oder die verlängerten Fristen für die ordentliche Kündigung von Arbeitern in Tarifverträgen eigenständig (konstitutiv) geregelt sind (wie zB in § 2 Manteltarifvertrag für die Beschäftigten des Einzelhandels in Niedersachsen vom 27.2.1981), haben die Gerichte für Arbeitssachen in eigener Kompetenz zu prüfen, ob die Kündigungsregelungen im Vergleich zu den für Angestellte geltenden Bestimmungen mit dem Gleichheitssatz des Art 3 GG vereinbar sind, an den auch die Tarifpartner uneingeschränkt gebunden sind.
2. An sachlichen Gründen für unterschiedliche Regelungen fehlt es, wenn eine schlechtere Rechtsstellung der Arbeiter nur auf einer pauschalen Differenzierung zwischen den Gruppen der Angestellten und der Arbeiter beruht.
3. Sachlich gerechtfertigt sind hinreichend gruppenspezifisch ausgestaltete unterschiedliche Regelungen, die zB entweder nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe nicht intensiv benachteiligen, oder funktions-, branchen- oder betriebsspezifischen Interessen im Geltungsbereich des Tarifvertrages mit Hilfe verkürzter Kündigungsfristen für Arbeiter entsprechen (zB überwiegende Beschäftigung von Arbeitern in der Produktion), oder gruppenspezifische Schwierigkeiten bestimmter Arbeitnehmer bei der Stellensuche mildern (Beispiel: Die höher- und hochqualifizierten Arbeitnehmer gehören überwiegend zur Gruppe der Angestellten). Andere sachliche Differenzierungsgründe werden durch diese Beispiele nicht ausgeschlossen.
4. Dieser Prüfungsmaßstab gilt sowohl für unterschiedliche Grundfristen als auch für ungleich verlängerte Fristen für Arbeiter und Angestellte mit längerer Betriebszugehörigkeit und höherem Lebensalter. Die Frage, ob die einschlägige tarifliche Kündigungsfrist verfassungsgemäß ist, kann nur unter Berücksichtigung des gesamten Tarifinhalts, soweit er einen Bezug zum Bestand des Arbeitsverhältnisses hat, beurteilt werden.
Orientierungssatz
Siehe auch den Beschluß des BVerfG vom 30.5.1990 - 1 BvL 2/83 = BVerfGE 82, 126 = BB Beilage 1990, Nr 27, der auf Grund Vorlegungsbeschluß des LArbG Hannover vom 23.4.1982 erging.
Verfahrensgang
ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 10.11.1990; Aktenzeichen 4 Ca 1920/81) |
LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.08.1990; Aktenzeichen 3 Sa 10/82) |
Tatbestand
Der Kläger (geboren am 7. November 1954), der 1973 seine Prüfung als Tischlergeselle bestanden hatte, war bei der Beklagten seit April 1979 als "Auslieferungstischler" beschäftigt. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert zwischen den Parteien nicht. Zu seiner Tätigkeit gehörte die Möbelauslieferung ebenso wie die Bearbeitung von Reklamationen. Der Kläger hatte Inkassovollmacht; mitunter vereinbarte er Termine mit den Kunden. Er war im Betrieb der Beklagten der einzige Auslieferungstischler; daneben wurden nur noch zwei Verkäufer sowie zwei Auszubildende beschäftigt.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft Allgemeinverbindlichkeitserklärung vom 28. Juli 1981 (Bundesanzeiger Nr. 154/1981 vom 21. August 1981) der Manteltarifvertrag vom 27. Februar 1981 für alle Beschäftigten einschließlich der Auszubildenden in den Betrieben des Einzelhandels im Lande Niedersachsen Anwendung. Dieser sieht in §§ 2 und 3 Regelungen über die Kündigungsfristen für Angestellte und gewerbliche Arbeitnehmer wie folgt vor:
§ 2
Beginn und Ende des Arbeits- und
Ausbildungsverhältnisses
...
(4) Für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses
bei Angestellten gilt die gesetzliche Kündigungs-
frist von 6 Wochen zum Schluß eines Kalendervier-
teljah-res. Abweichend hiervon ist eine Vereinba-
rung ei-ner längeren oder kürzeren beiderseitigen
Kündi-gungsfrist zulässig. Diese Kündigungsfrist
be-trägt mindestens einen Monat zum Monatsschluß.
Sie ist dem Beschäftigten schriftlich zu bestä-
tigen.
Für gewerbliche Arbeitnehmer gelten beiderseits
folgende Kündigungsfristen:
Von der 5. Woche bis zum
Ende des 3. Jahres der Be-
triebszugehörigkeit 2 Wochen
zum Wochenschluß
im 4. und 5. Jahr der Be-
triebszugehörigkeit 1 Monat
zum Monatsende
im 6. bis 10. Jahr der Be-
triebszugehörigkeit 2 Monate
zum Monatsende
nach 10jähriger Betriebszu-
gehörigkeit 2 Monate zum
Schluß eines Kalenderviertel-
jahres
§ 3
Probezeit
(1) Wird mit Angestellten eine Probezeit verein-
bart, so soll sie drei Monate nicht überschrei-
ten. Die Kündigungsfrist während der Probezeit
beträgt einen Monat zum Monatsende.
(2) Bei gewerblichen Arbeitnehmern wird das Ar-
beitsverhältnis zunächst auf 4 Wochen zur Probe
eingegangen, sofern nicht eine kürzere Frist ver-
einbart oder eine Probezeit ausdrücklich ausge-
schlossen wird. Während der Probezeit kann das
Arbeitsverhältnis von beiden Seiten unter Einhal-
tung einer Frist von einer Woche zum Wochenschluß
gekündigt werden.
(3) Wird das Probearbeitsverhältnis über die ver-
einbarte Zeit hinaus fortgesetzt, geht es in ein
ständiges Arbeitsverhältnis über.
Mit Schreiben vom 13. August 1981 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. August 1981 mit der Begründung, die Beschäftigung eines Auslieferungstischlers sei wegen des zurückgegangenen Auftragseinganges in absehbarer Zeit nicht mehr erforderlich.
Mit seiner Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewehrt; er hat früher geltend gemacht, er sei nicht als Arbeiter, sondern als Angestellter anzusehen. Jedenfalls sei aber die zweiwöchige Kündigungsfrist verfassungswidrig und durch die für Angestellte geltende Kündigungsfrist zu ersetzen.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der
Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom
13. August 1981 erst zum 30. September 1981
beendet worden sei.
Die Beklagte hat mit ihrem Klageabweisungsantrag sich auf die tarifliche Kündigungsfrist für gewerbliche Arbeitnehmer von zwei Wochen zum Wochenschluß berufen. Mangels Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes müsse die Klage abgewiesen werden, zumal die tarifliche Kündigungsfrist auch nicht verfassungswidrig sei.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung hat das Landesarbeitsgericht ursprünglich durch Beschluß vom 23. April 1982 zunächst das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 622 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BGB wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG insoweit verfassungswidrig sei, als dort unterschiedliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte bestimmt werden. Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (AP Nr. 28 zu § 622 BGB) hat das Landesarbeitsgericht alsdann durch Urteil vom 22. August 1990 das erstinstanzliche Urteil abgeändert und nach dem Klageantrag erkannt. Hiergegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten, um deren Zurückweisung der Kläger bittet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung (§ 565 ZPO). Hierbei hat der Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung - kurz zusammengefaßt - wie folgt begründet: Die Beklagte könne sich nicht auf die kurzen Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer aus § 2 MTV Einzelhandel Niedersachsen berufen, denn auch die Tarifpartner seien an die Grundrechte gebunden und dürften Arbeiter und Angestellte bei den Kündigungsfristen nicht pauschal anders behandeln. Angesichts der verfassungswidrigen Bestimmung des § 622 Abs. 2 BGB komme eine entsprechende Anwendung der in § 1 des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1976 verankerten Kündigungsfristen in Betracht. Dabei brauche vorliegend nicht entschieden zu werden, ob eine Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Quartal oder die auf einen Monat zum Monatsende verkürzbare Frist (§ 622 Abs. 1 Satz 2 BGB) gelte, denn in beiden Fällen habe die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Kündigung vom 13. August 1981 erst zum 30. September 1981 - wie vom Kläger erstrebt - auflösen können. Es habe auch selbst über die für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses maßgebende Kündigungsfrist zu entscheiden, da entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluß vom 30. Mai 1990 (aaO) eine Aussetzung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung ausscheide. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begründe insoweit eine normative Verhaltenspflicht der Fachgerichte und deshalb sei die richterliche Entscheidung zur Vermeidung einer "Rechtsverweigerungslücke" erforderlich. Dagegen fehle die gesetzliche Voraussetzung für eine Aussetzung nach § 148 ZPO ebenso, wie ein Teilurteil unzulässig sei. Eine "außerordentliche Aussetzung" scheide aus mehreren Gründen aus. Demnach sei die endgültige Entscheidung des Gerichts geboten, weil der Gesetzgeber für die Vergangenheit bzw. für die Übergangszeit nur die Möglichkeit habe, die Kündigungsfristenregelung für Angestellte auf die bislang benachteiligte Gruppe der Arbeiter zu erstrecken.
II. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Revision rügt zu Recht eine Verletzung materiellen Rechts, weil das Landesarbeitsgericht bei seinen Erörterungen, welche Kündigungsfrist für das Arbeitsverhältnis der Parteien maßgeblich sei, nicht näher auf die allgemeinverbindliche Regelung in § 2 Ziff. 4 MTV für den niedersächsischen Einzelhandel vom 27. Februar 1981 eingegangen, sondern fehlerhafterweise sogleich von der gesetzlichen Fristenregelung des § 622 Abs. 2 BGB ausgegangen sei. Da die Entscheidung deshalb ohnehin aufgehoben werden muß, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob auch die formelle Rüge der Verletzung des § 139 ZPO sowie des Art. 103 GG durchgreift, das Landesarbeitsgericht habe die tarifrechtliche Problematik im Anschluß an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 nicht mit den Parteien erörtert.
1. Die für das Arbeitsverhältnis der Parteien maßgebliche Kündigungsfrist ist in § 2 Ziff. 4 MTV niedersächsischer Einzelhandel geregelt, der am 28. Juli 1981 für allgemeinverbindlich erklärt wurde (Bundesanzeiger Nr. 154 vom 21. August 1981) und deshalb das Arbeitsverhältnis der Parteien erfaßt, § 5 Abs. 4 TVG. Die im Tatbestand wiedergegebene Bestimmung enthält keine neutrale Klausel (vgl. BAGE 35, 185, 189 = AP Nr. 17 zu § 72 a ArbGG 1979 Grundsatz, zu II 2 b der Gründe; BAGE 49, 28 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB und BAG Beschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - AP Nr. 24 zu § 622 BGB), sondern eine eigenständige tarifliche Norm, die die Kündigungsfristen für die gewerblichen Arbeitnehmer abweichend von § 622 Abs. 2 BGB regelt, was grundsätzlich nach § 622 Abs. 3 BGB zulässig ist. Da die Tätigkeit des Klägers als die eines Arbeiters einzustufen ist, wie im Anschluß an die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen im Beschluß vom 23. April 1982 unter den Parteien unstreitig und auch aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist, sind diese Kündigungsfristen vorliegend maßgeblich und unter Berücksichtigung der Hinweise, die das Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 30. Mai 1990 (aaO) gegeben hat, an Art. 3 GG zu messen. Die Fachkompetenz hierfür liegt bei den Gerichten für Arbeitssachen (vgl. Buchner, NZA 1991, 41, 48; Koch, NZA 1991, 50, 52; BAGE 49, 21, 29 f. = AP, aaO, zu II 4 a der Gründe).
a) Die Eigenständigkeit der Kündigungsfristenregelung für Arbeiter im niedersächsischen MTV Einzelhandel folgt zunächst daraus, daß die Tarifvorschrift nur hinsichtlich der Angestellten ausdrücklich auf die gesetzlichen Bestimmungen Bezug nimmt, während die Tarifpartner im übrigen abweichende Bestimmungen für gewerbliche Arbeitnehmer getroffen haben. Bereits dadurch wird ein selbständiger Regelungswille für diesen Personenkreis deutlich.
b) Ein wesentlicher Unterschied zur gesetzlichen Regelung besteht sachlich darin, daß die Betriebszugehörigkeit bei der Bestimmung der Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer ab Eintritt in den Betrieb, bei Angestellten nach der in Bezug genommenen gesetzlichen Regelung erst ab dem 25. Lebensjahr angerechnet wird, was insofern sogar eine Bevorzugung gewerblicher Arbeitnehmer im Vergleich zu den Angestellten bedeutet. Damit distanzieren sich die Tarifpartner deutlich von der früheren, durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 (BVerfGE 62, 256 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB) für verfassungswidrig erklärten Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BGB, die beim Arbeiter auf die Vollendung des 35. Lebensjahres abstellte. Zwar nicht die Kündigungsfristen, wohl aber die Wartezeiten sind bis auf die fehlende letzte Stufe (Beschäftigungszeit von 12 Jahren) nach dem Angestelltenkündigungsschutzgesetz so weitgehend angeglichen worden, daß anders als in der Revisionssache 2 AZR 323/84 die Verfassungswidrigkeit der Fristenregelung für ältere Arbeiter nicht bereits aus der Ungleichheit der Wartezeiten herzuleiten ist.
c) Auch in den Kündigungsfristen selbst ergeben sich Unterschiede: Zwar sind die Grundkündigungsfristen bei gewerblichen Arbeitnehmern - auch in der Probezeit - kürzer, aber im Vergleich zu dem für verfassungswidrig erklärten § 622 Abs. 2 BGB wird bereits im vierten und fünften Jahr der Betriebszugehörigkeit die Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende erhöht, während § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB in der verfassungswidrigen Fassung dies erst nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit vorsieht. Zu diesem Zeitpunkt beträgt aber die tarifliche Kündigungsfrist bereits zwei Monate zum Monatsende, während dies gesetzlich erst nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit vorgesehen war. Eine weitere Abweichung zugunsten der gewerblichen Arbeitnehmer gegenüber § 622 Abs. 2 BGB besteht darin, daß nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit die Kündigungsfrist zwei Monate zum Quartal beträgt. Eine Verschlechterung enthält der Tarifvertrag allerdings insofern, als die (verfassungswidrige) gesetzliche Regelung einer dreimonatigen Kündigungsfrist nach zwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit nicht übernommen wird. Die Grundkündigungsfrist für gewerbliche Arbeitnehmer beträgt demgegenüber auch in den ersten drei Jahren der Betriebszugehörigkeit im Unterschied zu der für verfassungswidrig erklärten Regelung, die keinen Kündigungstermin festlegt, zwei Wochen zum Wochenschluß.
2. Wie diese Übersicht belegt, kann von einer nur deklaratorischen Übernahme gesetzlicher Vorschriften im Sinne der Rechtsprechung (vgl. oben zu II 1 und Senatsbeschluß vom 28. Januar 1988 - 2 AZR 296/87 - AP Nr. 24 zu § 622 BGB betreffend § 12 Ziff. 1.2 BRTV-Bau ) bei den gewerblichen Arbeitnehmern im niedersächsischen Einzelhandels-MTV nicht die Rede sein.
a) Da das Landesarbeitsgericht diese Frage nicht problematisiert hat, hat die Beklagte erstmalig in der Revisionsinstanz zur sachlichen Begründung der unterschiedlichen Kündigungsfristen von gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten vorgetragen, die Arbeitgeber im niedersächsischen Einzelhandel pflegten bei Angestellten "in einer Vielzahl von Fällen" die Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende zu verkürzen, so daß diese Handhabung in der Praxis zu einer weitgehenden Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten führe. Von weitergehenden Verlängerungen der Kündigungsfrist bei längerer Betriebszugehörigkeit der gewerblichen Arbeitnehmer sei abgesehen worden, weil im Gegensatz zum Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten die tariflichen Kündigungsfristen der Arbeiter beiderseitig gelten; man habe die Mobilität der gewerblichen Arbeitnehmer nicht weiter einschränken wollen. Auch würden die gewerblichen Arbeitnehmer mit 13 % aller Beschäftigten im niedersächsischen Einzelhandel nur als relativ kleine Gruppe durch § 2 Ziff. 4 MTV betroffen. In kleineren Einzelhandelsbetrieben gebe es vielfach überhaupt keine gewerblichen Arbeitnehmer. Für die Angestellten im niedersächsischen Einzelhandel ergäben sich dagegen aus der Typisierung der Tätigkeiten Sachgründe für längere Kündigungsfristen. Eine Gesamtbetrachtung ergebe, daß die Tarifpartner bei der Regelung der Kündigungsfristen von ihrem Gestaltungsspielraum nicht in unangemessener Weise Gebrauch gemacht hätten, wobei nach ihrer - der Beklagten - Ansicht auch das Gesamttarifwerk bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung in die Betrachtungsweise einbezogen werden müsse.
b) Der Kläger hat sich demgegenüber darauf berufen, die in § 622 Abs. 2 BGB genannte Regelung sei "im wesentlichen" übernommen worden. Erstmalig in der Revisionsinstanz hat er das Vorliegen sachlicher Gründe für die im MTV Einzelhandel vorgenommene Differenzierung der Kündigungsfristen bezweifelt. Da er sich mit der Klage allein auf die Unwirksamkeit dieser Kündigungsfristen berief, hätte das Landesarbeitsgericht Veranlassung gehabt, auch ohne bisher weitergehenden Tatsachenvortrag des Klägers - insoweit entgegen der Meinung der Revision - seine Prüfung konkret auf die in Rede stehende Tarifnorm zu beziehen und diese unter Auswertung der Entscheidung des BVerfG vom 30. Mai 1990 an Art. 3 GG zu messen (vgl. dazu auch Koch, NZA 1991, 50, 51, 52). Dies ist bisher nicht geschehen. Ohne den Parteien jegliche Tatsacheninstanz zu nehmen, kann der Senat nicht selbst in der Sache entscheiden. Vielmehr muß dem Kläger und der Beklagten Gelegenheit gegeben werden, zu der aufgeworfenen Frage der angeblich sachlich gerechtfertigten Differenzierung der einschlägigen Tarifregelung weiter vorzutragen.
c) Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluß vom 30. Mai 1990 (- 1 BvL 2/83 u.a. - BVerfGE 82, 126 = AP Nr. 28 zu § 622 BGB) zu Recht darauf hingewiesen, der von tarifvertraglichen Regelungen erfaßte Personenkreis sei nicht mit den von ihm beurteilten Großgruppen von Angestellten und Arbeitern identisch (C I 6 der Gründe), es gebe jedoch Unterscheidungsmerkmale, die - wenn gruppenspezifisch - ungleiche Fristen an sich rechtfertigen könnten (C I 4 der Gründe); dazu seien etwa besondere Umstände aus Anlaß von Stellensuche und Arbeitslosigkeit (C I 4 f der Gründe), im Hinblick auf eine Verteuerung der Sozialpläne (C I 4 g der Gründe) sowie eine etwa notwendige Flexibilität im produktiven Bereich (C I 4 h der Gründe) zu zählen. Insofern wäre die Prüfung nicht nur auf die Grundfristen, sondern auch auf die verlängerten Kündigungsfristen zu erstrecken (vgl. ebenso BVerfGE 82, 126 = AP, aaO, zu C I 3 der Gründe), wobei es u. a. auch eine Rolle spielen könnte, ob die Arbeitsvertragspartner bei Angestellten - wie die Beklagte geltend macht - in der Praxis häufig oder überwiegend von der Möglichkeit der Verkürzung der Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende Gebrauch machen. Auch das Bundesverfassungsgericht hält es für erheblich (zu C I 3), ob mit Hilfe einer derartigen, etwa in der Praxis bevorzugten Verkürzung der Kündigungsfrist von Angestellten auf einen Monat zum Monatsschluß eine weitgehende Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten erfolgt. Schließlich könnte die beiderseitige Bindung an Kündigungsfristen ebenso von Bedeutung sein (BVerfG, aaO, zu C I 3 am Ende), wie die Frage, ob nur eine relativ kleine Gruppe bei eventuell nicht so intensivem Gleichheitsverstoß benachteiligt würde (vgl. dazu BVerfGE 26, 265, 275 und 71, 39, 50). Schließlich werden durch diese Aufzählung andere sachliche Differenzierungsgründe nicht ausgeschlossen. Auf den entsprechenden Sachvortrag der Parteien wird das Landesarbeitsgericht - ggf. unter Einholung von Auskünften der Tarifpartner - alsdann einzugehen haben. Dabei wäre zu beachten, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Tarifvertragsparteien den Grundrechten der Normunterworfenen einerseits keine engeren Grenzen ziehen dürfen, als dies dem Gesetzgeber erlaubt ist (seit BAGE 1, 258 = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; BAG Urteil vom 6. Februar 1985 - 4 AZR 370/83 - AP Nr. 16 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung, m. w. N.; Buchner, AR-Blattei - D - Tarifvertrag V, Inhalt, A IV 2; Wiedemann/ Stumpf, TVG, 5. Aufl., Einl. Rz 62, 64). Weitergehende Eingriffsbefugnisse können insbesondere nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG hergeleitet werden; allerdings muß es den Tarifparteien wegen der durch die Verfassung garantierten Tarifautonomie überlassen bleiben, in eigener Verantwortung unter Umständen Zugeständnisse in einer Hinsicht mit Vorteilen in anderer Hinsicht auszugleichen (BAGE 11, 217, 219 = AP Nr. 3 zu § 10 UrlaubsG Hamburg, zu I 1 der Gründe; BAGE 28, 14, 18 f. = AP Nr. 40 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, zu 2 der Gründe; BAGE 38, 118 = AP Nr. 47, aaO). Die Norm des Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen vor staatlichen Eingriffen und gegenüber Dritten. Es ist daher bereits im Ansatz verfehlt, das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuwägen und dem aus Art. 9 Abs. 3 GG das größere Gewicht zu verleihen (anderer Ansicht Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 130). Zwar spricht bei allgemeinen tariflichen Regelungen die Vermutung für einen sachgerechten Interessenausgleich. Das gilt aber für die Frage der sachgerechten Differenzierung von Kündigungsfristen der Arbeitnehmer nur eingeschränkt (vgl. dazu BVerfGE 82, 126, 149 = AP, aaO, zu C I 4 c; siehe auch Kern, NZA 1991, 56, 57). Von Bedeutung könnte insoweit sein, ob sich die Tarifpartner weitgehend an der gesetzlichen Lage orientiert haben oder ob konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Mehrzahl der unter den jeweiligen Tarifvertrag fallenden Arbeiter längere Kündigungsfristen nicht anstrebt, weil es auf die Auffassung bzw. Wertung der beteiligten Berufskreise nicht entscheidend ankommt.
d) Wenn die vorliegende tarifliche Klausel wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG nichtig sein sollte, dann wäre die unbewußte Regelungslücke von den Gerichten durch ergänzende Auslegung zu schließen, wenn sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifpartner ergeben, welche Entscheidung sie getroffen hätten, wenn ihnen die Nichtigkeit bekannt gewesen wäre (BAGE 1, 258, 271 = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; BAGE 49, 28 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB). Das setzt aber voraus, daß ausreichende Umstände für eine bestimmte Ergänzungsregelung sprechen oder diese nach objektiver Betrachtung zwingend geboten ist (BAGE 36, 218, 225 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten). Der abschließenden Würdigung des Landesarbeitsgerichts kann und soll insoweit nicht vorgegriffen werden.
Ist dagegen dem Tarifvertrag der Wille der Parteien zu entnehmen, sich an die jeweilige verfassungskonforme gesetzliche Regelung zu halten, dann ist der Rechtsstreit bis zur normativen Neuregelung des § 622 Abs. 2 BGB auszusetzen. Das folgt dann aus den Grundsätzen, die der Senat im Beschluß vom 21. März 1991 - 2 AZR 296/87 - für die verfassungswidrige Norm des § 622 Abs. 2 BGB und im Teilurteil vom 21. März 1991 - 2 AZR 323/84 - (beide zur Veröffentlichung vorgesehen) für eine verfassungswidrige tarifliche Fristenregelung aufgestellt hat.
Hillebrecht Dr. Ascheid Bitter
Thieß Dr. Kirchner
Fundstellen
Haufe-Index 438126 |
BAGE 67, 367-377 (LT1-4) |
BAGE, 367 |
BB 1991, 1937 |
BB 1991, 1937-1939 (LT1-4) |
BB 1991, 977 |
DB 1991, 1879-1881 (LT1-4) |
DStR 1991, 822 (T) |
NJW 1991, 3168 |
NJW 1991, 3168-3170 (LT) |
EBE/BAG 1991, 134-136 (LT1-4) |
EWiR 1991, 1085 (L) |
JR 1992, 44 |
JR 1992, 44 (ST) |
NZA 1991, 803-806 (LT1-4) |
RdA 1991, 382 |
RzK, I 3e 20 (LT1-4) |
ZTR 1991, 466-468 (LT1-4) |
AP § 622 BGB (LT1-4), Nr 31 |
EzA § 622 nF BGB, Nr 31 (LT1-4) |
EzBAT § 53 BAT Fristen, Nr 9 (LT1-4) |
MDR 1991, 1070-1071 (S) |