Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung
Leitsatz (redaktionell)
Versäumung der Berufungsfrist, weil das erstinstanzliche Gericht eine bei ihm eingegangene Berufungsschrift nicht rechtzeitig an das Berufungsgericht weitergeleitet hat.
Normenkette
ZPO § 233; ArbGG § 66 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 1
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 14.12.1995; Aktenzeichen 14 Sa 93/95) |
ArbG Offenbach am Main (Teilurteil vom 15.09.1994; Aktenzeichen 1 Ca 811/93) |
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 1995 – 14 Sa 93/95 – aufgehoben.
2. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die zu 50 % Schwerbehinderte Klägerin ist seit 1. März 1993 bei der Beklagten als Sekretärin zu einem Bruttomonatsgehalt von 4.800,00 DM beschäftigt. Die Parteien streiten u.a. darüber, ob das Arbeitsverhältnis durch die Beklagte wirksam am 31. August 1993 zum 31. Dezember 1993 gekündigt worden ist. Die Klägerin hat behauptet, sie habe das Kündigungsschreiben erst am Vormittag des 1. September 1993 in ihrem Briefkasten gefunden. Bei einer Kontrolle am 31. August 1993 gegen 20.00 Uhr habe der Brief noch nicht im Briefkasten gelegen, Sie hat, soweit für die Revisionsinstanz von Interesse, beantragt festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch eine am 30. August 1993 ausgesprochene mündliche Kündigung noch durch die mit Schreiben vom 31. August 1993, zugegangen am 1. September 1993, ausgesprochene schriftliche Kündigung aufgelöst worden ist, sondern ungekündigt fortbesteht.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und behauptet, das Kündigungsschreiben sei noch am 31. August 1993 der Klägerin durch einen Kurierfahrer zugestellt worden.
Das Arbeitsgericht hat nach Vernehmung des Kurierfahrers der Feststellungsklage durch Teilurteil stattgegeben. Die Beklagte hat gegen das ihr am 14. Dezember 1994 zugestellte Teilurteil mit einem an das Arbeitsgericht adressierten Schriftsatz vom 10. Januar 1995, der am 11. Januar 1995 beim Arbeitsgericht einging, Berufung eingelegt. Mit richterlicher Verfügung vom 12. Januar 1995 wurde der Schriftsatz an das Landesarbeitsgericht weitergeleitet. Der Abvermerk der Geschäftsstelle datiert vom 16. Januar 1995. Der Schriftsatz ging beim Landesarbeitsgericht am 17. Januar 1995 ein.
Die Beklagte hat insoweit beantragt,
ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Sie hat geltend gemacht, die Falschadressierung beruhe auf einem unvorhersehbaren Fehler einer Anwaltsgehilfin ihres Prozeßbevollmächtigten. Diese habe eine ausdrückliche Anweisung, die Anschrift zu berichtigen, nicht befolgt. Außerdem sei die Berufungsschrift so rechtzeitig an das Arbeitsgericht übersandt worden, daß mit einem rechtzeitigen Eingang beim Landesarbeitsgericht habe gerechnet werden können.
Das Landesarbeitsgericht hat unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (§§ 564, 565 ZPO). Die Zulässigkeit der Berufung scheitert nicht daran, daß die Beklagte die Berufungsfrist des § 66 Abs. 1 ArbGG versäumt hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Beschluß vom 20. Juni 1995 – 1 BvR 166/93 – BVerfGE 93, 99 = AP Nr. 15 zu § 9 ArbGG 1979), der sich der Senat anschließt, ist ein Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, verpflichtet, fristgebundene Schriftsätze für das Rechtsmittelverfahren, die bei ihm eingereicht werden, an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Ist ein solcher Schriftsatz so frühzeitig eingereicht worden, daß die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Schriftsatz nicht rechtzeitig an das Rechtsmittelgericht gelangt. Dies folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch auf ein faires Verfahren. Unterbleibt die rechtzeitige Weiterleitung des Schriftsatzes an das Rechtsmittelgericht, so ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruhte. Mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Partei, oder ihres Prozeßbevollmächtigten nicht mehr aus.
Danach war der Beklagten wegen Versäumung der Berufungsfrist nach §§ 233 ff. ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Wie das Landesarbeitsgerichts ausdrücklich festgestellt hat, ist die Berufungsschrift so frühzeitig beim Arbeitsgericht eingegangen, daß es nicht mehr als ordnungsgemäße Behandlung einer als eilig erkannten Angelegenheit betrachtet werden kann, daß die richterliche Verfügung vom 12. Januar erst am 16. Januar 1995 bearbeitet worden ist. Bei rechtzeitiger Bearbeitung durch das Arbeitsgericht wäre die Berufungsschrift spätestens am Montag, dem 16. Januar 1995, dem letzten Tag der Berufungsfrist, beim Landesarbeitsgericht eingegangen.
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermeier, Nielebock, Mauer
Fundstellen