Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 13.09.1988)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. September 1988 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren.

 

Tatbestand

I

Der damals 11 Jahre alte Kläger, der auf einem Freigelände zwischen Miethäusern spielte, wurde am 2. Januar 1983 verletzt, weil er – auf den Zuruf „fang mal!” – einen gezündeten Knallkörper auffing, der ihm aus einem der Häuser zugeworfen worden war und sofort in seinen Händen explodierte. Der Kläger erlitt große Verbrennungen zweiten und dritten Grades am Bauch, eine Hornhautverletzung am linken Auge mit Narbenbildung und schwerste Handverletzungen mit Fingerverlusten beiderseits. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger das Opfer eines tätlichen Angriffs geworden ist.

Das gegen den damals 14 Jahre alten F. R. eingeleitete staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, weil F. R. die Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Im Zivilverfahren wurde er jedoch zur Zahlung von Schmerzensgeld wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, weil feststehe, daß er jedenfalls „fang mal!” gerufen habe; es blieb offen, ob er auch geworfen habe, oder ob dies ein zugleich in der Wohnung anwesender Erwachsener gewesen war.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den die beantragte Opferentschädigung ablehnenden Bescheid der Beklagten abgewiesen (Bescheid vom 23. Mai 1984; Urteil des SG vom 4. Juni 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Zeugenvernehmung und Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Gefährlichkeit des Knallkörpers der Klage stattgegeben,

weil aus den Umständen zu schließen sei, daß die Verletzungen durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff entstanden seien. Auch wenn nicht feststehe, ob neben F. R. noch eine weitere Person als Täter in Betracht komme, und wer geworfen habe, müßten die Tathandlungen des Werfens und Rufens in ihrer Gesamtheit gewürdigt werden, weil beide zusammen mit dolus directus auf den Körper des Klägers gewirkt hätten. Der Tatablauf lasse auf eine feindselige Einstellung schließen, was sich aus der Art des eingesetzten Knallkörpers und dem Umfang der Verletzung ergebe. Anders als im Strafrecht müsse der vorsätzliche Angriff nicht einem bestimmten Täter zugeordnet werden (Urteil des LSG vom 13. September 1988).

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte unrichtige Rechtsanwendung. Auch die Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) könne nur gewährt werden, wenn der vorsätzliche Angriff erwiesen sei; dazu müsse der Vorsatz einer bestimmten Person zugeordnet werden; der Vorsatz müsse die Folgen der Tat umschließen. Schon wegen des Übergangs der Schadensersatzansprüche gegen den Täter müßten sich die Anspruchsvoraussetzungen nach OEG und der Schadensersatzanspruch decken. Lediglich in Fällen der Schuldunfähigkeit oder bei einer Personenverwechslung fehle es an dieser Kongruenz.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die beigeladene Krankenkasse beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung nach § 1 Abs 1 OEG. Das LSG hat die Schädigung zu Recht auf einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff zurückgeführt; seine Gesetzesauslegung und -anwendung sind frei von Rechtsfehlern; seine Tatsachenfeststellungen sind nicht mit Revisionsrügen angegriffen und somit für den Senat bindend; es ist nicht ersichtlich, daß das LSG die Grenzen freier Beweiswürdigung überschritten hätte.

Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält derjenige Versorgung, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine Schädigung erlitten hat (OEG vom 11. Mai 1976 – BGBl I 1181, idF vom 20. Dezember 1984 – BGBl I 1773 – Bekannt-machung der Neufassung vom 7. Januar 1985 – BGBl I S 1). Wie der Senat schon mehrfach entschieden hat, ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch (StGB) geregelt; es wird zwar nicht jede Gewalttat entschädigt, wohl aber der tätliche Angriff als eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung (vgl BSGE 49, 98 = SozR-2 3800 § 1 Nr 1 und BSGE 56, 234 = BSG SozR-2 3800 § 1 Nr 4 mit zahlreichen Nachweisen). Die von der Beklagten vorgestellte Kongruenz von Opferentschädigungsrecht einerseits und Strafrecht und Schadensersatzrecht andererseits ist im Gesetz nicht verwirklicht. Dies war auch nicht erforderlich, weil für den Schadensersatzanspruch nach § 823 BGB fahrlässige Begehungsformen genügen. Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung, die in der Literatur einhellig geteilt wird (vgl Schoreit/Düsseldorf Komm zum OEG, 1977, § 1 Abs 1 RdNrn 40 ff, 68; Schulz-Lüke/Wolff, Gewalttaten und Opferentschädigung, 1977, § 1 OEG RdNrn 97, 109, 164 ff und 176; Wilke/Sailer, Soziales Entschädigungsrecht, 6. Aufl., § 1 OEG, RdNrn 6 und 7), hat das LSG entschieden. Zu Recht hat sich das LSG dabei auch auf die Entstehungsgeschichte der Norm berufen. Der Gesetzgeber hat die Entschädigung nach OEG auch für den Taterfolg einer strafrechtlich als Fahrlässigkeitstat zu bewertenden Handlung gewollt, sofern die Handlung insgesamt der Gewaltkriminalität zuzurechnen ist (vgl BT-Drucks 7/2506 S 14); in den Materialien sind einige Fälle lediglich beispielhaft aufgeführt.

Der Vorsatz sowie die feindselige Willensrichtung des Angreifers sind innere Tatsachen, deren Beweis – ohne ein Geständnis des Täters – schwierig ist. Der Senat hat dazu bereits wiederholt entschieden, daß im sozialgerichtlichen Verfahren eine eigenständige Würdigung der erreichbaren Beweismittel vorzunehmen ist; aus den äußeren Tatumständen darf auf die subjektive Tatseite geschlossen werden (vgl SozR 3800 § 1 Nrn 4, 6 und 13 sowie BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nrn 34 und 35, zustimmend Kunz, Kommentar zum OEG, 2. Aufl 1989, § 1 RdNr 10). Dem ist das LSG gefolgt. Es hat aus seinen tatsächlichen Feststellungen zum äußeren Hergang auf die innere Einstellung des – hier nicht bekannten -Täters geschlossen. Gegen diesen Rückschluß spricht nicht, daß die Staatsanwaltschaft lediglich eine Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung beabsichtigt hatte und auch der Schadensersatz aus einer fahrlässigen Körperverletzung zugesprochen worden ist. Diese strafrechtlichen Wertungen und zivilrechtlichen Feststellungen binden für das Verfahren nach OEG nicht.

Das LSG hat zum äußeren Tatverlauf festgestellt, daß eine Person den gezündeten und äußerst gefährlichen Sprengkörper, der mit einem Silvesterfeuerwerkskörper nach seiner Sprengkraft nicht zu vergleichen war, gezielt auf den Kläger geworfen hat, wobei entweder dieselbe Person oder eine andere durch Zuruf bewirkt hat, daß der Kläger nicht nur getroffen wurde, sondern daß er den Gegenstand auch noch auffing. Soweit das LSG aus dem Zusammenwirken von Wurf und Zuruf auf der Grundlage der durch Naturgesetze vorgegebenen äußerst kurzen Zeitspanne zwischen Wurf und Auffangen geschlossen hat, daß der Geschädigte den gezündeten Sprengkörper nur deshalb auffangen konnte, weil gezielt auf ihn geworfen worden ist, so daß vom Werfenden und vom Rufenden einzeln oder gemeinsam die körperliche Einwirkung durch den gezündeten Sprengsatz gewollt war, verstößt diese Würdigung weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze.

Ein solcher Verstoß ist von der Beklagten auch nicht gerügt worden; sie hat vielmehr – entgegen der oben genannten Rechtsprechung – den Rückschluß vom äußeren Tathergang auf die innere Tatseite für nicht erlaubt gehalten und hätte die Beweise selbst anders gewürdigt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, daß das LSG sein Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung (§ 128 SozialgerichtsgesetzSGG) überschritten hätte (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 164 Nr 31 mwN). Es mag zwar häufig ausgeschlossen sein, den äußeren Tatumständen überzeugende Hinweise auf den Willen eines Täters zu entnehmen, wenn der Täter selbst nicht angehört werden kann. Es ist der Beklagten auch zuzugeben, daß nicht jeder gezielte Wurf ein gezielter Angriff iS des Gesetzes sein muß. Nicht jede vorsätzliche Handlung, die zu einer Verletzung führt, ist ein feindseliger Angriff. Wäre die Handlung als ein gefährlicher Scherz zu werten, würde dies eine Entschädigung nach dem OEG ausschließen (vgl BSG SozR 3800 § 1 Nr 4). Da das LSG trotz intensiver Beweisaufnahme den Hergang nicht einer bestimmten Person zuordnen konnte, durfte es seine Freiheit zur eigenen Würdigung des Sachverhalts (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 35) unter Berücksichtigung sämtlicher erreichbaren Beweismittel voll ausschöpfen. Dazu gehörte auch der Rückschluß aus der ungewöhnlichen Verletzungsgefahr – bei einer Sprengkraft entsprechend etwa 10 bis 20 gr Nitroglyzerin – auf die feindselige Einwirkung durch den unbekannten Täter. Dieser Schluß ist zwar nicht zwingend, aber angesichts des festgestellten Hergangs vertretbar. Solange es an Anhaltspunkten dafür fehlt, daß es sich um eine Mutprobe, ein Spiel unter leichtfertigen Jugendlichen oder eine Unachtsamkeit gehandelt haben könnte, darf aus der „Waffe”, hier einem gebastelten Sprengsatz, auch auf den Angriffswillen geschlossen werden. Die Beklagte verkennt die Bedeutung dieses Umstandes, soweit ihre Revisionsbegründung von einem „Feuerwerkskörper” ausgeht. Das LSG hat diesen Umstand durch Sachverständigenbeweis aufgeklärt und einen Unglücksfall durch unsachgemäßen Gebrauch handelsüblicher Ware ausgeschlossen.

Auch ohne Feststellungen, die eine bestimmte Person als verantwortlich bezeichnen, durfte das LSG der Klage stattgeben. Die Entschädigung nach OEG verlangt weder, daß die feindselige Einwirkung einem bestimmten Täter zuzuordnen ist, noch daß der Umfang des Schadens so gewollt ist. Opferentschädigung wird nicht wegen eines vorsätzlich beigebrachten Schadens, sondern wegen eines Schadens aus einem vorsätzlichen Angriff zugebilligt. Soweit auch das Strafrecht in dieser Weise formuliert, so in den §§ 113 und 121 StGB, genügt auch dort die Absicht körperlicher Einwirkung ohne Rücksicht auf den eingetretenen Erfolg (vgl die Nachweise bei BSG SozR 3800 § 1 Nr 4 und Schönke/Schröder/Eser, Komm zum StGB, 23. Aufl, § 113 RdNr 46).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175069

NJW 1991, 2590

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