Entscheidungsstichwort (Thema)
Freistellung nach dem AWbG
Leitsatz (amtlich)
- Stellt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zum Besuch einer Weiterbildungsveranstaltung von der Arbeit frei, hat er nach § 1 Abs. 1, § 7 Satz 1 AWbG das Arbeitsentgelt für die Dauer der besuchten Veranstaltung fortzuzahlen.
- Unerheblich ist, ob der Arbeitgeber bei der Freistellungserklärung den Verpflichtungswillen für die Lohnfortzahlung hat. Maßgeblich ist allein, daß der Arbeitnehmer die Erklärung des Arbeitgebers als Freistellungserklärung zum Besuch einer Veranstaltung nach § 1 Abs. 1 AWbG verstehen mußte.
Normenkette
AWbG NW § 1 Abs. 1, §§ 7, 9 S. 1; BGB §§ 133, 157
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 09.06.1988; Aktenzeichen 4 Sa 1885/87) |
ArbG Herford (Urteil vom 25.08.1987; Aktenzeichen 3 Ca 493/87) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 9. Juni 1988 – 4 Sa 1885/87 – aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herford vom 25. August 1987 – 3 Ca 493/87 – wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Revision und der Berufung zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Lohnfortzahlung nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (AWbG).
Der im Jahr 1961 geborene Kläger wird seit August 1984 in dem in Nordrhein-Westfalen gelegenen Betrieb der Beklagten als Arbeiter mit der Montage von Kunststoff- und Metallteilen beschäftigt.
Mit Schreiben vom 16. Februar 1987 teilte er der Beklagten mit, daß er eine einwöchige Freistellung für die Bildungsmaßnahme “Reden in Politik und Beruf, Einführung in die Technik der freien Rede” für die Zeit vom 16. – 20. März 1987 in Anspruch nehme. Die Beklagte antwortete darauf am 18. Februar 1987:
“Bescheid über einen Antrag zur Freistellung nach dem AWbG
Sehr geehrter Herr S…
Sie haben am 16. 02. 87 die Freistellung von der Arbeit nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz (AWbG) beantragt:
Bildungsmaßnahme: |
Reden in Politik und Beruf Einführung in die Technik der freien Rede |
Träger: |
Volkshochschule im Kreis Herford, Münsterkirchplatz 1, 4900 Herford |
Zeitraum: |
16. – 20. 03. 87 |
Wir stellen Sie für die Zeit vom 16. 03. bis 20. 03. 87 unbezahlt von der Arbeit frei.
Der Inhalt der Bildungsveranstaltung, die Sie besuchen wollen, dient nicht Ihrer beruflichen Weiterbildung. Wir sind darüber hinaus der Ansicht, daß die im AWbG enthaltene Verpflichtung der Arbeitgeber, die Arbeitnehmer unter Fortzahlung des Arbeitsentgeltes freizustellen, verfassungswidrig ist (s.a. Verfassungsbeschwerde der Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände beim Bundesverfassungsgericht vom Mai 1985). Aus diesen Gründen zahlen wir Ihnen für den Freistellungszeitraum Ihr Arbeitsentgelt nicht fort.”
Nach dem Besuch der Veranstaltung hat der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 543,62 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß das Seminar “Reden in Politik und Beruf” für den Kläger irgendeine politische oder berufliche Bildungsfunktion gehabt habe. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er verlangt die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision ist begründet. Dem Kläger steht der mit der Klage begehrte Lohnfortzahlungsanspruch zu.
1. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß Anspruchsgrundlage für die klägerische Forderung auf Weiterzahlung des Lohnes für die Zeit vom 16. März 1987 bis 20. März 1987 § 7 AWbG i. V. mit § 1 Abs. 1 FLZG ist. Soweit es den Erfolg der Klage ausschließlich davon abhängig machen will, daß “für die genannte Zeit Arbeitnehmerweiterbildung bejaht werden kann” übersieht es, daß nach § 1 Abs. 1 AWbG Arbeitnehmerweiterbildung über die Freistellung von der Arbeit zum Zwecke der Weiterbildung erfolgt. Deshalb bedarf es für das Entstehen eines Lohnfortzahlungsanspruches notwendig der Freistellungserklärung von der Arbeit zum Zwecke der Weiterbildung durch den Arbeitgeber (vgl. Senatsurteil vom 11. Mai 1993 – 9 AZR 231/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen; Senatsurteil vom 24. August 1993 – 9 AZR 252/89 -; Senatsurteil vom 21. September 1993 – 9 AZR 429/91 – und Senatsurteil vom 21. September 1993 – 9 AZR 335/91 –).
Nach der Rechtsprechung des Senats ist für das Entstehen des Lohnfortzahlungsanspruches die Freistellungserklärung des Arbeitgebers nicht nur notwendig sondern auch ausreichend, ohne daß es auf die Anerkennungsvoraussetzungen i. S. des § 9 Satz 1 AWbG ankommt (Senatsurteil vom 11. Mai 1993 – 9 AZR 231/89 – BB 1993, 1735). Die aufgrund der Freistellungserklärung vom Arbeitgeber gewährte Freizeit kann nämlich nicht wegen ungerechtfertiger Bereicherung zurückgefordert werden (BAG Urteil vom 21. September 1993 – 9 AZR 335/91 –).
2. Das Berufungsurteil beruht auf der fehlerhaften Anwendung des § 1 Abs. 1 AWbG und muß deshalb aufgehoben werden. Das Landesarbeitsgericht hat unberücksichtigt gelassen, daß die Beklagte in ihrem “Bescheid über einen Antrag zur Freistellung nach dem AWbG” vom 18. Februar 1987 den Kläger entsprechend seiner schriftlichen Mitteilung vom 16. Februar 1987 für die später besuchte Bildungsmaßnahme in der Zeit vom 16. März bis 20. März 1987 von der Arbeit freigestellt hat. Erklärt der Arbeitgeber die Freistellung nach dem AWbG für eine bestimmte Veranstaltung und nimmt der Arbeitnehmer an dieser teil, so hat der Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1, § 7 AWbG i. V. mit § 1 Abs. 1 FLZG den Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte.
3. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Auf die Revision des Klägers war das Urteil des Arbeitsgerichts wieder herzustellen.
Die Beklagte hatte den Kläger mit Schreiben vom 18. Februar 1987 für die besuchte Veranstaltung von der Arbeit freigestellt. Der Kläger mußte als Erklärungsempfänger die Erklärung der Beklagten als Freistellung zum Zwecke der Arbeitnehmerweiterbildung verstehen (§§ 133, 157 BGB); denn die Beklagte hat durch ihr Schreiben nicht erkennbar gemacht, daß sie außerhalb des AWbG freistellen oder ein Angebot auf Gewährung von Sonderurlaub abgeben wollte. Der Kläger konnte nach der Abfassung des Schreibens als “Bescheid über die Freistellung von der Arbeit nach dem AWbG” und die ausdrückliche Zweckbindung für die beantragte Weiterbildungsveranstaltung davon ausgehen, daß die Beklagte den gesetzlich bedingten Freistellungsanspruch i. S. von § 1 Abs. 1 AWbG erfüllen wollte. Unerheblich ist, daß die Beklagte mit der Abgabe der Freistellungserklärung zum Zwecke der Weiterbildung keinen Verpflichtungswillen für die Übernahme der gesetzlichen Lohnfortzahlungspflicht hatte. Die von der Beklagten vorgebrachten verfassungsrechtlichen Vorbehalte gegen die gesetzliche Rechtsfolge des § 7 AWbG sind rechtlich unbeachtlich. Ein Arbeitgeber kann nämlich nicht die seiner Entscheidung vorbehaltene Freistellung zum Zwecke der Arbeitnehmerweiterbildung erklären (§ 1 Abs. 1 AWbG) und die gesetzliche Rechtsfolge, den Lohn für die Zeit der Freistellung fortzuzahlen (§ 7 AWbG), verweigern (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteile vom 9. Februar 1993 – 9 AZR 648/90 – NZA 1993, 1032, 1033, vom 11. Mai 1993 – 9 AZR 231/89 –, vom 21. September 1993 – 9 AZR 335/91 – und vom 19. Oktober 1993 – 9 AZR 499/91 –). Nach dem AWbG ist der Arbeitgeber vielmehr darauf beschränkt, entweder von seinem Leistungsverweigerungsrecht nach § 5 Abs. 2 AWbG Gebrauch zu machen oder die Freistellungserklärung insgesamt abzulehnen. Unberührt bleibt die Möglichkeit einer besonderen Vereinbarung der Parteien (vgl. Senatsurteil vom 9. Februar 1993 – aao –). Im Streitfall fehlt jedoch jeder Anhaltspunkt für den Abschluß einer Vereinbarung.
4. Die Beklagte hat daher nach § 1 Abs. 1, § 7 AWbG i. V. mit § 1 Abs. 1 FLZG den zwischen den Parteien unstreitigen Bruttolohn i. H. von 543,62 DM an den Kläger zu zahlen und diese Geldschuld nach § 291 Satz 1 i. V. mit § 288 Abs. 1 Satz 1 BGB vom Eintritt der Rechtshängigkeit an mit dem gesetzlichen Zinsfuß zu verzinsen.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Leinemann, Dörner, Düwell, Schodde, Brückmann
Fundstellen
Haufe-Index 441780 |
BB 1994, 363 |
BB 1994, 642 |
NZA 1994, 450 |