Beteiligte
Siemens-Betriebskrankenkasse -Pflegekasse- |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Pflegekasse die Kosten der Betreuung und Pflege der Klägerin während eines vom familienentlastenden Dienst der Lebenshilfe e.V. S. organisierten Urlaubs in Dänemark als Verhinderungspflege nach § 39 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) zu übernehmen hat.
Die im Jahre 1977 geborene Klägerin ist geistig behindert. Sie wird von ihrer Mutter, die noch drei weitere Kinder allein zu versorgen hat, betreut und gepflegt. Seit dem 1. April 1995 bezieht die Klägerin von der Beklagten Pflegegeld nach der Pflegestufe I in Höhe von monatlich 400 DM. Dieses Pflegegeld wurde auch in der Zeit vom 29. Juni bis zum 9. Juli 1995 weitergezahlt, als sich die Klägerin zusammen mit anderen Behinderten in einem Ferienheim in Dänemark aufhielt, wo die Gruppe von mitgereisten Mitgliedern der Lebenshilfe e.V. S. betreut und versorgt wurde. Den Antrag der Klägerin vom 17. Juni 1995 auf Übernahme der anteiligen Pflegekosten von täglich 169 DM lehnte die Beklagte ab, weil die Regelung des § 39 SGB XI die Übernahme der Kosten einer Verhinderungspflege nur dann erlaube, wenn der Pflegebedürftige während der Verhinderung der Pflegeperson weiterhin in seinem Haushalt oder in einem anderen Haushalt, in den er aufgenommen worden sei, gepflegt werde. Die Pflege in einer Behinderteneinrichtung falle nicht darunter. Ein Anspruch auf Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung nach § 42 SGB XI scheide schon deshalb aus, weil mit der Lebenshilfe e.V. S. kein Versorgungsvertrag nach § 72 SGB XI geschlossen worden sei (Bescheid vom 4. Juli 1995, Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1995).
Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, „der Klägerin Leistungen nach § 39 SGB XI hinsichtlich der Erstattung der Kosten für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung für die Zeit vom 29. Juni bis 9. Juli 1995 unter Anrechnung des gezahlten Pflegegeldes zu gewähren” (Urteil vom 2. Juli 1996). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1997). Zur Begründung hat es ausgeführt, es liege kein Fall der Verhinderungspflege iS des § 39 SGB XI vor. Der Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen gelte nur bei urlaubsbedingter Abwesenheit der Pflegeperson, nicht aber auch, wenn – wie hier – die Pflegeperson den ihr zustehenden Urlaub zu Hause verbringe und nur deshalb die Pflege vorübergehend nicht selbst durchführen könne, weil der Pflegebedürftige in Urlaub gefahren sei und dort von anderen Kräften versorgt werde. Außerdem habe der Anspruch der Klägerin auf Pflegeleistungen nach § 34 Abs 1 Nr 1 SGB XI in seiner hier noch maßgebenden ursprünglichen Fassung für die Zeit des Auslandsaufenthalts geruht. Daher könne die Frage offenbleiben, ob die Kosten einer Verhinderungspflege vor der Neufassung des § 39 SGB XI vom 14. Juni 1996 nur dann zu übernehmen waren, wenn die Pflege in einem privaten Haushalt und nicht in einer Behinderteneinrichtung stattfand.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 39 SGB XI. Aus den Neufassungen der §§ 34 Abs 1 Nr 1 SGB XI und 39 SGB XI vom 14. Juni 1996 sei zu schließen, daß die Kosten einer Verhinderungspflege auch schon im Jahre 1995 unabhängig davon zu übernehmen waren, ob die Pflege in einem privaten Haushalt oder in einer Behinderteneinrichtung durchgeführt wurde und ob sie im Inland oder im Ausland erfolgte. Außerdem seien der Urlaub der Pflegeperson und der Urlaub des Pflegebedürftigen mit Blick auf den Zweck der Regelung, es der Pflegeperson einmal im Jahr zu ermöglichen, sich von den Mühen der Pflege zu erholen und in dieser Zeit die Pflege Dritten zu überlassen, gleichzustellen.
Die Klägerin rügt ferner Verfahrensfehler des LSG bei der Ermittlung des Sachverhalts. Das LSG habe die – aus seiner Sicht – entscheidungserhebliche Frage, ob die Mutter der Klägerin selbst auch in Urlaub gefahren sei, nicht hinreichend geklärt. Die vom LSG in dem angefochtenen Urteil genannten Indizien für die ständige häusliche Anwesenheit der Mutter seien insoweit nicht eindeutig und ausreichend. Tatsächlich sei die Mutter mit ihren drei jüngsten Kindern während der Abwesenheit der Klägerin täglich an die Ostsee gefahren und habe ihre Wohnung zu diesem Zweck mehrere Stunden am Tag verlassen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1997 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 2. Juli 1996 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß der geltend gemachte Anspruch nicht besteht. Die Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig.
Maßgeblich ist die Regelung des § 39 SGB XI in seiner ursprünglichen Fassung (aF) des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) vom 26. Mai 1994 (BGBl I S 1014). Diese Vorschrift ist durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz (1. SGB XI-ÄndG) vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) erst mit Wirkung ab 25. Juni 1996 (Art 8 Abs 1 1. SGB XI-ÄndG) geändert worden (nF). Sie ist daher für Ansprüche, die ausschließlich Zeiten vor dem 25. Juni 1996 betreffen, in der aF anzuwenden.
Nach § 39 SGB XI aF übernimmt die Pflegekasse die Kosten für eine Ersatzpflegekraft für längstens vier Wochen je Kalenderjahr, wenn die Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert ist (Satz 1). Voraussetzung ist, daß die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens zwölf Monate in seiner häuslichen Umgebung gepflegt hat (Satz 2). Der Anspruch ist auf höchstens 2.800 DM im Kalenderjahr beschränkt (Satz 3) und steht Pflegebedürftigen unabhängig von ihrer Einstufung in die Pflegestufe I, II oder III in gleicher Weise zu (Udsching, SGB XI, 1995/1996 § 39 RdNr 7).
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 39 Satz 1 SGB XI aF nicht erfüllt. Dabei kann die Frage offenbleiben, ob dem Berufungsverfahren der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel bei der Ermittlung des Sachverhalts anhaftet. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG scheidet aus, weil auch bei Unterstellung der Richtigkeit des Vortrags der Klägerin, ihre Mutter habe ebenfalls Urlaub gemacht und sei in der fraglichen Zeit aufgrund der Tagesausflüge an die Ostsee nicht ständig in der Lage gewesen, sie zu betreuen, die Klage keinen Erfolg haben kann. Es fehlt bereits an der Pflege der Klägerin während ihres Urlaubs durch eine „Ersatzpflegekraft”. Dieser Begriff erfaßt Personen, die während der Zeit der Verhinderung der sonst tätigen Pflegeperson (zu diesem Begriff vgl § 19 SGB XI) die Betreuung und Versorgung des Pflegebedürftigen in einem Haushalt gegen Zahlung einer Vergütung übernehmen, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Pflege im Haushalt des Pflegebedürftigen oder in einem anderen privaten Haushalt durchgeführt wird (vgl § 36 Abs 1 Satz 1 SGB XI). Es muß sich nicht um eine Pflegefachkraft handeln; die Kraft muß nur in der Lage sein, die notwendige Ersatzpflege sicherzustellen (Udsching aaO § 39 RdNr 5).
Der Kreis der „Ersatzpflegekräfte” iS des § 39 SGB XI aF ist aber auf Pflegepersonen iS von § 19 SGB XI, selbständige ambulante Pflegekräfte oder Pflegedienste beschränkt, die einen eigenen Vergütungsanspruch gegen den Pflegebedürftigen geltend machen können, sofern nicht die Pflegekasse selbst die Ersatzkräfte besorgt und im Wege der Sachleistung zur Verfügung stellt. Die – außerhalb privater Haushalte geleistete – Pflege durch Angestellte von Einrichtungen der Behindertenhilfe, wie es hier der Fall war, erfüllt dieses Tatbestandsmerkmal hingegen nicht. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Regelung und der bisherigen Entwicklung des Pflegeversicherungsrechts.
Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit sind erstmals durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) zum 1. Januar 1989 in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen worden, wobei die Leistungen aber grundsätzlich erst ab 1. Januar 1991 beansprucht werden konnten. Maßgeblich waren die §§ 53 bis 57 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in ihrer bis zum 31. März 1995 gültigen Fassung (aF). Die Krankenkassen hatten nach § 55 Abs 1 SGB V bei Schwerpflegebedürftigkeit „häusliche Pflegehilfe” zur Ergänzung der Pflege und Versorgung der Versicherten „in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie” zu leisten, wobei die Leistungspflicht auf Pflegeeinsätze bis zum Wert von 750 DM monatlich begrenzt war. Statt der Pflegesachleistung konnte ein Pflegegeld in Höhe von 400 DM beansprucht werden (§ 57 SGB V aF). Bei Urlaub oder anderweitiger Verhinderung der Pflegeperson hatte die Krankenkasse – insoweit bereits ab 1. Januar 1989 – häusliche Pflegehilfe als Verhinderungspflege bis zu vier Wochen je Kalenderjahr und höchstens bis zum Wert von 1.800 DM zu erbringen (§ 56 Satz 1, 2 SGB V aF), und zwar grundsätzlich als Sachleistung, aber auch im Wege der Kostenerstattung für selbstbeschaffte Ersatzkräfte (vgl BSG SozR 3-2500 § 56 Nr 2). Soweit die Versicherten während dieser Zeit „außerhalb ihres Haushalts oder ihrer Familie” gepflegt wurden, hatten die Krankenkassen die dadurch entstehenden Kosten bis zur Höhe des Betrags zu übernehmen, den sie bei Pflege und Versorgung der Versicherten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie aufzuwenden hätten (§ 56 Satz 3 SGB V aF). Damit sollte auch eine – allerdings der Höhe nach auf die entsprechende Pflegehilfe im häuslichen Bereich begrenzte – Kostenübernahme für eine Unterbringung in einem Pflegeheim ermöglicht werden, um kostspielige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden. Über die Art der Pflegeheime ist dabei im Gesetzgebungsverfahren nichts weiter ausgeführt worden (vgl BR-Drucks 200/88 S 184 zu § 55 E).
An dieses System hat der Gesetzgeber bei der Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahre 1995 angeknüpft. Die Leistungsvoraussetzungen und die einzelnen Leistungen wurden nur genauer und abschließend definiert; Leistungserweiterungen hat sich der Gesetzgeber vorbehalten und später auch vorgenommen. Die Leistungen der häuslichen Pflege und die Verhinderungspflege wurden zunächst ergänzt um die Möglichkeiten der teilstationären Pflege in Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege (§ 41 SGB XI) sowie der Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung (§ 42 SGB XI). Die Verhinderungspflege (§ 39 SGB XI) hat der Gesetzgeber bewußt dem Ersten Titel („Leistungen bei häuslicher Pflege”) des den „Leistungen” gewidmeten Dritten Abschnitts des Vierten Kapitels des SGB XI zugeordnet und von dem Zweiten Titel („Teilstationäre Pflege und Kurzzeitpflege”, §§ 41, 42 SGB XI) getrennt. Damit hat er deutlich gemacht, daß er die Verhinderungspflege als Teil der häuslichen Pflegehilfe ansieht und sie auf die Pflege in einem Privathaushalt beschränkt zu verstehen ist. Soweit die Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson im häuslichen Bereich nicht sichergestellt werden konnte, kam eine Leistungspflicht der Pflegekassen nur unter den Voraussetzungen der teilstationären Pflege nach § 41 SGB XI oder der Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI in Betracht. Diese Regelungen lassen sich einmal als Leistungsausweitung gegenüber dem SGB V, andererseits als Klarstellung und Einschränkung verstehen: Als Einrichtungen für die teilstationäre Pflege und die Kurzzeitpflege kommen nur zugelassene Pflegeheime nach § 71 Abs 2 SGB XI in Betracht; zudem sind die Leistungen grundsätzlich in Form der Sachleistung zu erbringen. Behinderteneinrichtungen werden davon nicht erfaßt.
Diese erste Stufe der Pflegeversicherung ist zum 1. Juli 1996 um die Leistungen bei vollstationärer Pflege nach § 43 SGB XI ergänzt worden (vgl Gesetz zum Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung vom 31. Mai 1996, BGBl I S 718). Außerdem ist durch das 1. SGB XI-ÄndG zum 25. Juni 1996 die Regelung des § 43a in das SGB XI eingefügt worden, wonach bei einem Aufenthalt eines Pflegebedürftigen in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe nunmehr ein Aufwendungsersatz bis zu 500 DM monatlich geleistet wird. § 39 Satz 1 SGB XI erhielt folgende Fassung: „Ist eine Pflegeperson wegen Erholungsurlaubs, Krankheit oder aus anderen Gründen an der Pflege gehindert, übernimmt die Pflegekasse die Kosten der notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen je Kalenderjahr; § 34 Abs 2 Satz 1 gilt nicht”. Die damit von der Anwendung ausgenommene Bestimmung des § 34 Abs 2 Satz 1 SGB XI nF besagt, daß der Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege ua dann ruht, „soweit im Rahmen des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege (§ 37 SGB V) auch Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung besteht, sowie für die Dauer des stationären Aufenthalts in einer Einrichtung im Sinne des § 71 Abs 4, soweit § 39 nichts Abweichendes bestimmt”. Mit der Ersetzung des Begriffs „Ersatzpflegekraft” durch die Formulierung „notwendige Ersatzpflege” und die Ausklammerung des § 34 Abs 2 Satz 1 SGB XI nF für den Bereich der Verhinderungspflege hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß die Kostenübernahme bei Verhinderung der Pflegeperson nunmehr unabhängig davon beansprucht werden kann, ob die Pflege in einem Privathaushalt oder auf – nicht von den Regelungen der §§ 41, 42 oder 43 SGB XI erfaßte – andere geeignete Weise, also zB auch in einer Behinderteneinrichtung, erfolgt.
Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 39 SGB XI und der Einführung der Leistungspflicht bei vollstationärer Pflege in einer Pflegeeinrichtung sowie der auf 500 DM begrenzten Leistungspflicht bei Pflege in einer Behinderteneinrichtung (§§ 43, 43a SGB XI) verdeutlicht, daß nur eine Leistungsausweitung für die Zukunft, nicht aber auch eine Klarstellung der Leistungspflicht für die Vergangenheit vorgenommen werden sollte. Die Verhinderungspflege in einer Behinderteneinrichtung, wie sie während des Ferienaufenthalts der Klägerin in einem Heim der Lebenshilfe e.V. S. in Dänemark erfolgt ist, konnte somit vor dem 25. Juni 1996 eine Leistungspflicht der Beklagten nicht auslösen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
NZA 2000, 200 |
SGb 1999, 462 |