Entscheidungsstichwort (Thema)
Harmonisierung der Vorschriften über Massenentlassungen. Verfahren zur Bestellung von Arbeitnehmervertretern in einem Unternehmen. Neuordnung des Unternehmens. Gründe für Entlassung. Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen. Beteiligung der Gewerkschaft
Leitsatz (amtlich)
1.
Trotz der Begrenztheit der von der Richtlinie 75/129 angestrebten Harmonisierung der Vorschriften über Massenentlassungen stellt eine nationale Regelung, die kein Verfahren zur Bestellung der Vertreter der Arbeitnehmer in einem Unternehmen vorgesehen hat, wenn der Arbeitgeber solche Vertreter nicht anerkennt, und damit dem Arbeitgeber die Möglichkeit läßt, den zugunsten der Arbeitnehmer in den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie 75/129 vorgesehene Schutz zu umgehen, einen Verstoß gegen diese Richtlinie dar.
2.
Die Richtlinie 75/129 gilt nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 Buchst a für Massenentlassungen, worunter Entlassungen aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, einschließlich der Entlassungen infolge einer Neuordnung des Unternehmens, die in keinerlei Beziehung zu dessen Geschäftsvolumen steht, zu verstehen sind.
3.
Der Geltungsbereich der Richtlinie 75/129 kann daher nicht auf Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen beschränkt werden, dh auf Entlassungen, die nach ihrer Definition durch die Einstellung oder Einschränkung des Betriebs des Unternehmens und durch eine Abnahme der Nachfrage nach einer besonderen Art von Arbeiten bedingt sind.
4.
Eine nationale Regelung, die den Arbeitgeber lediglich dazu verpflichtet, die Gewerkschaftsvertreter wegen der beabsichtigten Massenentlassungen zu konsultieren, deren Vorbringen „zu berücksichtigen”, dazu Stellung zu nehmen und im Falle der Ablehnung „dies zu begründen”, während Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie die Verpflichtung enthält, die Vertreter zu konsultieren, „um zu einer Einigung zu gelangen”, und sich die Konsultationen nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie „zumindest auf die Möglichkeit” erstrecken müssen, „Massenentlassungen zu vermeiden oder einzuschränken sowie ihre Folgen zu mildern”, stellt keine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie 75/129 über Massenentlassungen dar.
5.
Enthält eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie keine besondere Sanktion für den Fall eines Verstoßes gegen ihre Vorschriften oder verweist sie insoweit auf die nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, so sind die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, darauf achten, daß die Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht gelten, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muß. Eine Entschädigung, die teilweise mit verschiedenen Beträgen zusammenfällt, deren Zahlung ein Arbeitnehmer aufgrund des Arbeitsvertrags oder wegen Bruchs dieses Vertrages verlangen kann, kann nicht als hinreichend abschreckend für einen Arbeitgeber angesehen werden, der im Fall einer Massenentlassung seiner Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der Richtlinie 75/129 nicht ankommt.
Normenkette
BetrVG § 102; RL 75/129; EWGVtr Art. 100, 5
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland |
Tenor
1. Das Vereinigte Königreich hat gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen und gegen Artikel 5 EWG-Vertrag verstoßen, indem es keine Bestellung von Arbeitnehmervertretern vorgesehen hat, wenn der Arbeitgeber einer solchen Bestellung nicht zustimmt, indem es Rechtsvorschriften zur Durchführung dieser Richtlinie erlassen hat, deren Geltungsbereich enger als der der Richtlinie ist, indem es den Arbeitgeber, der Massenentlassungen beabsichtigt, nicht verpflichtet, die Vertreter der Arbeitnehmer zu den in der Richtlinie aufgeführten Punkten zu konsultieren, um zu einer Eignung zu gelangen, und indem es keine wirksame Sanktion vorgesehen hat, wenn die Arbeitnehmervertreter nicht entsprechend der Richtlinie konsultiert werden.
Fundstellen
EuGHE I 1994, 2479 |
EuroAS 1994, Nr 9, 13 |