Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflege(Psychiatrie-)zulage. halbgeschlossene Station. Fortführung von BAG 12. November 1997 – 10 AZR 772/96 – AP BAT § 33 Nr. 15. Tarifauslegung. Tarifrecht öffentlicher Dienst. Zulage
Orientierungssatz
- Um eine “halbgeschlossene (open-door-System) Abteilung oder Station” handelt es sich nur dann, wenn mindestens ein Teil der Patienten notfalls durch physischen Zwang daran zu hindern ist, die Einheit zu verlassen.
- Dies gilt auch, wenn mit suchtkranken Patienten eine Therapievereinbarung getroffen wird, wonach sie die Station unter bestimmten Umständen nicht verlassen “dürfen”. Entscheidend bleibt, ob die Patienten im Konfliktfall gehen können.
- Werden Patienten nur in Ausnahmefällen einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung für kurze Zeit physisch festgehalten, bis sie in eine geschlossene Station verlegt werden, ändert dies am Charakter der offenen Station nichts.
Normenkette
BAT (Bund/Länder/Gemeinden) Anlage 1b, Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchst. b
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf eine tarifliche Pflegezulage und in diesem Zusammenhang darüber, ob die Klägerin auf einer “halbgeschlossenen (open-door-System) psychiatrischen Station” tätig ist.
Die Klägerin arbeitet seit dem 1. Januar 1984 als Krankenschwester beim Beklagten in dessen Bezirkskrankenhaus Taufkirchen/Vils. Im Arbeitsvertrag ist geregelt, dass das Arbeitsverhältnis sich nach den Vorschriften des Bundes-Angestelltentarifvertrages vom 23. Februar 1961 in der für den Bereich der kommunalen Arbeitgeber jeweils geltenden Fassung, den einschlägigen Sonderregelungen zum BAT und den zusätzlichen für den Bereich des Arbeitgebers verbindlichen Tarifverträgen in ihrer jeweils geltenden Fassung richtet. Die Klägerin ist derzeit in VergGr. KR VII Anlage 1b (Bund/Länder/Gemeinden) zum BAT eingruppiert.
Im Bezirkskrankenhaus Taufkirchen bestehen insgesamt neun Stationen im Fachbereich Akutpsychiatrie. Von diesen sind vier so genannte geschlossene Stationen. Dazu gehört die Station 1, auf der die Klägerin tätig ist, nicht. In dieser Station werden ausschließlich Suchtkranke, meist alkohol- und/oder medikamentenabhängige Menschen behandelt. Die Station hat 20 Betten und ist üblicherweise voll belegt. In der Zeit von 20.30 Uhr bis 6.00 Uhr ist in der Regel eine, in der Zeit von 6.00 Uhr bis 20.30 Uhr sind in der Regel eine bis zwei Pflegekräfte tätig.
Keiner der behandelten Patienten ist auf Grund eines Gesetzes eingewiesen, keiner ist auf Grund richterlicher Anordnung in dieser Station oder wird im Rahmen einer betreuten Unterbringung ärztlich behandelt. Sie sind ausschließlich freiwillig da. Allerdings wird ihnen zu Beginn ihres Aufenthalts eine Stationsordnung mitgeteilt. Nach einem von der Klägerin vorgelegten Muster ist darin “Schließzeiten” betreffend vorgesehen, dass das Haus um 22.00 Uhr geschlossen werde und die Patienten zu diesem Zeitpunkt nach Ausgängen im Park bzw. im Ort wieder auf der Station sein “müssen”. Zur Ausgangsregelung heißt es, dass während der Einnahme bestimmter Medikamente oder aus anderen medizinischen Gründen, die jeweils individuell mit den Patienten besprochen werden, sie die Station nicht verlassen “dürfen”. Für medikamentenabhängige Patienten und Patienten, die sowohl alkohol- als auch medikamentenabhängig seien, gelte das Ausgangsverbot, bis die Urinprobe negativ ausfalle (Ausgang nur in Begleitung von Pflegekräften). Alkoholabhängige Patienten hätten ab dem dritten Tag Ausgang in Begleitung eines(r) Mitpatienten(in) bzw. eines Angehörigen, falls der Patient sich gefestigt genug fühle. Ab dem fünften Tag habe der Patient alleine Ausgang. Eine Wochenendbeurlaubung werde im Regelfall frühestens ab dem zweiten Wochenende gewährt. Wünsche auf Beurlaubung seien mit dem Arzt bzw. Psychologen zu besprechen, wobei ein Antrag für eine Beurlaubung bis spätestens donnerstags 8.00 Uhr abzugeben sei. Bei Tages- und Wochenendbeurlaubungen sei der Patient angehalten, bis spätestens 20.00 Uhr auf der Station zurück zu sein.
Die Station hat zwei so genannte Überwachungszimmer, in die zB stark alkoholisierte Patienten gebracht werden. Das eine ist durch eine Glasscheibe mit dem Dienstzimmer verbunden, das andere kann mittels Videokamera vom Dienstzimmer aus überwacht werden. Das Dienstzimmer ist nicht ständig besetzt.
Die Türen der Station werden zu keiner Zeit von innen verschlossen. Will ein Patient die Station verlassen, der dies auf Grund ärztlicher Anordnung nicht darf, so versucht das Personal, ihn durch gutes Zureden – eventuell nach Herbeirufen weiterer Pflegekräfte – daran zu hindern. Physische Gewalt darf dabei nicht angewandt werden. Lässt sich der Patient nicht überzeugen, kann er die Station verlassen.
Das Pflegepersonal kontrolliert, ob die Patienten bei allen Mahlzeiten anwesend sind, und kontrolliert auch darüber hinaus die Anwesenheit, insbesondere des Nachts. Erkennt das Pflegepersonal eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung, wird der Patient festgehalten und auf ärztliche Anordnung auf eine geschlossene Station verlegt, was ca. 1 bis 2 Stunden in Anspruch nimmt.
Die Klägerin hat gemeint, sie arbeite auf einer halbgeschlossenen Station im Sinne der Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchst. b. Ihr stehe deshalb eine monatliche Pflegezulage von 46,02 Euro zu. Sie hat behauptet, im Jahre 1999 in fünf Fällen, im Jahre 2000 in 14 Fällen und im Jahre 2001 in sieben Fällen hätten Patienten von der Station 1 auf eine geschlossene Station verlegt werden müssen. Sie hat hierzu fünf Vorfälle im Jahre 2000 geschildert, in denen Patienten bis zu ihrer Verlegung zum Teil physisch hätten festgehalten werden müssen, ein Patient sei geflüchtet. Für das Jahr 2001 hat sie drei solcher Vorfälle behauptet, wobei in einem Fall der stark alkoholisierte Patient habe aufgehalten und in eine therapeutische Wohngemeinschaft gebracht werden können. Sie hat weiterhin behauptet, unmittelbar nach der streitigen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht München vom 14. Dezember 2001 sei ein Patient eingeliefert worden, der stark alkoholisiert gewesen sei. Dieser habe die Station verlassen wollen, was die Klägerin dann letztlich nicht verhindert habe. Ihr sei daraufhin von dem leitenden Oberarzt, dem Zeugen Dr. Niederecker, vorgehalten worden, dass sie den Patienten am Verlassen der Station hätte hindern müssen.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, angesichts der durchzuführenden Kontrollen und der Einhaltung der Ausgangsverbote handele es sich um eine halbgeschlossene Abteilung. Es komme nicht darauf an, ob die Schlüsselgewalt, die dem Personal zustehe, auch mit Zwangsmitteln durchgesetzt werde. Es sei im Übrigen auch viel schwieriger, jemanden ohne physische Gewalt am Verlassen der Station zu hindern, als wenn Türen verschlossen würden oder der Patient festgehalten werde. Es sei auch nicht entscheidend, ob Patienten im rechtlichen Sinne untergebracht oder freiwillig da seien. Die Erschwernisse, die mit der Zulage abgegolten werden sollten, seien auch in ihrem Fall gegeben, da Suchtpatienten in hohem Maße dazu neigten, sich selbst oder andere zu gefährden. Sie habe dann besondere Obhutspflichten, nach denen sie solche Patienten am Verlassen der Station zu hindern habe.
Die Klägerin hat beantragt
die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. April 1999 eine Psychiatriezulage gemäß der Protokollerklärung Nummer 1b der Anlage 1b zum BAT nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit bis 30. April 2000 und ab 1. Mai 2000 in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.
Der Beklagte hat zu seinem Klageabweisungsantrag vorgetragen, die Station 1 sei keine halbgeschlossene Abteilung, da die Schlüsselgewalt nicht beim Personal liege. Eine Pforte oder sonstige Kontrolleinrichtung bestehe nicht. Die Anwesenheit der Patienten sei lediglich im Rahmen der therapeutischen Weisungen zu kontrollieren. Dies geschehe auch nicht ständig. Auf der Station 1 bestehe keine permanente Gefährdungssituation. Die von der Klägerin dargestellten Vorgänge zeigten, dass eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung die absolute Ausnahmesituation darstelle. Dann werde umgehend eine Verlegung in eine geschlossene Station veranlasst.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat Beweis erhoben über die Behauptung der Klägerin bezüglich des Vorfalls am 14. Dezember 2001 und sodann die Berufung zurück gewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter, während der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Pflegezulage.
- Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, um eine halbgeschlossene Station iSd. Tarifnorm handele es sich nicht, da die Station nicht abgeschlossen werde und auch solche Patienten, die nach der Stationsordnung “die Station nicht verlassen dürfen”, nicht mit körperlicher Gewalt am Verlassen gehindert würden. Es werde nur durch gutes Zureden versucht, Patienten am Verlassen der Station zu hindern, wenn dies medizinisch nicht vertretbar sei. Auch die der Ausgangsregelung für Patienten im akuten Entzug unterliegenden Patienten könnten gehen, wenn sie es denn wollten. Wenn in Fällen akuter Selbst- oder Fremdgefährdung ein Patient in eine geschlossene Station verlegt und dabei körperliche Gewalt angewendet werde, um ihn bis zur Verlegung festzuhalten, handele es sich um Ausnahmen. Voraussetzung für die Zulage sei, dass die Station dazu bestimmt sei, auf ihr Patienten unterzubringen und zu behandeln, denen es nicht erlaubt sei, die Station frei zu verlassen und die daher ggf. durch das die Schlüsselgewalt besitzende Personal daran gehindert werden müssten. Anderenfalls wäre jede offene psychiatrische Station eine halbgeschlossene Station.
Dem folgt der Senat. Der Klägerin steht kein Anspruch aus der Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 1b zum BAT zu.
1. Die Protokollerklärung hat folgenden Wortlaut:
“Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr. I bis Kr. VII, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei
…
b) Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-System), psychiatrischen Abteilungen oder Stationen …
ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von Euro 46,02.”
Die Tarifnorm findet kraft einzelvertraglicher Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass es sich bei der Station 1 um eine psychiatrische Station handelt und dass die Klägerin dort zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege ausübt.
2. Der Anspruch steht der Klägerin aber deshalb nicht zu, weil sie nicht auf einer halbgeschlossenen Abteilung oder Station tätig ist.
a) Nach der Rechtsprechung des Senats ist im Hinblick auf die in der Station betreuten Patienten zu beurteilen, ob eine geschlossene oder eine halbgeschlossene Station vorliegt. In beiden Fällen steht die Schlüsselgewalt ausschließlich dem Pflegepersonal zu. Auf einer geschlossenen Station dürfen die Patienten die Station grundsätzlich nicht verlassen, während auf einer halbgeschlossenen Station der einzelne Patient mit Zustimmung einer verantwortlichen Person die Station verlassen darf. Die von psychisch kranken Menschen ausgehende Gefahr für sie selbst, für andere Patienten und für das Pflegepersonal muss es erforderlich machen, dass die Station in gewissem Umfange geschlossen zu halten ist, um so eine ständige Übersicht über den Aufenthalt der Patienten und die Anwesenheit von Personen zu haben, die durch die Patienten gefährdet werden können. Dabei reicht es aus, dass die Station sich nur für einen Teil der Patienten als geschlossene Station darstellt, weil sie sie nicht verlassen dürfen. Der Abgeltung der durch diese besonderen Gegebenheiten bedingten Erschwernisse der Arbeit dient die Pflegezulage (12. November 1997 – 10 AZR 772/96 – AP BAT § 33 Nr. 15; 6. November 1996 – 10 AZR 214/96 – ZTR 1997, 129; 6. Dezember 1995 – 10 AZR 3/95 – ZTR 1996, 219).
b) Nach diesen vom Berufungsgericht zutreffend zu Grunde gelegten Grundsätzen handelt es sich bei der Station 1 nicht um eine halbgeschlossene Station, da dort keine Patienten untergebracht sind bzw. behandelt werden, die letztlich gegen ihren Willen am Verlassen der Station zu hindern sind.
aa) Dem Landesarbeitsgericht ist darin zu folgen, dass es darauf ankommt, welche Mittel nach Organisation und Zweckbestimmung der Station zu ergreifen sind, wenn das aus therapeutischen Gründen nicht erwünschte Verlassen der Station durch den Patienten nicht mehr durch gutes Zureden zu verhindern ist. Im Urteil des Senats vom 12. November 1997 (– 10 AZR 772/96 – AP BAT § 33 Nr. 15) war in einem solchen Fall eine Automatiktür durch die den Ausgang der Station überwachenden Pflegepersonen zu verschließen. Im vorliegenden Fall hat das Pflegepersonal hingegen weder das Recht noch die Pflicht, die Patienten mit physischen Mitteln am Verlassen der Station zu hindern.
bb) Dies ist auch konsequent, da die Patienten freiwillig dort sind und deshalb im Regelfall keine rechtliche Handhabe besteht, sie zum Bleiben zu zwingen. Auch hierin unterscheidet sich der Sachverhalt von demjenigen, über den der Senat am 12. November 1997 zu entscheiden hatte (– 10 AZR 772/96 – AP BAT § 33 Nr. 15), denn in jenem Fall waren teilweise Patienten auf Grund richterlicher Anordnung auf der Station untergebracht, teilweise wurden sie im Rahmen einer betreuten Unterbringung ärztlich behandelt.
cc) Aus der Rechtsprechung des Senats, wonach es ausreicht, dass eine Station sich als eine in gewissem Umfang geschlossen gehaltene Station darstellt, ist nicht etwa zu folgern, dass es genügt, wenn auch nur “in gewissem Umfang” Einfluss auf die Patienten genommen wird, die Station nicht zu verlassen. Diese Einschränkung bezieht sich vielmehr darauf, dass es ausreicht, wenn der mögliche Zwang nur einen Teil der Patienten betrifft.
dd) Aus diesem Grund ist es auch unerheblich, dass die Stationsordnung, die den Patienten übergeben wird, davon spricht, dass die Patienten unter bestimmten Umständen die Station nicht verlassen “dürfen”. Die Einhaltung strikter Regeln und das Einordnen in ein engmaschiges Verhaltensgefüge sind Teil der Suchtbehandlung und damit der Therapievereinbarung. Auch wenn es therapeutisch zweckmäßig erscheint, gegenüber den Patienten einen gewissen Druck auszuüben, ändert dies nichts daran, dass sie im Konfliktfall letztlich gehen können.
c) Die Station 1 stellt sich auch nicht deshalb als halbgeschlossene Station dar, weil der Beklagte entgegen den rechtlichen und vertraglichen Vorgaben tatsächlich arbeitsrechtlich relevante Weisungen erteilt hätte, Patienten physisch am Verlassen der Station zu hindern. Die dahingehende Behauptung der Klägerin bezüglich eines Vorfalls vom 14. Dezember 2001 hat sich durch die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Beweisaufnahme nicht bestätigt. Der als Zeuge vernommene Oberarzt hatte sich zwar darüber geärgert, den Patienten vor dessen Weggehen nicht ärztlich untersucht zu haben, um eine mögliche Gefährdung auszuschließen, aber nicht die Weisung erteilt, in einem solchen Fall die Patienten unter Zwang festzuhalten.
d) Die Station 1 wird auch nicht zu einer halbgeschlossenen Abteilung, wenn in den vorgetragenen Fällen akut auftretender Selbst- oder Fremdgefährdung die Patienten bis zur Verlegung in eine geschlossene Abteilung notfalls auch mit physischem Zwang festzuhalten waren. Das Landesarbeitsgericht hat dies unterstellt und hat dennoch zu Recht eine halbgeschlossene Station verneint. Wenn, wie die Klägerin vorträgt, in drei Kalenderjahren in 26 Fällen Patienten von der Station 1 auf eine geschlossene Station verlegt wurden, ist dies ohnehin angesichts der bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 14 Tagen in drei Jahren behandelten Patientenzahl von über 1.400 eine sehr geringe Zahl. Die Klägerin hat zudem nicht einmal behauptet, dass in allen 26 Fällen die Patienten bis zur Verlegung physisch gehindert worden wären, die Station zu verlassen. Sie hat vielmehr für die Kalenderjahre 2000 und 2001 konkret nur acht Vorfälle vorgetragen, wobei in einem Fall der Patient tatsächlich weggelaufen und in einem anderen Fall der alkoholisierte und nicht orientierungsfähige Patient in eine therapeutische Wohngemeinschaft gebracht worden sei, was eher gegen Zwangsmaßnahmen spricht. Wenn durchschnittlich dreimal im Kalenderjahr ein Patient für etwa eine Stunde tatsächlich festgehalten werden müsste, um nicht sich selbst oder andere zu gefährden, bis er in eine andere Station verlegt wird, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies den Charakter als offene Station verändert. Dabei kann der Vortrag der Klägerin als richtig unterstellt werden, dass bei Suchtkranken ein höheres Gefahrenpotential für sich und andere besteht als beispielsweise bei internistisch erkrankten Patienten. Darauf haben die Tarifvertragsparteien aber nicht abgestellt, sondern allein darauf, dass die Kranken sich in einer auf bestimmte Art und Weise organisierten Einheit befinden, nämlich entweder in einer geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilung oder Station. Liegt eine solche vor, reicht es für den Zulagenanspruch aus, dass die Arbeitnehmer die Grund- und Behandlungspflege von Patienten ausüben, die in diesen Einheiten untergebracht sind und dort behandelt werden, unabhängig davon, ob es sich um Suchtkranke handelt und welche Erschwernisse und Gefahren für die Behandlung und Pflege von ihnen ausgehen (BAG 6. November 1996 – 10 AZR 214/96 – ZTR 1997, 129).
3. Die Rügen der Klägerin, wonach das Landesarbeitsgericht Beweis über die streitigen Vorfälle hätte erheben müssen und den Zeugen Dr. Niederecker nicht genügend danach gefragt habe, inwieweit akut selbst- oder fremdgefährdende Patienten am Verlassen der Station zu hindern seien, um diese auf die geschlossene Station zu verlegen, sind unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit die Richtigkeit der Behauptungen der Klägerin unterstellt.
4. Der Zweck der Pflegezulage zwingt ebenfalls nicht dazu, sie für eine Tätigkeit auf einer Station wie der hier vorliegenden zu gewähren. Die auszugleichende Erschwernis besteht darin, dass die Tätigkeit gerade in einer geschlossenen oder halbgeschlossenen Abteilung zu leisten ist. Dies setzt voraus, dass dort zumindest teilweise Patienten untergebracht sind, von denen eine besondere Gefahr für sie selbst, für andere Patienten und für das Pflegepersonal ausgeht, sonst wären sie nicht in einem Status, der es erlaubt, sie am Verlassen der Station zu hindern. Die Tarifvertragsparteien haben damit auf bestimmte Gefahren abgestellt, die sie als Erschwernis ansehen und deshalb mit einer Zulage ausgleichen wollen. Der Zulagenanspruch kann auf ähnliche Fälle, in denen möglicherweise wegen des Typus der Krankheit ebenfalls Erschwernisse entstehen, über die in der Protokollnotiz ausdrücklich erwähnten Krankheiten hinaus nicht erweitert werden. Im Übrigen zeigt die von der Klägerin dargelegte geringe Zahl der Fälle, in denen ihrem Vortrag zufolge tatsächlich Zwangsmaßnahmen wegen einer besonderen Gefährdung notwendig gewesen sein sollen, dass diese keinesfalls typisch sind. Wenn die Klägerin meint, es könne nicht zu ihren Lasten gehen, wenn sie durch Vorsicht und voraussehende Maßnahmen Übergriffe verhindern könne, so verkennt sie den Zweck der Tarifnorm. Diese will gerade solche Erschwernisse ausgleichen, die mit typischerweise notwendigen Zwangsmaßnahmen zusammenhängen. Wenn die Klägerin mit Patienten zu tun hat, bei denen es ihr gelingt, ohne Zwangsmaßnahmen auszukommen, und wenn dies auch so vorgesehen ist, hat sie solche Erschwernisse nicht.
- Die Klägerin hat die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Unterschriften
Fischermeier, Marquardt, Brühler, Schaeff, Großmann
Fundstellen
ZTR 2004, 366 |
AP, 0 |
ZMV 2004, 258 |
PflR 2004, 214 |
Tarif aktuell 2004, 8 |