Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour d' appel de Bruxelles – Belgien. Befugnis der nationalen Gerichte, von Amts wegen die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen. Gemeinschaftsrecht. Unmittelbare Wirkung. Individualrechte. Schutz durch die nationalen Gerichte. Gerichtliche Rechtsbehelfe. Nationale Verfahrensvorschriften. Voraussetzungen für die Anwendung. Nationale Regelung, die der Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens entgegensteht. Unzulässigkeit. Nationale Regelung, die es den nationalen Gerichten verbietet, eine auf einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gestützte Rüge, die nicht innerhalb einer bestimmten Frist von dem Betroffenen geltend gemacht worden ist, von Amts wegen zu prüfen. Unzulässigkeit je nach Lage des Einzelfalls
Leitsatz (amtlich)
Die nationalen Gerichte haben aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Artikel 5 des Vertrags den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt. Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten. Jedoch dürfen diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren. Eine Vorschrift des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Artikel 177 des Vertrags vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, muß dabei unangewendet bleiben.
Jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermässig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemässe Ablauf des Verfahrens.
In diesem Zusammenhang ist es zwar als solches nicht zu beanstanden, wenn dem einzelnen zur Geltendmachung einer neuen, auf Gemeinschaftsrecht gestützten Rüge eine Frist von 60 Tagen gesetzt wird, das Gemeinschaftsrecht steht jedoch der Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegen, die es einem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen nationalen Gericht verbietet, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts zu prüfen, wenn sich kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen hat und dies in einem Verfahren, in dem das mit dem Ausgangsverfahren befasste nationale Gericht das erste Gericht ist, das dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegen kann, in dem die betreffende Frist abgelaufen war, als dieses Gericht seine Sitzung abhielt, so daß es keine Möglichkeit hatte, die Prüfung dieser Vereinbarkeit von Amts wegen vorzunehmen, in dem, soweit ersichtlich, kein anderes nationales Gericht in einem späteren Verfahren die Vereinbarkeit eines nationalen Aktes mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen kann, und in dem es sich durch Grundsätze wie den der Rechtssicherheit oder den des ordnungsgemässen Verfahrensablaufs nicht in vertretbarer Weise rechtfertigen lässt, daß es unmöglich ist, von Amts wegen auf Gemeinschaftsrecht gestützte Gesichtspunkte aufzugreifen.
Normenkette
EWGVtr Art. 5, 177
Beteiligte
Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS |
Tenor
Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegen, die es einem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen nationalen Gericht unter Voraussetzungen, wie sie durch das im Ausgangsrechtsstreit maßgebliche Verfahren vorgegeben werden, verbietet, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts zu prüfen, wenn sich kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen hat.
Gründe
1 Die Cour d' appel Brüssel hat mit Urteil vom 28. Mai 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juni 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Befugnis der nationalen Gerichte, von Amts wegen die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Kommanditgesellschaft Peterbröck, Van Campenhout & Cie (im folgenden: Firma P...