Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungspflicht des Arbeitgebers gem AFG § 128 Abs 1 überwiegend verfassungsmäßig: Gesetzgebungskompetenz – Abgrenzung zur Sonderabgabe – Berufsausübungsregelung und Verhältnismäßigkeitsprinzip –
Leitsatz (amtlich)
1.a) Die Kompetenz des Bundesgesetzgebers zur Regelung der Erstattung von Sozialleistungen ergibt sich aus Art 74 Nrn 7 und 12 GG.
b) Die Erstattung nach § 128 AFG ist keine Sonderabgabe im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.
2. a) In Anbetracht der gesetzgeberischen Zielsetzung, sozial unzuträgliche Frühverrentungen zu verhindern, verstößt es grundsätzlich nicht gegen Art 12 Abs 1 GG, wenn einem Arbeitgeber, der an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines langjährig bei ihm beschäftigten älteren Arbeitnehmers mitgewirkt hat, die sich daraus ergebenden sozialen Folgekosten auferlegt werden.
b) Der im Rahmen des Art 12 Abs 1 GG zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, die Erstattungspflicht nach § 128 AFG nur dann eingreifen zu lassen, wenn den Arbeitgeber eine besondere Verantwortung für den Eintritt der Arbeitslosigkeit und damit für die Gewährung der zu erstattenden Leistungen (Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe) trifft. Eine solche liegt nicht vor, wenn der Arbeitnehmer, um dessen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis es geht, eine andere Sozialleistung beanspruchen kann, die einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe ruhen oder entfallen ließe.
c) Im Hinblick auf die zu fordernde besondere Verantwortung des Arbeitgebers sind die Ausnahmeregelungen des § 128 AFG verfassungskonform auszulegen.
Orientierungssatz
1. Zu Ls 1.a): Die Kompetenz aus GG Art 74 Nr 12 umfaßt auch die Regelung der Finanzierung der Sozialversicherung und zwar nicht nur der Sozialversicherungsbeiträge im engeren Sinne, sondern auch der Erstattung und des Ausgleichs erbrachter Sozialversicherungsleistungen; allerdings bedarf die Heranziehung nicht selbst Versicherter eines sachorientierten Anknüpfungspunktes (vgl BVerfG, 1987-04-08, 2 BvR 909/82, BVerfGE 75, 108 (146ff)).
2. Zu Ls 1.b): Nichtsteuerliche Geldleistungspflichten sind immer nur dann Sonderabgaben, wenn es zu einer Konkurrenzsituation zur Steuer kommt und damit typischerweise ein Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung droht. Geldleistungspflichten ohne Abgabecharakter, wie etwa diejenigen aufgrund bestimmter staatlicher Ausgleichs- und Erstattungsansprüche, sind keine Sonderabgaben. Dieser Sonderabgabenbegriff stimmt laut Anfrage beim Zweiten Senat mit dessen Auffassung überein (zur Sonderabgabe vgl auch BVerfGE 75, 108 (147); 1988-06-08, 2 BvL 9/85, BVerfGE 78, 249 (267); 1984-11-06, 2 BvL 19/83, BVerfGE 67, 256 (274f); Abgrenzung zur Berufsbildungsabgabe und zur Schwerbehindertenausgleichsabgabe als Sonderabgabe vgl BVerfG, 1980-12-10, 2 BvF 3/77, BVerfGE 55, 274 u 1981-05-26, 1 BvL 56/78, BVerfGE 57, 139).
3. Zu Ls 2.a):
a) Das GG räumt dem Gesetzgeber im Zusammenhang mit Berufsausübungsregelungen bei der Festlegung arbeits- oder sozialpolitischer Ziele eine ebenso weite Gestaltungsfreiheit wie bei der Bestimmung wirtschaftspolitischer Ziele ein; er darf Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit (hier: Lenkungsfunktion zur Verhinderung von Frühpensionierungen) in den Vordergrund stellen; noch größer ist die Gestaltungsfreiheit, wenn die Regelungen – wie hier – keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter haben (st Rspr; grundlegend BVerfG, 1958-06-11, 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377 (405f)).
b) Zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Erstattungspflicht.
4. Zu Ls 2.b): Ob die Voraussetzungen für eine andere Sozialleistung vorliegen, die den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe entfallen ließen, muß wie bei RVO § 1395b vor der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegen den Arbeitgeber von Amts wegen festgestellt werden.
5. Zu Ls 2.c): Verfassungskonforme Auslegung:
a) AFG § 128 Abs 1 S 2 Nr 4 idF 1981-12-22 = Abs 1 S 2 Nr 9 idF 1984-04-13 (Ausnahme von der Erstattungspflicht, wenn Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund fristlos gekündigt werden könnte) ist so auszulegen, daß – bei der im Rahmen von AFG § 128 anzustellenden hypothetischen Prüfung – dessen Voraussetzungen in der Regel bereits dann anzunehmen sind, wenn der Arbeitnehmer wegen gesundheitlicher Einschränkungen die von ihm vertraglich übernommene Arbeit auf Dauer nicht mehr verrichten konnte, ohne daß es auf die konkrete arbeitsrechtliche Beurteilung – mit danach etwa einzuräumenden Sozialfristen uä – ankäme; die Arbeitsunfähigkeit muß dabei den Voraussetzungen im krankenversicherungsrechtlichen Sinne entsprechen und auf absehbare Zeit nicht behebbar sein.
b) Bei der Auslegung von AFG § 128 Abs 4 S 1 idF 1981-12-22 (unzumutbare wirtschaftliche Belastung) ist zu berücksichtigen, daß die Schwelle der Unzumutbarkeit bereits bei einer wirtschaftlichen Belastung vor der Existenzgefährdung anzusetzen ist und auch Umstände nicht finanzieller Art zu berücksichtigen sind (vgl BSG, 1984-08-22, 7 RAr 112/83, SozR 4100 § 128 Nr 3);
c) Die Regelung in AFG § 128 Abs 1 S 2 u Abs 3 idF 1984-04-13 bzgl Kleinbetrieben ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
d) Auch nach AFG § 128 Abs 1 S 2 Nr 4 idF 1984-04-13 iVm BHO § 59 Abs 1 S 1 Nr 3 liegt eine besondere Härte nicht erst dann vor, wenn die Erstattungspflicht den Grad der Existenzgefährdung erreicht.
6. AFG § 128 Abs 1 S 1 idF 1981-12-22 u 1984-04-13 ist mit GG Art 12 Abs 1 S 2 unvereinbar und nichtig, soweit danach Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe auch zu erstatten sind, wenn der Arbeitnehmer die Voraussetzungen anderer Sozialleistungen erfüllt (vgl Ls 2.b). Im übrigen ist AFG § 128 – bei verfassungskonformer Auslegung – verfassungsmäßig; insbesondere ist er auch mit GG Art 3 Abs 1 unter Berücksichtigung der besonders weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf dem Gebiet des Sozialrechts vereinbar; auch ist die Regelung nicht systemwidrig und stellt keinen Wertungswiderspruch zum Arbeitsrecht dar.
Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.
Normenkette
GG Art. 12 Abs. 1 S. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 74 Nrn. 7, 12, Art. 105; AFG § 128 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 2, § 134 Abs. 4, § 128 Abs. 1 S. 2 Nrn. 3-4, Abs. 4 Sätze 1-2, Abs. 1 S. 2 Nr. 7, § 127 Abs. 2, § 128 Abs. 1 S. 2 Nrn. 8-9, Abs. 3; RVO § 1248 Abs. 2; AVG § 25 Abs. 2; RKG § 48 Abs. 2; AFG §§ 100, 134; RVO § 1395b Abs. 1 S. 1; AVG § 117b; RKG § 140b; BHO § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AFKG Art. 1 § 1 Nr. 48; AFG/RVAnpG Art. 1 Nr. 3; BGB § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
§ 128 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes in den Fassungen des Artikels 1 § 1 Nr 48 des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung vom 22. Dezember 1981 (Bundesgesetzbl I Seite 1497) und des Artikels 1 Nr 3 des Gesetzes zur Anpassung des Rechts der Arbeitsförderung und der gesetzlichen Rentenversicherung an die Einführung von Vorruhestandsleistungen vom 13. April 1984 (Bundesgesetzbl I Seite 610) ist mit Artikel 12 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit danach Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe auch dann in vollem Umfang zu erstatten sind, wenn der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für eine andere Sozialleistung erfüllt, deren Zuerkennung einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe ganz oder teilweise ruhen oder entfallen ließe. Im übrigen ist § 128 des Arbeitsförderungsgesetzes in den genannten Fassungen nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar.
Fundstellen
BVerfGE 81, 156-207 (LT) |
BB 1990, 1 |
BB 1990, 286-286 (T) |
DB 1990, 325-329 (LT) |
Information StW 1990, 335-336 (KT) |
NJW 1990, 1230 (L) |
EuGRZ 1990, 28-44 (LT) |
BGBl I 1990, 223 |
NVwZ 1991, 52-53 (LT) |
ASP 1990, 98 (K) |
EWiR 1990, 109 (L) |
NZA 1990, 161-168 (LT1-2) |
Quelle 1990, 25-25 (T) |
ZIP 1990, 250-259 (LT) |
ZTR 1990, 128-130 (LT) |
AP GG Art. 12, Nr. 64 (L) |
ArbuR 1990, 201 (ST) |
Breith 1990, 224-257 (LT1-2) |
DBlR, 3522a AFG/§ 128 (LT1-3) |
DVBl 1990, 313 (L) |
EzA AFG § 128, Nr. 1 (LT) |
JZ 1990, 536-543 (ST) |
JuS 1990, 506 (S) |
ND MBl 1990, 232 (L1-2) |
SGb 1990, 153 (KT) |
SGb 1990, 455-465 (ST) |
SozR, 3-4100 § 128 Nr 1 (LT1-2) |
SozSich 1990, RsprNr 4240 (LT) |
SozVers 1990, 132-140 (LT1-2) |
ZfSH/SGB 1990, 134-146 (KT) |