Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage - Halbgeschlossene psychiatrische Station
Leitsatz (amtlich)
1. Eine halbgeschlossene psychiatrische Abteilung oder Station (Open-door-system) im Sinne der Anmerkung 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP. BAT-KF liegt bereits dann vor, wenn neben Patienten, welche die Abteilung/Station frei verlassen dürfen, auch solche untergebracht sind, denen dies nicht erlaubt ist und die daher ggf. am Verlassen der Abteilung/ Station gehindert werden müssen.
2. Diese Patientengruppe, die dem sog. Stationsgebot unterliegt, muß nicht die Mehrzahl der Patienten der Abteilung oder Station darstellen.
Normenkette
Vergütungsgruppenplan zum BAT-KF für Angestellte im Pflegedienst (PVGP. BAT-KF) Anmerkung 1 Abs. 1 lit. b
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 1. Oktober 1996 - 7 Sa 897/96 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten der Revision.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Pflegezulage.
Die Klägerin ist seit dem 1. April 1992 in dem von der Beklagten betriebenen E beschäftigt. Sie arbeitet dort seit 2 1/2 Jahren als stellvertretende Stationsschwester in der Abteilung "Psychologische Medizin".
Aufgrund § 2 des zwischen den Parteien am 3. Februar 1992 geschlossenen schriftlichen Dienstvertrages finden auf das Arbeitsverhältnis die Bestimmungen des Bundes-Angestelltentarifvertrages in der für die Angestellten im Bereich der Evangelischen Kirche von Westfalen jeweils geltenden Fassung (BAT-KF) Anwendung.
Die Klägerin erhält als gelernte Krankenschwester eine Vergütung gemäß VergGr. Kr. V a BAT-KF.
Die Abteilung für psychologische Medizin besteht aus zwei Pflegestationen mit jeweils 34 Betten. Die beiden Stationen sind durch einen Flur voneinander getrennt. Die Station, auf welcher die Klägerin tätig ist, kann durch eine sog. Automatiktür verschlossen werden. Die andere Station verfügt nur über eine normal abschließbare Tür.
Auf der Abteilung für psychologische Medizin werden Patienten mit Neurosen, Schizophrenie, seniler Demenz bzw. Suchtkranke oder nach dem PsychKG (= Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten) eingewiesene Patienten behandelt. Die Patienten befinden sich teils freiwillig, teils aufgrund richterlicher Anordnung in der Abteilung für psychologische Medizin. Zum Teil müssen sie auch im Rahmen einer betreuten Unterbringung ärztlich behandelt werden.
Um das Bild eines Landeskrankenhauses zu vermeiden, bleiben die Stationstüren von 6.00 Uhr bis 20.30 Uhr unverschlossen. In Höhe der Automatiktür befindet sich ein großer, zum Stationsflur hin mit einer Glasscheibe versehener Raum, in dem sich ständig eine Pflegekraft aufhält. Diese beobachtet durch die Scheibe die sich auf dem Flur befindenden Patienten. Wenn einer von diesen die Station verlassen will, obwohl ihm dies nicht oder nur mit besonderer Erlaubnis gestattet ist, versucht die auf dem Stationsflur anwesende Pflegekraft, diesen Patienten durch gutes Zureden vom Verlassen der Station abzuhalten. Nur wenn dies nicht gelingt, schließt die Pflegekraft, die durch die Glasscheibe die Automatiktür beobachtet, mittels einer Türschließanlage, die sich in dem Beobachtungsraum befindet, die Automatiktür, um den Patienten am Verlassen der Station zu hindern.
Die Pflegekräfte erhalten täglich einen Bettenplan, aus welchem hervorgeht, welche Patienten die Station verlassen dürfen. Dieser Plan kann sich auf Grund des Krankheitsbildes der einzelnen Patienten auch während des Tages verändern. Damit das Pflegepersonal einen Überblick über den Aufenthalt der in der Station untergebrachten Patienten hat, melden sich diejenigen, welche die Station verlassen dürfen, beim Weggehen ab und teilen mit, wohin sie sich begeben wollen.
Mit Ausnahme der Suchtpatienten und der Patienten mit seniler Demenz besteht ein sog. Stationsgebot (= Aufenthaltsbestimmungsrecht des Pflegepersonals, d.h. die Schlüsselgewalt durch dieses) nur für weniger als die Hälfte der Patienten. Bei Suchtkranken liegt das Stationsgebot bei ca. 70 % und bei Patienten mit seniler Demenz bei ca. 100 %.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten für den Zeitraum Mai 1994 bis einschließlich Dezember 1995 die Zahlung einer monatlichen Zulage in Höhe von 90,00 DM gemäß der Anm. 1 lit. b zum Vergütungsgruppenplan zum BAT-KF für Angestellte im Pflegedienst (PVGP.BAT-KF), da sie der Meinung ist, sie arbeite in einer halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Station.
Die Anm. 1 Abs. 1 zum PVGP.BAT-KF lautet:
"(1) Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr. I bis Kr. VII, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei
a) an schweren Infektionskrankheiten erkrankten Patienten (z.B. TuberkulosePatienten), die wegen der Ansteckungsgefahr in besonderen Infektionsabteilungen oder Infektionsstationen untergebracht sind,
b) Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilungen oder Stationen,
c) Kranken in geriatrischen Abteilungen oder Stationen,
d) gelähmten oder an multipler Sklerose erkrankten Patienten,
e) Patienten nach Transplantationen innerer Organe oder von Knochenmark,
f) an AIDS (Vollbild) erkrankten Patienten,
g) Patienten, bei denen Chemotherapien durchgeführt oder die mit Strahlen oder inkorporierten radioaktiven Stoffen behandelt werden,
ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 90,00 DM."
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.800,00 DM brutto (Zulage für Mai 1994 bis Dezember 1995) nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 9. Januar 1996 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Sie meint, die Station, auf der die Klägerin tätig sei, stelle keine halbgeschlossene psychiatrische Station dar. Dies gelte vor allem deshalb, weil insgesamt nur ein gutes Drittel der Patienten auf Grund ihrer Erkrankungen dem Stationsgebot unterlägen. Auch sei eine ständige Gefährdung des Pflegepersonals, welche durch die Pflegezulage abgegolten werden solle, nicht vorhanden.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen und in seinem Urteil die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während die Klägerin die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte - der Höhe nach unstreitige - Pflegezulage, da sie auf einer halbgeschlossenen psychiatrischen Station tätig ist.
I. Das Landesarbeitsgericht hat seine klagestattgebende Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet.
Die Abteilung für psychologische Medizin, in welcher die Klägerin arbeite, stelle eine halbgeschlossene psychiatrische Station/Abteilung im Sinne der Anm. 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP.BATKF dar. Zwar stehe dem Pflegepersonal nicht die uneingeschränkte Schlüsselgewalt über alle dort untergebrachten Patienten zu, weil diese Schlüsselgewalt lediglich etwa ein Drittel der Patienten erfasse. Dennoch sei die für die Pflegezulage geforderte Gefahrensituation für das Pflegepersonal dauernd gegeben. Es sei für den Anspruch auf diese Zulage nicht erforderlich, daß dem Pflegepersonal gegenüber allen Patienten die Schlüsselgewalt zustehe und daß lediglich einzelne Patienten mit Zustimmung eines Verantwortlichen die Station verlassen dürften.
II. Dem Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis und weitgehend in der Begründung zu folgen.
1. Die Klägerin hat Anspruch auf eine monatliche Zulage in Höhe von 90,00 DM gemäß der Anm. 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP.BAT-KF.
Dieser Tarifvertrag findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin Anwendung. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß es sich bei der Station, auf welcher die Klägerin als Pflegeperson arbeitet, um einen Teilbereich der psychiatrischen Abteilung des von der Beklagten betriebenen E handelt und daß die Klägerin dort zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege ausübt.
2. Streitig ist zwischen den Parteien lediglich, ob diese Station eine "halbgeschlossene" im Sinne der tariflichen Anmerkung ist.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist im Hinblick auf die in der Station betreuten Patienten zu beurteilen, ob eine geschlossene oder eine halbgeschlossene Station vorliegt. In beiden Fällen steht die Schlüsselgewalt ausschließlich dem Pflegepersonal zu. Auf einer geschlossenen Station dürfen die Patienten die Station grundsätzlich nicht verlassen, während auf einer halbgeschlossenen Station der einzelne Patient mit Zustimmung einer verantwortlichen Person die Station verlassen darf. Die von psychisch kranken Menschen ausgehende Gefahr für sie selbst, für andere Patienten und für das Pflegepersonal muß es erforderlich machen, daß die Station in gewissem Umfange geschlossen zu halten ist, um so eine ständige Übersicht über den Aufenthalt der Patienten und die Anwesenheit von Personen zu haben, die durch die Patienten gefährdet werden können. Der Abgeltung der durch diese besonderen Gegebenheiten bedingten Erschwernisse der Arbeit dient die Pflegezulage nach Anm. 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP.BAT-KF (vgl. die zur gleichlautenden Pflegezulage nach Anlage 1 b zum BAT bzw. BAT-O ergangenen Urteile vom 6. Dezember 1995 - 10 AZR 3/95 n.v. und vom 6. November 1996 - 10 AZR 214/96 - n.v.). Daraus folgt, daß eine halbgeschlossene Station auch dann vorliegt, wenn sie sich nur für einen Teil der Patienten als geschlossene Station darstellt, d.h. wenn ein Teil der Patienten die Station nicht verlassen darf. Auch in solchen Stationen bestehen für das Pflegepersonal dadurch besondere Erschwernisse, daß es diesen Personenkreis besonders überwachen muß und daß von diesem möglicherweise eine Gefährdung ausgeht.
Das Landesarbeitsgericht hat für die Revisionsinstanz bindend festgestellt, daß auf der Station, auf der die Klägerin arbeitet, etwa zwei Drittel der Patienten diese grundsätzlich frei verlassen können und sich nur deshalb abmelden müssen, damit das Pflegepersonal einen Überblick über den Aufenthalt der Patienten hat. Gleichzeitig hat das Landesarbeitsgericht aber auch festgestellt, daß für "ein gutes Drittel" der Patienten die Schlüsselgewalt beim Pflegepersonal liegt, d.h., daß diese Patienten die Station grundsätzlich nicht verlassen dürfen. Um welche Patienten es sich dabei handelt, wird täglich anhand eines auf Grund des akuten Krankheitsbildes der einzelnen Patienten erstellten sog. Bettenplanes festgestellt. Diese Patienten müssen am Verlassen der Station gehindert werden. Dies geschieht nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts entweder durch "gutes Zureden" des auf dem Stationsflur anwesenden Pflegepersonals oder, wenn dies erfolglos ist, durch Verschließen der Automatiktür durch die den Ausgang der Station überwachende Pflegeperson.
Damit ist die Station eine in gewissem Umfange geschlossen gehaltene Station und damit eine halbgeschlossene Station im Sinne der Anm. 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP.BAT-KF, weil in dieser Station Patienten untergebracht sind, welche die Station nicht oder nur mit ausdrücklicher Genehmigung eines Verantwortlichen verlassen dürfen, d.h., daß für diese Personen die Schlüsselgewalt dem Pflegepersonal zusteht.
Es ist für die Annahme einer halbgeschlossenen Station nicht erforderlich, daß der Mehrzahl der Patienten das ungehinderte Verlassen der Station untersagt ist. Die mit der Pflegezulage abzugeltenden besonderen Erschwernisse, die mit der Betreuung von Patienten verbunden sind, die auf Grund der von ihnen ausgehenden Gefährdung am Verlassen einer Station gehindert werden müssen, entstehen nämlich auch dann, wenn nur ein Teil der zu betreuenden Patienten diesem Personenkreis zuzurechnen ist. So macht es beispielsweise für die Gefährdung des Pflegepersonals keinen Unterschied, ob in einer Station mit 20 Patienten keiner diese verlassen darf oder ob in einer Station mit 50 Patienten nur für 20 das sog. Stationsgebot gilt. In beiden Fällen haben die Pflegekräfte dieselbe Anzahl von möglicherweise "gefährlichen", dem Stationsgebot unterliegenden Patienten zu betreuen.
Hinzu kommt, daß dann, wenn als Voraussetzung für die Annahme einer halbgeschlossenen Station/Abteilung gefordert würde, daß die Mehrzahl der Patienten dem Stationsgebot unterliegen muß, der Anspruch auf die Pflegezulage einem fortlaufenden Wechsel - abhängig von der jeweiligen Patientenzahl mit Stationsgebot - unterworfen wäre.
Die Grund- und Behandlungspflege, die den Anspruch auf die Pflegezulage begründet, muß auch nicht zeitlich überwiegend an Patienten erbracht werden, die einer geschlossenen oder überwachten Unterbringung bedürfen.
Die Anm. 1 Abs. 1 zum PVGP.BAT-KF stellt in den Fällen der Buchst. a), d), e), f) und g) auf bestimmte Patientengruppen ab, die an bestimmten Krankheiten leiden bzw. an denen bestimmte medizinische Behandlungen oder Eingriffe vorgenommen werden oder wurden. Demgegenüber stellen die Fälle der Buchst. b) und c) alleine darauf ab, daß die Kranken sich in bestimmten Abteilungen befinden, nämlich entweder in geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen oder in geriatrischen Abteilungen oder Stationen. In diesen Fällen genügt es, daß der Arbeitnehmer die Grund- und Behandlungspflege an Patienten ausübt, die in solchen Stationen oder Abteilungen untergebracht sind und dort behandelt werden, unabhängig davon, an welcher Erkrankung diese Patienten leiden und welche Erschwernisse und Gefahren für die Behandlung und Pflege von ihnen ausgehen. Wollte man darauf abstellen, wieviel Zeit der einzelne Arbeitnehmer jeweils auf die Pflege gerade solcher Patienten verwendet, die einer überwachten Unterbringung bedürfen, wäre der Anspruch auf die Pflegezulage abhängig von der jeweiligen Zahl solcher Patienten und dem im Einzelfall erforderlichen Zeitaufwand für die Pflege gerade dieser Patienten, der dann laufend festgestellt werden müßte.
Ob die Regelung der Anm. 1 Abs. 1 lit. b zum PVGP.BAT-KF insgesamt sinnvoll und ausgewogen ist, hat der Senat nicht zu entscheiden. Es ist Sache der Tarifvertragsparteien, darüber zu befinden, welche Tätigkeiten einen Anspruch auf die Pflegezulage begründen sollen (BAG Urteil vom 6. November 1996, aaO).
3. Demnach war die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zurückzuweisen.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Matthes Dr. Jobs Böck Bacher Brose
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 12.11.1997 durch Backes, Reg.-Hauptsekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
BB 1998, 596 |
RdA 1998, 189 |
PersR 1998, 129 |
PflR 1998, 230 |