Entscheidungsstichwort (Thema)

Erziehungsgeldberechtigung bei Familienzusammenführung. verfassungsrechtlicher Schutz der Familie

 

Leitsatz (amtlich)

Zieht ein Ausländer zu seinem im Inland aufenthaltsberechtigten Ehegatten nach, hat er hier erziehungsgeldberechtigenden Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt frühestens, wenn ihm eine Aufenthaltserlaubnis, -berechtigung oder - bei Geburten ab 1.1.1991 - eine Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist.

 

Orientierungssatz

Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie eines Ausländers aus Art 6 Abs 1 GG ist schon bei der ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung zu berücksichtigen (vgl BVerwG vom 12.2.1990 - 1 A 133/89 = DÖV 1990, 570). Das BErzGG schließt sich an die ausländerrechtliche Bewertung des Inlandsverbleibs des Familienangehörigen an.

 

Normenkette

BErzGG § 1 Abs 1 Nr 1; SGB 1 § 30 Abs 1; SGB 1 § 30 Abs 3; AuslG § 21 Abs 3; GG Art 6 Abs 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.09.1989; Aktenzeichen L 9 Eg 1/88)

SG München (Entscheidung vom 12.02.1988; Aktenzeichen S 6 Eg 24/87)

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Bundeserziehungsgeld.

Die Klägerin, eine türkische Staatsbürgerin, reiste im September 1986 zu ihrem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden aufenthaltsberechtigten Ehemann, gleichfalls türkischer Staatsbürger, ein und beantragte eine Aufenthaltserlaubnis, die ihr ab Juli 1988 zunächst für ein Jahr erteilt wurde. Der beklagte Freistaat lehnte ihren Antrag, ihr Bundeserziehungsgeld für ihr am 24. April 1987 geborenes Kind Emrah zu gewähren, ab, weil sie entgegen § 1 Abs 1 Nr 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes habe (Bescheid vom 14. Mai 1987; Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 1987).

Klage und - vom Sozialgericht (SG) München zugelassene - Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 12. Februar 1988; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 21. September 1989). Das LSG ist der Auffassung, die Klägerin habe in dem möglichen Leistungszeitraum von zehn Monaten ab der Geburt des Kindes keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BErzGG begründet, weil sie weder asylberechtigt noch im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gewesen sei und kein Grund eine Ausweisung oder Abschiebung dauerhaft ausgeschlossen habe.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 1 BErzGG und § 30 Abs 3 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I). Sie habe im Anspruchszeitraum von zehn Monaten gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt und die Voraussetzungen nach den Richtlinien zur Familienzusammenführung des Bayerischen Innenministeriums erfüllt; das einzige Problem sei der fehlende Sichtvermerk bei der Einreise gewesen; die sei jedoch durch die Schwangerschaft geheilt worden. Daß die Aufenthaltserlaubnis noch nicht erteilt worden sei, habe ausschließlich im Bereich der Ausländerbehörde der Stadt München gelegen. Materiell-rechtlich betrachtet sei sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Die Gewährung von Erziehungsgeld dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Ausländer im Besitz einer Arbeitserlaubnis ist.

Die Klägerin beantragt,

"1. das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. Februar 1988 und das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 1989 wird aufgehoben. 2. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamtes München II vom 14. Mai 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Juli 1989 verurteilt, der Klägerin Erziehungsgeld ab 30. April 1987 zu gewähren."

Der beklagte Freistaat beantragt,

die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 1989 als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie hat keinen Anspruch auf Bundeserziehungsgeld für ihr Kind Emrah.

Gemäß § 1 Abs 1 des Gesetzes über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub (Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG) vom 6. Dezember 1985 (BGBl I S 2154) hat Anspruch auf Erziehungsgeld, wer ua einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat (Nr 1 aa0). Durch das Gesetz zur Änderung des BErzGG und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1297) ist an § 1 Abs 1 BErzGG mit Wirkung vom 1. Juli 1989 (Art 8 Abs 1 des vorgenannten Änderungsgesetzes) folgender Satz 2 angefügt worden: "Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, die nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilt worden ist". Art 10 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts (AuslRNG) vom 9. Juli 1990 (BGBl I S 1354) ändert diese Neufassung des Satzes 2 zur Anpassung an die Neuregelung der Aufenthaltsgenehmigung (§§ 28 bis 35 AuslRNG) mit Wirkung ab 1. Januar 1991 (Art 15 Abs 2 AuslRNG) wie folgt: "Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist". § 1 Abs 1 Satz 2 BErzGG ist in keiner dieser Fassungen anzuwenden, weil der Leistungsfall schon 1987 eingetreten ist.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend erkannt, daß die Klägerin während des möglichen Leistungszeitraums (vom Tag der Geburt des Kindes bis zur Vollendung des 10. Lebensmonats - § 4 Abs 1 Regelung 1 BErzGG idF vom 6. Dezember 1985) die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG nicht erfüllt hat, weil sie weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatte. Wie der Senat in seinem - den Beteiligten bekannten - Urteil vom 27. September 1990 (4 REg 30/89, zur Veröffentlichung vorgesehen) im einzelnen ausgeführt hat, schließt Abs 1 Nr 1 aa0 - abgesehen von hier nicht einschlägigen Spezialregelungen zB in § 1 Abs 2 und 4 BErzGG - alle Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit von der Begünstigung durch Bundeserziehungsgeld aus, die entweder den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse tatsächlich (faktisch) im Ausland haben oder aber deren uU ausschließliches und zeitlich andauerndes Wohnen bzw Verweilen im Inland von der materiellen Rechtsordnung nur als vorübergehend, auf Beendigung angelegt und somit rechtlich nur als nicht beständig gebilligt wird. Denn Bundeserziehungsgeld sollen nur diejenigen erhalten, die bei der Erziehung eines Kindes den Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse materiell-rechtlich berechtigt dauerhaft im Inland haben. Dies folgt daraus, daß Abs 1 Nr 1 aa0 - anders als die Nrn 2 bis 4 aa0 - kein unmittelbar das Sachprogramm des BErzGG (Förderung der Hinwendung zum Kind) ausgestaltendes anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal enthält. Es handelt sich vielmehr um eine sog einseitige Kollisionsnorm, die im Falle einer "Auslandsberührung" den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes einschränkt. Sie ist eine leistungsrechtliche Spezialregelung (§ 37 Satz 1 Halbsatz 1 SGB I) zu § 30 Abs 1 SGB I, nach dem "die" Vorschriften (dh: alle, auch die nicht leistungsrechtlicher Art) dieses Gesetzbuches für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Ihr alleiniger Zweck ist, die Anwendung des BErzGG auf solche Personen hintanzuhalten, deren Verweilen im Inland wegen einer konkreten Auslandsbeziehung nur vorübergehender Natur ist. Auf den - subsidiär - für alle Leistungsbereiche des SGB geltenden § 30 Abs 3 SGB I, der die Begriffskerne von "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" iS des SGB nicht abschließend bestimmt, sondern nur eine den Begriffshof öffnende Typusbeschreibung enthält, ist nur nach Maßgabe des spezifisch kollisionsrechtlichen Zwecks von § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG zurückzugreifen. Das bedeutet: Besteht die kollisionsrechtlich relevante Auslandsberührung allein darin, daß der Betroffene - wie hier die Klägerin - eine ausländische Staatsbürgerschaft hat, deswegen grundsätzlich unter Schutz und Fürsorge (Personalhoheit) seines Heimatstaates steht und jederzeit nach freiem Willen dorthin zurückkehren kann, kommt es dafür, ob der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse "nicht nur vorübergehend" (§ 30 Abs 3 Satz 1 und 2 SGB I) in das Inland verlegt worden ist, entscheidend darauf an, ob der Verbleib im Inland nach materiellem Aufenthaltsrecht als beständig gebilligt ist (Vorbehalt des berechtigten Aufenthalts; dazu: BSGE 65, 261, 263 f = SozR 7833 § 1 Nr 7). Der Ausländer, der zur Ausreise verpflichtet oder dem der Inlandsverbleib nur zu einem seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erlaubt worden ist, hat weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BErzGG. Aus dem Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (13. Ausschuß) zur Beschlußempfehlung zum Entwurf des Gesetzes zur Änderung des BErzGG (BT-Drucks 11/4767 S 2) ergibt sich, daß § 1 Abs 1 Satz 2 BErzGG in der ab Juli 1989 geltenden Fassung "jetzt ausdrücklich" einer Rechtsanwendung entgegentreten soll, nach der Bundeserziehungsgeld sogar dann gezahlt wurde, wenn trotz materiell-rechtlicher Ausreisepflicht des Ausländers nach der ausländerbehördlichen Praxis von aufenthaltsbeendenden (Vollzugs-) Maßnahmen bis auf weiteres abgesehen wurde oder wenn eine Aufenthaltserlaubnis nur für einen vorübergehenden Zweck erteilt worden war. Weil dies mit dem spezifisch kollisionsrechtlichen Inhalt von Abs 1 Nr 1 aa0 im wesentlichen übereinstimmt, kann hier dahingestellt bleiben, ob die Neufassung des Wortlauts von Abs 1 aaO eine Klarstellung oder sogar eine authentische Interpretation enthält. Demgegenüber trägt Abs 1 Satz 2 aa0 in der ab Januar 1991 geltenden Fassung der dann geltenden neuen materiell-rechtlichen Regelung des Aufenthaltsgenehmigungsrechts Rechnung.

Aus Art 6 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), nach dem Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, ergibt sich im Blick auf den Vortrag der Klägerin, die Einreise sei zwecks Familienzusammenführung erfolgt, nichts anderes. Zwar schützt diese Vorschrift auch Ehe und Familie eines Ausländers. Jedoch ist der Bedeutung von Art 6 Abs 1 GG dadurch Rechnung getragen, daß der verfassungsrechtliche Schutz der Familie schon bei der ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung zu berücksichtigen ist (stellvertretend dazu: Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - DÖV 1990, 570 mwN). Das BErzGG schließt sich - wie aufgezeigt - an die ausländerrechtliche Bewertung des Inlandsverbleibs des Familienangehörigen an.

Der Aufenthalt der Klägerin im Inland während des hier maßgeblichen Zeitraums war rechtlich nicht als beständig gebilligt. Zwar galt er gemäß § 21 Abs 3 Satz 1 des Ausländergesetzes (AuslG) "bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde vorläufig als erlaubt". Dieser kraft gesetzlicher Fiktion "vorläufig" gebilligte Aufenthalt war jedoch nur zu dem vorübergehenden Zweck der Prüfung der Voraussetzungen einer Entscheidung über die Erteilung oder Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis und damit lediglich zu einem vorübergehenden Zweck gestattet (so schon Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1990 - 4 REg 9/90). Ein auf Dauer gebilligter Aufenthalt konnte frühestens im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Juli 1988, also nach Ablauf des möglichen Leistungszeitraums, beginnen.

Da sich die Klägerin in der Zeit, für die sie Bundeserziehungsgeld begehrt, nur "vorübergehend" im Geltungsbereich des BErzGG aufgehalten bzw gewohnt und deswegen die Voraussetzungen von § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG nicht erfüllt hat, war die Entscheidung der Vorinstanz zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650678

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