Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständigkeit des deutschen Gerichts für Mindestlohn ausländischer Arbeitnehmer. Vergütung für 24-Stunden-Haushaltskraft. Keine Anwendung von Treu und Glauben bei widersprüchlichem Verhalten. Keine Anrechnung von Sachleistungen auf Mindestlohn
Leitsatz (amtlich)
1. Machen aus einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union entsandte Arbeitnehmer*innen Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz geltend, sind dafür die deutschen Gerichte international zuständig. Auf die Dauer der Entsendung kommt es nicht an.
2. Die Beurteilung von Ansprüchen nach dem Mindestlohngesetz richtet sich nach deutschem Recht. Das gilt nicht nur für die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, sondern auch für die Voraussetzungen, unter denen er zu zahlen ist.
3. Wer einen oder eine Arbeitnehmer*in einer Arbeitssituation aussetzt, in der er oder sie einem Aufgabenspektrum unterliegt, dass nur mit einer bestimmten Stundenzahl zu leisten ist, muss die geleisteten Stunden vergüten. Das gilt auch im Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes. Besonderheiten einer hauswirtschaftlichen Tätigkeit stehen dem nicht entgegen; deren Berücksichtigung verstieße gegen internationale Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation.
4. Bei Arbeitnehmer*innen, die zur häuslichen Betreuung eingesetzt werden, ist eine solche Situation gegeben, wenn der oder die Arbeitgeber*in durch die Vereinbarung eines bestimmten Leistungsspektrums bei der zu betreuenden Person die Erwartung auslöst, rund um die Uhr betreut zu werden, und die Aufgabe, eine arbeitsvertraglich vereinbarte kürzere Arbeitszeit durchzusetzen, dem oder der Arbeitnehmer*in zuweist. Soweit es dem oder der Arbeitnehmer*in im Einzelfall zumutbar ist, sich den Anforderungen zu entziehen, sind entsprechende Abzüge vorzunehmen (im vorliegenden Fall drei Stunden pro Kalendertag).
5. Auf die arbeitsvertragliche Festlegung einer kürzeren Arbeitszeit kann sich der oder die Arbeitgeber*in nach dem aus den Grundsätzen von Treu- und Glauben folgenden Verbot widersprüchlichen Verhaltens nicht berufen. Das folgt auch aus dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrecht der Berufsfreiheit und - ihre Anwendbarkeit unterstellt - aus dem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Recht auf würdige Arbeitsbedingungen.
6. Ob ein Verstoß gegen Treu- und Glauben gegeben ist, beurteilt sich nach deutschem Recht. Das ergibt sich jedenfalls daraus, dass inländisches Recht zumindest insoweit anzuwenden ist, als Gegenteiliges offensichtlich gegen die inländische öffentliche Ordnung (ordre public) verstößt.
7. Sachleistungen sind auf den Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz nicht anzurechnen.
Normenkette
MiLoG § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1, § 20; AEntG § 2 Nr. 1, § 15 S. 1; BGB § 242; GG Art. 12 Abs. 1; EGV 593/2008 Art. 21; RL 96/71/EG Art. 1 Abs. 1, 3 Unterabs. 1 Buchst. a), Art. 3 Unterabs. 1 Buchst. c) Hs. 1, Art. 6 Hs. 1; GRCh Art. 31 Abs. 1; ILO-Übereinkommen 189 Art. 2 Nr. 1, Art. 10-11; ArbGG § 64 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Berlin (Entscheidung vom 22.08.2019; Aktenzeichen 44 Ca 11017/18) |
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 22. August 2019 - 44 Ca 11017/18 - abgeändert, soweit die Beklagte zu mehr als 38.377,50 Euro brutto abzüglich 6.680,00 Euro netto nebst Prozesszinsen verurteilt worden ist. Insoweit wird die Klage abgewiesen.
Zur Klarstellung wird der Sachtenor des Urteils des Arbeitsgerichts Berlin vom 22. August 2019 - 44 Ca 11017/18 - wie folgt neu gefasst.
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 38.377,50 Euro brutto abzüglich 6.680,00 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. November 2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten der I. Instanz haben die Klägerin 21,63 % und die Beklagte 78,37 % zu tragen. Vor den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 11,84 % und die Beklagte 88,16 % zu tragen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über Ansprüche auf Arbeitsentgelt für die Zeit vom 1. Mai 2015 bis zum 31. August 2015 und vom 1. Oktober 2015 bis zum 31. Dezember 2015.
Die 1951 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und hat ihren Wohnsitz in Bulgarien. Sie war ab dem 21. Juni 2013 zunächst bei der R. - BG OOD, einem in Bulgarien ansässigen Unternehmen, auf der Grundlage eines in bulgarischer Sprache abgefassten schriftlichen Arbeitsvertrages vom 17. Juni 2013 als Sozialassistentin mit 40 Stunden pro Woche gegen eine monatliche Grundvergütung von zunächst 783,00 Bulgarische Lew (BGN) beschäftigt und wurde nach Deutschland entsandt. Dort war sie als Pflege- und Haushaltskraft in Privathaushalten zunächst in Koblenz und Bonn und ab dem 8. Januar 2014 bei Frau Z., einer über 90-jährigen, betreuungsb...