Leitsatz (redaktionell)
Angestellte, die auf den geringer entlohnten Arbeitsplatz eines Arbeiters versetzt werden, können nach § 11.1.1 des seit 1. April 1988 geltenden Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrages I für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden Verdienstsicherung verlangen. Der in dieser Vorschrift verwandte Begriff der "Abgruppierung" umfaßt jede Einstufung in eine niedrigere Vergütungsgruppe. Entscheidend ist das Absinken des Arbeitsentgelts. Eine Abgruppierung entfällt nicht deshalb, weil der Arbeitnehmer außerdem seinen Status als Angestellter verliert.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger aufgrund der tarifvertraglichen Verdienstsicherung eine höhere Arbeitsvergütung zusteht.
Der Kläger ist seit 1. Januar 1979 bei der Beklagten beschäftigt. Bis zum 30. Juni 1994 war er als Werkmeister in der Abteilung Messerabzieherei tätig. Er war in Gehaltsgruppe M 4 eingruppiert und erhielt eine monatliche Vergütung von zuletzt 5.726,00 DM brutto. Mit Schreiben vom 21. Juni 1994 teilte ihm die Beklagte mit, daß die Abteilung Messerabzieherei mit Wirkung zum 30. Juni 1994 aufgelöst werde. Gleichzeitig bot ihm die Beklagte eine Weiterbeschäftigung als Arbeiter an.
Sein Lohn sollte sich wie folgt zusammensetzen:
Lohngruppe 10 DM 3.404,00
Tarifzulage DM 550,00
Frw. Zulage DM 46,00
Gesamtbrutto DM 4.000,00.
Der Kläger erklärte sich mit dieser Vertragsänderung einverstanden. Mit Schreiben vom 14. August 1994 focht er seine Erklärung an, weil er "über die geltende tarifliche Absicherungsregelung getäuscht" worden sei.
Auf das Arbeitsverhältnis ist kraft beiderseitiger Tarifbindung der seit 1. April 1988 gültige Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrag I für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (LGRTV I) anzuwenden. Er enthält folgende Regelungen:
"§ 10
Sicherung der Eingruppierung
...
10.3.2 Eine Abgruppierung ist erst zulässig, wenn eine Umsetzung nach § 10.2.1 bzw. eine Umschulung nach § 10.2.2 nicht möglich ist.
10.3.3 Arbeiter und Arbeiterinnen können höchstens um zwei Lohngruppen, Angestellte höchstens um eine Gehaltsgruppe abgruppiert werden, in der niedrigeren Gehaltsgruppe sind sie in das gleiche Beschäftigungsjahr einzustufen wie in der höheren Gehaltsgruppe. In der Lohngruppe 12 des analytischen Systems entsprechen 3 Arbeitswerte einer Lohngruppe im Sinne von Satz 1.
§ 11
Verdienstsicherung bei Abgruppierung
11.1.1 Bei einer Abgruppierung erhalten die Beschäftigten, sofern sie mindestens 6 Monate in der bisherigen oder einer höheren Lohn- oder Gehaltsgruppe im Unternehmen eingruppiert waren, nach Ablauf der Frist für eine Änderungskündigung und/oder nach Ablauf einer Ankündigungsfrist für die Abgruppierung einen Verdienstausgleich für die Dauer von 18 Monaten, abzüglich des Zeitraumes der Kündigungsfrist und/oder der Ankündigungsfrist.
11.1.2.1 Der Verdienstausfall wird wie folgt errechnet:
...
d) Beim Wechsel des Entlohnungsgrundsatzes
Wechselt im Zusammenhang mit der Abgruppierung auch der Entlohnungsgrundsatz, so wird der Verdienstausgleich gemäß den vorstehenden Bestimmungen so ermittelt, wie wenn kein Wechsel des Entlohnungsgrundsatzes stattfinden würde.
e) Beim Gehalt
Differenz zwischen
- dem Tarifgehalt der bisherigen Tarifgruppe zuzüglich der tariflichen Leistungszulage
und
- dem Tarifgehalt der neuen Tarifgruppe zuzüglich des Betrages, der sich aus dem Prozentsatz der bisherigen tariflichen Leistungszulage, bezogen auf das neue Tarifgehalt, errechnet.
11.1.2.2 Rechenbeispiele zu § 11.1.2.1 ergeben sich aus der Anlage 7 zu diesem Tarifvertrag.
..."
Der Kläger hat für die Monate Oktober bis einschließlich Dezember 1994 einen Verdienstausgleich in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 5.178,84 DM verlangt. Er hat die Auffassung vertreten, nach § 11 LGRTV I habe er Anspruch auf Verdienstsicherung. Eine Abgruppierung liege auch dann vor, wenn einem Angestellten eine geringer entlohnte Arbeitertätigkeit übertragen werde.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn für die Monate Oktober bis einschließlich Dezember 1994 5.178,84 DM nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag ab 10. Januar 1995 zu bezahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe keinen Anspruch auf Verdienstsicherung. Aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der §§ 10 und 11 LGRTV I ergebe sich, daß keine Abgruppierung i.S.d. Vorschriften vorliege, wenn ein Angestellter als Arbeiter weiterbeschäftigt werde. Für diesen Fall hätten die Tarifvertragsparteien bewußt keine Regelung getroffen, sondern sie den Arbeitsvertragsparteien oder Betriebspartnern überlassen.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Dem Kläger steht nach § 11.1.1 des Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrages I für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (LGRTV I) der geltend gemachte Anspruch auf Verdienstausgleich zu.
I. Die tariflichen Voraussetzungen der Verdienstsicherung sind erfüllt. Der Kläger war länger als sechs Monate in der Gehaltsgruppe M 4 eingruppiert. Seit 1. Juli 1994 wird er nicht mehr als Meister, sondern als Facharbeiter beschäftigt. Er ist seither in Lohngruppe 10 eingruppiert, die eine geringere Vergütung vorsieht. Zu Recht haben die Vorinstanzen darin eine Abgruppierung gesehen.
1. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die tarifliche Regelung weder korrigiert noch ergänzt und damit nicht in die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien eingegriffen. Die Auslegung des § 11.1.1 LGRTV I ergibt, daß die Verdienstsicherung auch bei der Versetzung eines Angestellten auf den Arbeitsplatz eines Arbeiters eingreift. Der Begriff "Abgruppierung" umfaßt diesen Fall. Eine Regelungslücke liegt nicht vor.
2. Die von der Beklagten vertretene einschränkende Auslegung läßt sich nicht auf den Wortlaut und die Systematik des Tarifvertrags stützen.
a) Die Verdienstsicherung (§ 11 LGRTV I) ergänzt die Sicherung der Eingruppierung (§ 10 LGRTV I). Der Verdienstausgleich knüpft dementsprechend an eine Abgruppierung i.S.d. §§ 10.3.2 und 10.3.3 LGRTV I an. Da weder diese Vorschriften noch § 10.1.1 LGRTV I den Begriff der Abgruppierung näher bestimmen, kommt es auf den allgemeinen Sprachgebrauch an, soweit sich aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang nichts anderes ergibt. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter Abgruppierung die Einstufung in eine niedrigere Vergütungsgruppe zu verstehen (vgl. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, 1980, S. 56; Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Aufl., S. 58). Entscheidend ist die geringere Vergütung. Eine Abgruppierung entfällt nicht deshalb, weil der Arbeitnehmer außerdem den Status als Angestellter verliert. Die Gesetze, z.B. § 99 BetrVG, verwenden die Ausdrücke "Eingruppierung" und "Umgruppierung". Im Betriebsverfassungsrecht bedeutet Umgruppierung jede Änderung der Einreihung in die tariflichen Lohnoder Gehaltsgruppen (h.M.; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG, 18. Aufl., § 99 Rz 16; Kraft, GK-BetrVG, 5. Aufl., § 99 Rz 46). Auf den Anlaß kommt es nicht an (BAG Beschluß vom 20. März 1990 - 1 ABR 20/89 - BAGE 64, 254, 258 = AP Nr. 79 zu § 99 BetrVG 1972, zu B II 2 b der Gründe). Vor allem die mit einer Versetzung verbundene Zuordnung zu einer anderen Vergütungsgruppe reicht aus. Auch der Wechsel zwischen einer Arbeiter- und Angestelltentätigkeit führt zu einer Umgruppierung (vgl. Dietz/Richardi, BetrVG, 7. Aufl., § 99 Rz 79; Hess/Schochauer/Glaubitz, BetrVG, 5. Aufl., § 99 Rz 38; Kittner in Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, 5. Aufl., § 99 Rz 83; Stege/Weinspach, BetrVG, 7. Aufl., §§ 99 bis 101 Rz 128 f). Die Abgruppierung ist eine besondere Form der Umgruppierung (BAG Urteil vom 22. Januar 1986 - 4 AZR 671/84 - AP Nr. 41 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie) und deshalb ebenso weit auszulegen.
b) Den §§ 11.1.2.1 und 11.1.2.2 LGRTV I läßt sich nicht entnehmen, daß die Tarifvertragsparteien von einem engeren Abgruppierungsbegriff ausgingen und bei einem Wechsel von einer Angestellten- zu einer Arbeiterbeschäftigung keinerlei tarifliche Verdienstsicherung gewähren wollten.
aa) §§ 11.1.2.1 und 11.1.2.2 LGRTV I regeln nicht die Anspruchsvoraussetzungen, sondern enthalten lediglich Berechnungsvorschriften. Regelungen zur Anspruchshöhe sind zwar als Teil des Tarifsystems bei der Auslegung der Anspruchsvoraussetzungen mitzuberücksichtigen, müssen aber im Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen gesehen werden.
bb) Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, daß § 11.1.2.1 LGRTV I keine Differenzberechnung zwischen einem früheren Tarifgehalt und und einem späteren Tariflohn vorsieht. Wie das Landesarbeitsgericht richtig erkannt hat, ist dies mit der Regelung des § 10.3.3 LGRTV I zu erklären. Danach können Angestellte höchstens um eine Gehaltsgruppe abgruppiert werden. Dabei handelt es sich um einen Mindestverdienst, der nicht unterschritten werden darf. Bei einem Wechsel von einer Angestellten- zu einer Arbeitertätigkeit kommt i.d.R. diese Mindestgrenze zum Zuge, so daß sich eine Differenzberechnung zwischen dem bisherigen Tarifgehalt und dem nach den neuen Eingruppierungsmerkmalen zu zahlenden Tariflohn erübrigt.
cc) Nach § 11.1.2.2 LGRTV I enthält die Anlage 7 zu diesem Tarifvertrag Rechenbeispiele. Sie befassen sich nicht mit dem Wechsel von einer Angestellten- zu einer Arbeitertätigkeit. Dies läßt keine Rückschlüsse auf den Begriff der Abgruppierung zu. Bereits mit dem Ausdruck "Beispiele" haben die Tarifvertragsparteien klar zum Ausdruck gebracht, daß es sich um keine abschließende Aufzählung aller denkbaren Fallvarianten handelt. Die Versetzung eines Angestellten auf den Arbeitsplatz eines Arbeiters war zumindest bei Abschluß des Tarifvertrages im Jahre 1988 ein Ausnahmefall. Außerdem bestehen wegen der in § 10.3.3 LGRTV I vorgeschriebenen Begrenzung der Abgruppierung keine Berechnungsschwierigkeiten.
3. Die weite Auslegung des Abgruppierungsbegriffs entspricht dem im Tarifvertrag zum Ausdruck gebrachten Sinn und Zweck der Verdienstsicherung. Sie steht im engen Zusammenhang mit der Sicherung der Eingruppierung. Führen betriebsbedingte Maßnahmen zum Wegfall von Arbeitsplätzen, so ist der Arbeitnehmer möglichst auf einem gleichwertigen und zumutbaren Arbeitsplatz, ggf. auch nach einer Umschulung, weiterzubeschäftigen (§§ 10.2.1 und 10.2.2 LGRTV I). Falls eine derartige Umsetzung oder Umschulung nicht möglich ist, kann der Arbeitnehmer nach § 10.3.2 LGRTV I auf einen geringerwertigen Arbeitsplatz versetzt werden. Die Eingruppierungssicherung nach § 10.3.3 LGRTV I begrenzt die Einkommensverluste, die durch eine tarifgerechte Entlohnung der neuen Tätigkeit entstünden. Zutreffend hat der Kläger darauf hingewiesen, daß die Tarifvertragsparteien einen finanziellen Abstieg "ins Bodenlose" verhindern wollten. § 11 LGRTV I ergänzt die Eingruppierungssicherung des § 10 und gibt dem Arbeitnehmer Gelegenheit, sich auf die neue, ungünstigere Einstufung einzustellen. Die Verdiensteinbußen werden für die Dauer von 18 Monaten ausgeglichen. Für das Schutzbedürfnis der betroffenen Arbeitnehmer und das Regelungsziel der §§ 10 und 11 LGRTV I spielt es keine Rolle, ob sich außerdem noch der bisherige Status als Angestellter oder Arbeiter geändert hat.
4. Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften über die Verdienstsicherung spricht nicht für eine enge, sondern eher für eine weite Auslegung des Begriffs Abgruppierung. Der LGRTV I beruht auf dem Tarifvertrag zur Sicherung der Eingruppierung und zur Verdienstsicherung bei Abgruppierung vom 3. April 1978. Im Jahre 1978 hatte die IG Metall, worauf auch die Beklagte im Schriftsatz vom 27. September 1995 (Seite 3) hingewiesen hat, ein totales Abgruppierungsverbot gefordert, d.h. betriebsbedingte Maßnahmen sollten zu keinerlei Verdiensteinbußen der Arbeitnehmer führen. Die Kompromißlösung bestand in einer Begrenzung der Abgruppierung (§ 10.3.3 LGRTV I) und einer ergänzenden, zeitlich beschränkten Verdienstsicherung (§ 11 LGRTV I). Daraus läßt sich nicht ableiten, daß Angestellte, die nur noch als Arbeiter weiterbeschäftigt werden können, nach dem Willen der Tarifvertragsparteien keinerlei tariflichen Einkommensschutz genießen sollen.
5. Die Beklagte hat gemeint, die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung des Tarifvertrages führe zu betriebsbedingten Kündigungen. Dabei übersieht die Beklagte, daß die Versetzung eines Arbeitnehmers auf einen geringerwertigen Arbeitsplatz nach § 10 LGRTV I nicht nur zulässig, sondern sogar geboten sein kann, wenn kein gleichwertiger zur Verfügung steht. Dies gilt auch bei einem Statuswechsel. Davon zu unterscheiden sind die in §§ 10.3.3 und 11 LGRTV I geregelten Fragen, inwieweit eine Abgruppierung (niedrigere Einstufung) zulässig ist und ein vorübergehender Verdienstausgleich zu gewähren ist. Die Verpflichtung zur Verdienstsicherung ist kein Grund für eine betriebsbedingte Kündigung.
II. Der Zeitraum, für den der Kläger Verdienstsicherung verlangt (Oktober bis einschließlich Dezember 1994), liegt innerhalb der 18monatigen Frist des § 11.1.1 LGRTV I. Über die Berechnung des Verdienstausgleichs besteht kein Streit.
III. Die Vorschriften zur Verdienstsicherung bei Abgruppierung gelten für die tarifgebundenen Parteien unmittelbar und zwingend (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Abweichende Abmachungen gestattet der LGRTV I nicht. Nach § 4 Abs. 3 TVG konnten die Parteien in der zwischen ihnen getroffenen Vereinbarung keine für den Kläger ungünstigere Regelung treffen. Sie ist auch ohne Anfechtung unwirksam.
Fundstellen
Haufe-Index 438637 |
BB 1998, 797 |
DB 1998, 2280 |
JR 1998, 395 |
NZA 1998, 659 |
RdA 1998, 250 |
ArbuR 1998, 252 |