Leitsatz (amtlich)
1. Der Alleingesellschafter einer GmbH steht zur Gesellschaft in keinem Beschäftigungsverhältnis, selbst wenn er für diese eine untergeordnete Tätigkeit nach Weisung verrichtet.
2. Auch die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nur mit Wirkung für die Zukunft erfordert die Ausübung des Rücknahmeermessens.
3. Eine solche Rücknahme ist allein wegen fehlender Ermessensausübung aufzuheben, wenn im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung der gesamte betroffene Zeitraum in der Vergangenheit liegt und wenn zusätzlich die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 abgelaufen ist.
Orientierungssatz
Eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung setzt voraus, daß der Beschäftigte abhängig, dh weisungsgebunden beschäftigt wird. Die Abhängigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitnehmer es sich wirtschaftlich leisten kann, eine Unterwerfung unter das Direktionsrecht des Arbeitgebers jederzeit zu beenden.
Normenkette
AFG § 104 Abs 1 S 1, § 168 Abs 1; SGB 10 § 45 Abs 1; SGB 10 § 45 Abs 2 S 1; SGB 10 § 45 Abs 4 S 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Rücknahme einer Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg).
Die 1942 geborene Klägerin, früher als Stenokontoristin, Stenotypistin, Fremdsprachenstenotypistin, Bauleitungssekretärin und Chefsekretärin tätig, war ab Januar 1980 als kaufmännische Angestellte bei der Heizungsbau-Firma S. beschäftigt. Im Dezember 1980 gründete sie mit dem Heizungsbauer und Installateur S. eine GmbH. Deren Stammkapital wurde von beiden Gesellschaftern mit je 10.000,-- DM übernommen. Der Gesellschafter S. wurde zum Geschäftsführer mit Alleinvertretungsbefugnis im Gesellschaftsvertrag bestellt. Gesellschafterbeschlüsse sollten mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefaßt werden. Die Gesellschafter waren am Gewinn im Verhältnis ihrer Geschäftsanteile beteiligt.
Die Klägerin wurde von der GmbH mit Vertrag vom 10. Januar 1981 ab 21. Januar 1981 als Kontoristin bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden und einer monatlichen Vergütung von 2.000,-- DM angestellt. Ein Gewinn, der hätte verteilt werden können, wurde auch in der Folgezeit nicht erzielt. Der Urlaub richtete sich nach "Tarifgrundlagen" und war jeweils so rechtzeitig anzumelden, daß eine nötige Disposition im Betrieb rechtzeitig vorgenommen werden konnte. Die Klägerin verpflichtete sich, ihre volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, eine Nebentätigkeit nur mit Zustimmung des Geschäftsführers zu übernehmen und nach dem Ausscheiden mit den Kunden der Gesellschaft keine weiteren Geschäfte zu tätigen. Die Kündigungsfrist betrug sechs Wochen zum Quartalsende.
Im März 1981 trat der Gesellschafter S. seinen Geschäftsanteil von 10.000,-- DM unentgeltlich an die Klägerin ab. Diese verpflichtete sich, S. von allen Verpflichtungen aus dem Gesellschaftsvertrag freizuhalten, insbesondere von der Verpflichtung zur Einzahlung der restlichen Stammeinlage.
Von Juni bis Dezember 1983 hielt die Klägerin nur 40 % der Gesellschaftsanteile; die restlichen 60 % wurden von einer weiteren neubeteiligten Gesellschafterin gehalten. Nach deren Ausscheiden übernahm ab Januar 1984 die Klägerin wieder alle Geschäftsanteile.
Die beigeladene Ersatzkasse zog seit Juni 1983 für die Klägerin Beiträge zur Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung ein. Für die Zeit davor führte sie die Klägerin als freiwillig versicherte Selbständige.
Im Juli 1986 stellte die GmbH wegen Zahlungsunfähigkeit ihre Betriebstätigkeit ein. Der Klägerin wurde zum 31. Juli 1986 gekündigt. Die Beklagte bewilligte der Klägerin aufgrund einer Arbeitsbescheinigung, wonach sie vom 10. Januar 1981 bis zum 31. Juli 1986 bei der GmbH als Sekretärin angestellt war, Alg ab 1. August 1986 für 416 Tage.
Nachdem die Beklagte im Zusammenhang mit einem abgelehnten Antrag auf Konkursausfallgeld (Kaug) ermittelt hatte, daß die Klägerin Alleingesellschafterin gewesen war, hob sie die Bewilligung des Alg ab 19. September 1986 auf (Bescheid vom 16. September 1986; Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 1987).
Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat den Rücknahmebescheid aufgehoben (Urteil vom 15. September 1988). Es hat festgestellt, die tatsächliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses habe dem Anstellungsvertrag entsprochen. Nach der Aussage des Zeugen S. sei die Klägerin als Büroangestellte tätig gewesen und habe keine eigenen Entscheidungsbefugnisse gehabt. In grundsätzlichen geschäftlichen Angelegenheiten habe der Zeuge sie nicht zu Rate gezogen, sondern diese in handwerklichen Fragen allein und bei kaufmännischen Dingen in Abstimmung mit dem Steuerberater geregelt. Selbst als die Schließung der Firma erforderlich wurde, habe der Zeuge dies mit der Klägerin nicht näher besprochen, sondern sie davon nur schlicht in Kenntnis gesetzt. Die Klägerin habe in der GmbH nie ein wesentliches Unternehmerrisiko getragen. Sie habe lediglich ihr vereinbartes Arbeitsentgelt erhalten.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision verweist die Beklagte auf das Urteil des 7. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. März 1984 (SozR 4100 § 168 Nr 16), wonach für Gesellschafter, die über mindestens die Hälfte des Stammkapitals einer GmbH verfügen, grundsätzlich die Möglichkeit einer abhängigen Beschäftigung zu verneinen sei. Da der zurückgenommene Bescheid damit rechtswidrig gewesen sei, hätte das LSG die übrigen Voraussetzungen einer Rücknahme nach § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) prüfen müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG vom 15. September 1988 aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beigeladene stimmt den Ausführungen der Beklagten zu, ohne einen Antrag zu stellen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen.
Der Senat vermag zwar der Auffassung des LSG nicht zu folgen, daß die Klägerin auch in der Zeit ihrer hundertprozentigen Beteiligung abhängig beschäftigt gewesen sei. Gleichwohl ist das Berufungsurteil im Ergebnis zu bestätigen, da der Rücknahmebescheid wegen fehlender Ausübung des Rücknahmeermessens rechtswidrig ist.
Die Klägerin hat die Anwartschaftszeit auf das ihr bewilligte Alg nur erfüllt, wenn sie auch in der Zeit, in der sie alle Geschäftsanteile der GmbH hielt, bei dieser abhängig beschäftigt war (§ 104 AFG). Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher den Senat bindenden Feststellungen des LSG war die Klägerin auch während ihrer Alleininhaberschaft an der GmbH nur als Büroangestellte ohne eigene Entscheidungsbefugnisse für die GmbH tätig. Der Alleingeschäftsführer der GmbH hat sie in grundsätzlichen geschäftlichen Angelegenheiten nicht zu Rate gezogen, sondern diese, weil es sich dabei meist um handwerkliche Fragen handelte, allein geregelt. Soweit es sich um kaufmännische Dinge handelte, geschah dies in Abstimmung mit dem Steuerberater. Selbst als die geschäftliche Situation sich so verschlechterte, daß die Schließung der Firma erforderlich wurde, hat der Geschäftsführer dies mit der Klägerin nicht näher besprochen, sondern sie von dieser Tatsache nur schlicht in Kenntnis gesetzt. Hiernach ist die Klägerin für die Einzelfirma und später für die Gesellschaft bei wechselnden Beteiligungsquoten jeweils in gleicher Weise tätig geworden, nämlich in der grundsätzlich abhängigen Arbeit einer Kontoristin, Sekretärin und Büroleiterin.
Der in § 104 Abs 1 Satz 1 AFG angesprochene Begriff einer "die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168)" setzt nach der Rechtsprechung voraus, daß der Beschäftigte persönlich abhängig ist, dh weisungsgebunden (fremdbestimmt) beschäftigt wird. Daher ist hier zu entscheiden, ob diese Abhängigkeit durch den unverbindlichen inneren Entschluß des für eine Gesellschaft Arbeitenden begründet werden kann, seine aufgrund der Alleininhaberschaft an sich bestehende Rechtsmacht über die Gesellschaft nicht auszuüben. Das LSG hat dies angenommen, weil nach der Rechtsprechung auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen ist. Der Gesellschafter/Geschäftsführer einer GmbH ist bei dieser abhängig beschäftigt, sofern er auf die Gesellschaft keinen beherrschenden Einfluß hat (vgl hierzu die tabellarische Rechtsprechungsübersicht in BB 1987, 410, 411). Dabei wurde ein die Abhängigkeit ausschließender beherrschender Einfluß auch anerkannt, wenn einem Minderheitsgesellschafter als Geschäftsführer tatsächlich in der Gesellschaft mehr Gewicht zukam, als der Gesellschaftsvertrag und der Anstellungsvertrag vorsahen (BSG Urteil vom 29. Oktober 1986 - 7 RAr 43/85 - BB 1987, 406 = Die Beiträge 1987, 17). Es mag daher folgerichtig erscheinen, mit dem LSG bei der tatsächlichen Nichtausübung der nach dem Gesellschaftsvertrag gegebenen Rechte, die Arbeitnehmereigenschaft zu bejahen, zumal fremdbestimmte Arbeit keine wirtschaftliche Abhängigkeit erfordert. Eine abhängige Beschäftigung wird nämlich nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitnehmer es sich wirtschaftlich leisten kann, seine Unterwerfung unter das Direktionsrecht des Arbeitgebers jederzeit zu beenden.
Gleichwohl sprechen die maßgeblichen faktischen Verhältnisse letztlich nicht für, sondern gegen die Wertung als abhängige Beschäftigung. Denn zu den tatsächlichen Verhältnissen gehört - unabhängig von ihrer Ausübung - auch die vorhandene Rechtsmacht. Hiernach ist sowohl derjenige, der die Rechtsmacht hat, als auch derjenige, der die Gesellschaft ohne Rechtsmacht tatsächlich leitet, nicht abhängig beschäftigt. Ähnlich ist beim Bestehen einer Sperrminorität weder der Mehrheitsgesellschafter noch der Minderheitsgesellschafter Arbeitnehmer.
Hätten die Beteiligten nicht die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft, sondern die einer Personengesellschaft, etwa die Form einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GdbR) gewählt, so wäre die Klägerin in der Zeit ihrer hundertprozentigen Beteiligung Inhaberin einer Einzelfirma gewesen. Das würde eine abhängige Beschäftigung von vornherein ausschließen. Insoweit würde es dem Grundsatz der Maßgeblichkeit der tatsächlichen Verhältnisse widersprechen, dieselbe Tätigkeit hinsichtlich des Machtverzichtes bei der Rechtsform einer GmbH trotz hundertprozentiger Beteiligung als Beschäftigungsverhältnis, im Falle der Übernahme aller Geschäftsanteile einer GdbR aber nicht als Beschäftigungsverhältnis anzusehen.
An dieser Entscheidung ist der Senat nicht durch die Rechtsprechung anderer Senate iS des § 42 SGG gehindert. Die Verneinung einer abhängigen Beschäftigung im Falle einer hundertprozentigen Beteiligung fügt sich vielmehr in die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Beschäftigung bei einer Gesellschaft ein. Diese Rechtsprechung unterscheidet nach der Gesellschaftsform und danach, ob die Tätigkeit in der Geschäftsführung oder in einer untergeordneten Arbeit besteht. Zum Tatbestand der untergeordneten Arbeit hat der 2. Senat des BSG angenommen, an den Verhältnissen, unter denen der damalige Kläger in der von einer GdbR betriebenen Dachschiefergrube beschäftigt gewesen sei, habe sich nichts dadurch geändert, daß er den Geschäftsanteil seines Vaters geerbt und zu 3/16 Gesellschafter der GdbR geworden sei (BSGE 25, 51). Dabei kann dahinstehen, ob die damalige Feststellung, mangels besonderer Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag habe die Führung der Geschäfte der Gesellschaft den Gesellschaftern gemeinschaftlich zugestanden (§ 709 BGB), so daß es für jedes Geschäft auch der Zustimmung des Klägers bedurfte (BSGE 25, 51, 54), als Anerkennung eines beherrschenden Einflusses im Sinne einer Sperrminorität zu verstehen ist. Selbst wenn der 2. Senat damit auch beim Vorliegen einer Sperrminorität eine abhängige Beschäftigung in untergeordneter Arbeit als möglich angesehen hat, könnte diese Aussage nicht auf eine hundertprozentige Beteiligung bezogen werden. Überdies schließt die mehrfache Wiedergabe des Beteiligungsverhältnisses von 3/16 eine solche Auslegung aus.
Soweit der 2. Senat hinsichtlich der Geschäftsführertätigkeit die Unternehmereigenschaft des Kapitalinhabers auch für den Fall verneint hat, daß dieser das gesamte Kapital einer juristischen Person in der Hand hat (BSGE 23, 83, 85), wird ausdrücklich klargestellt, daß die Versicherung nach § 537 Nr 10 RVO aF auch die Tätigkeit aufgrund einer länger dauernden vertraglichen Verpflichtung erfasse, die mangels persönlicher Abhängigkeit kein Beschäftigungsverhältnis darstelle (aaO 86).
Ein abweichender Rechtssatz ist auch den Urteilen des 12. Senats vom 20. Juli 1988 (SozR 7610 § 705 Nr 3) und vom 5. Mai 1988 (SozR 2400 § 2 Nr 25) nicht zu entnehmen. Im Urteil vom 20. Juli 1988 ist zu einer GdbR mit drei Gesellschaftern entschieden, die persönliche Abhängigkeit des klagenden Gesellschafters werde auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Geschäftsführung den Gesellschaftern gemeinschaftlich zustand, und daß nach dem Vertrag jedes Geschäft, das einen Wert von mehr als 500,-- DM betraf, auch der Zustimmung des Klägers bedurfte. Im Urteil vom 5. Mai 1988 wurde der Rechtsstreit über die versicherungspflichtige Beschäftigung eines GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführers an das LSG zurückverwiesen, da Feststellungen dazu erforderlich seien, ob der Kläger in der streitigen Zeit einen bestimmenden, über die Rechte eines Minderheitsgesellschafters hinausgehenden Einfluß auf Gestaltung und Dauer seiner eigenen Tätigkeit hatte. Beide Urteile betreffen Minderheitsgesellschafter und es deutet nichts darauf hin, daß der 12. Senat den aufgestellten Rechtssatz, nur die ausgeübte Rechtsmacht sei beachtlich, nicht nur für diesen Tatbestand, sondern auch für den Alleingesellschafter einer GmbH aufstellen wollte.
Keiner Entscheidung bedarf es, ob zwischen den vorgenannten Urteilen des 2. und 12. Senats einerseits und dem von der Beklagten angeführten Urteil des 7. Senats vom 20. März 1984 (SozR 4100 § 168 Nr 16) andererseits ein Widerspruch besteht. Der 7. Senat hat dort entschieden, bei einer mehr als fünfzigprozentigen Beteiligung am Stammkapital einer GmbH sei "grundsätzlich die Möglichkeit eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses zur GmbH zu verneinen", wobei das Urteil nicht die Tätigkeit als Geschäftsführer, sondern eine Tätigkeit im Einkauf betrifft. Feststellungen dazu, ob der aus der Beteiligung an der Gesellschaft fließende Einfluß tatsächlich ausgeübt wurde, sind der Entscheidung nicht zu entnehmen, die damit zumindest im Ergebnis die Unterwerfung unter eine Weisungsbefugnis als unerheblich ansieht. Für den hier zu beurteilenden Tatbestand einer hundertprozentigen Beteiligung folgt der Senat dieser Auffassung.
Obgleich die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils damit eine Gesetzesverletzung ergeben, war die Revision der Beklagten nach § 170 Abs 1 Satz 2 SGG zurückzuweisen, da sich die Entscheidung selbst aus anderen Gründen als richtig darstellt. Das LSG hat den streitigen Rücknahmebescheid im Ergebnis zutreffend als rechtswidrig aufgehoben, weil die Beklagte ihr Rücknahmeermessen nach § 45 SGB 10 nicht ausgeübt hat. Nach § 45 SGB 10 darf ein begünstigender schon bei seinem Erlaß rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zurückgenommen werden (Abs 2). Nach herrschender Meinung ist dieser Eingriff in das Ermessen der Verwaltung gestellt (BSG st Rspr, nunmehr auch des 9. Senats - SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 in Abkehr von BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24 -).
Die Beklagte hat das Rücknahmeermessen weder im angefochtenen Bescheid noch im Widerspruchsbescheid ausgeübt. Im Bescheid wird die Aufhebung (Rücknahme) damit begründet, daß die Anwartschaftszeit, eine der Voraussetzungen für den Bezug von Alg, nicht erfüllt sei. Im Widerspruchsbescheid heißt es, die Widersprechende könne sich nicht mit Erfolg auf den Vertrauensschutz berufen, da die gewährte Leistung grundsätzlich keine Vermögensdispositionen zulasse, die nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig gemacht werden können. Der Verwaltungsakt sei mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, sofern die einschlägigen gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vorlägen, es sei denn, daß es sich im konkreten Einzelfall um einen atypischen Ausnahmefall handele. Der vorliegende Fall weise jedoch keine solchen atypischen Umstände auf. Die Rücknahme der Bewilligungsentscheidung belaste die Widersprechende auch nicht in unzumutbarer Weise. Außerdem liege die Rücknahme im öffentlichen Interesse, denn die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erforderten es, ungerechtfertigte Aufwendungen zu vermeiden.
Diese Ausführungen können aus der Sicht des Empfängers nur dahin verstanden werden, daß die Rechtslage nach Auffassung der Beklagten eine andere Entscheidung nicht zuließ. Sie lassen nicht erkennen, daß die Behörde aus Gründen der Zweckmäßigkeit in Ausübung ihres Ermessens von der gesetzlich gebotenen Möglichkeit einer anderen Entscheidung abgesehen hat. In derartigen Fällen hat die Rechtsprechung auch bisher Darlegungen zum Vertrauensschutz hinsichtlich der Ermessensausübung nicht genügen lassen (BSGE 59, 157 = SozR 1300 § 45 Nr 19; SozR 1300 § 45 Nr 26).
Für das Erfordernis einer Ermessensausübung unerheblich ist, daß die Beklagte die Alg-Bewilligung nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben hat. Die Ermessenseinräumung in § 45 SGB 10 gilt wie der Vertrauensschutz sowohl für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit, als auch für eine solche mit Wirkung für die Zukunft. Lediglich die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 ist auf die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit beschränkt.
Der Aufhebung des Rücknahmebescheides allein wegen fehlender Ermessensausübung steht nicht entgegen, daß das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht zur Frage des Vertrauensschutzes keine Feststellungen getroffen hat. Derartige Feststellungen sind entbehrlich. Unabhängig vom Eingreifen des Vertrauensschutzes kommt nämlich eine erneute Rücknahme unter Ausübung des Ermessens nicht in Betracht, da inzwischen die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 abgelaufen ist.
Die Beklagte hatte Alg ab dem 1. August 1986 für 416 Tage bewilligt und die Bewilligung für die Zeit ab dem 19. September 1986 aufgehoben. Der gesamte streitige Zeitraum liegt damit nunmehr in der Vergangenheit, und seit dem Ende des Zeitraums ist mehr als ein Jahr vergangen. Da der Beklagten die geltend gemachten Rücknahmegründe schon vor Ende des Bewilligungszeitraumes bekannt waren, ist die Jahresfrist damit abgelaufen. Die Jahresfrist beginnt in derartigen Fällen nicht erst in dem Zeitpunkt, in dem die Beklagte vom Erfordernis der Ermessensausübung Kenntnis erhält, und der wegen fehlender Ermessensausübung aufgehobene Rücknahmebescheid hat für einen weiteren Rücknahmebescheid weder die Jahresfrist gewahrt noch unterbrochen, wie der Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 115/87 - ausgeführt hat. Nach Ablauf der Jahresfrist ist die gerichtliche Aufhebung des Rücknahmebescheides allein wegen fehlender Ermessensausübung ohne Klärung des Vertrauensschutzes zulässig (vgl hierzu Urteil des Senats vom 27. Juli 1989 - 11 RAr 7/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung, die eine Erstattung der Kosten der beigeladenen Krankenkasse nicht vorsieht, folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1649246 |
BSGE, 65 |
BB 1990, 783 |
GmbHR 1990, 300 |